Vom Umgang mit dem Kranksein

Von Doris Burtscher · · 2010/05

Um eine Patientin, einen Patienten medizinisch behandeln zu können, muss man zuerst wissen, woher seine Krankheit kommt. Erfahrungen einer Ärztin aus der Tuberkulose-Behandlung in Swasiland.

"Es war morgens um vier Uhr, als ich beim Aufwachen meinen Oberkörper knacken hörte, als würden Knochen brechen. Ein Freund brachte mich in eine Klinik, dort bekam ich Schmerzmittel. Krankheit fand der Doktor aber keine.“ Der junge Feldarbeiter aus dem südafrikanischen Swasiland hat Tuberkulose, bekam aber vorerst keine Diagnose.

Tuberkulose und HIV/Aids haben dazu geführt, dass die Lebenserwartung in Swasiland innerhalb von anderthalb Jahrzehnten von 57 auf 32 Jahre gesunken ist. Jeder vierte Erwachsene ist HIV-positiv, davon leiden drei Viertel zusätzlich an Tuberkulose. Doch es ist nicht nur Armut und ein mangelhaftes Gesundheitswesen, das PatientInnen von der Behandlung abhält. Es gibt eine Vielzahl kultureller und gesellschaftlicher Faktoren, die beeinflussen, wie Menschen mit Krankheit und Behandlung umgehen. So ist es für Hilfsprogramme wie zum Beispiel von Ärzte ohne Grenzen notwendig, dieses so genannte Health-seeking behaviour zu ergründen, um kulturell angemessen auf die medizinischen Bedürfnisse der PatientInnen reagieren zu können.

Health-seeking behaviour beinhaltet soziale und kulturelle Aspekte: Wie nehmen PatientInnen und ihre Umgebung die Krankheit wahr? Wurde die Krankheit verursacht durch einen Tabubruch, sucht die betroffene Person möglicherweise aus Scham keine Hilfe? Ist sie selbst schuld oder wurde sie verhext? Bei Tuberkulose gilt in Swasiland die Vorstellung, dass sie durch vergiftetes Essen kommt und dann durch den Wind verbreitet wird.

Den Grund für die Krankheit zu wissen, beantwortet die Fragen, warum die Person erkrankt ist und wie sie behandelt werden soll. Die Entscheidung über die Behandlung trifft der Patient zumeist auch nicht allein. Es werden Referenzpersonen wie Dorfälteste, das Familienoberhaupt, der Vater, der Ehemann oder andere Verwandte zu Rate gezogen. In Swasiland entscheidet zumeist das Familienoberhaupt.

In vielen Ländern gehen PatientInnen zu traditionellen HeilerInnen. Sie glauben an diese Form der Behandlung; zusätzlich sind diese HeilerInnen verfügbar und leistbar. In Swasiland werden sie Sangoma genannt. Sie sind zumeist die erste Anlaufstelle für Kranke, sie stellen die erste Diagnose, und sie haben die kulturelle Deutungshoheit über die Erkrankung.

Diesen Weg ging auch der junge Feldarbeiter: „Als ich nicht mehr arbeiten oder auch nur gehen konnte, ging ich zum traditionellen Heiler. Er gab mir einen Heiltrank und ich bekam eine Behandlung mit dem Propheten, der zum Wasser betet. Danach ging es mir besser.“ Der traditionelle Heiler hat eine zusätzliche wichtige Rolle für den Patienten. Emotionale Zuwendung, die in der westlichen Kultur in einer Behandlungssituation erwartet wird, erhalten die Menschen in Swasiland vom Heiler, nicht vom staatlichen Gesundheitssystem.

Neben kulturellen Faktoren gibt es einfache praktische Überlegungen. Etwa: Gibt es eine medizinische Versorgung in der Umgebung eines Patienten? Traditionelle HeilerInnen arbeiten meist unabhängig und in ihrem Dorf. Westliche Medizin wird jedoch vom Staat durchgeführt. Die meisten Institutionen finden sich in den Städten, am Land wird das Personal schlechter bezahlt und es mangelt an grundlegenden medizinischen Geräten. Swasiland ist aber eine ländlich entwickelte Gesellschaft. Die Entfernungen zum nächsten Gesundheitsposten schließen viele Menschen von moderner Medizin aus. Traditionelle HeilerInnen sind hingegen verfügbar.

Ein weiteres Hindernis sind die Behandlungskosten. Beim traditionellen Heiler kann in Naturalien bezahlt werden. Außerdem erst nach Behandlungserfolg. Zusätzlich bestimmt die Wahrnehmung der Krankheit den Behandlungspreis und muss nicht den tatsächlichen Behandlungskosten entsprechen. So ist es durchaus nachvollziehbar, dass PatientInnen in Swasiland sich schwer tun mit moderner Medizin. Denn im staatlichen Gesundheitswesen wird für die Behandlung und nicht für Heilung bezahlt.

Für Gesellschaftssysteme wie jene in Swasiland ist persönliche Erfahrung sehr wichtig. PatientInnen suchen schulmedizinische Behandlung erst, wenn der traditionelle Heiler oder die Heilerin keinen Erfolg erwirkt hat oder ein Familienmitglied bereits erfolgreich behandelt wurde. Zudem existieren die verschiedenen Systeme nebeneinander, PatientInnen nützen gelegentlich das Krankenhaus und den traditionellen Heiler gleichzeitig.

Traditionelle und moderne Medizin ergänzen sich. Wie wichtig die Zusammenarbeit beider ist, beschreibt die Schweizer Expertin für Entwicklungszusammenarbeit, Verena Kücholl: „Während moderne Mediziner ausschließlich versuchen, Krankheiten bei kranken Menschen zu heilen, erzeugen traditionelle Heiler eine Atmosphäre des mitfühlenden Verständnisses und versuchen, das Gleichgewicht zwischen Patient und Kultur wieder herzustellen.“

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen versuchen, diesen Mittelweg zwischen Tradition und Moderne zu finden. In Swasiland wird derzeit eine Strategie dazu entwickelt. Mobile Teams treffen HeilerInnen, um gemeinsam an einem Referenzsystem zu arbeiten. HeilerInnen werden in die Diagnostik miteinbezogen. Damit soll gewährleistet werden, dass PatientInnen früher überwiesen werden. Denn gerade bei Tuberkulose ist ein frühzeitiger Behandlungsbeginn lebenswichtig.

Wenn so ein Ansatz funktioniert, ist allen gedient: Die PatientInnen erhalten rechtzeitig medizinische Versorgung, die traditionellen HeilerInnen verlieren weder ihr Ansehen noch ihre Kundschaft. Der Eingriff in die Glaubenssphäre durch die moderne Medizin beschränkt sich auf ein Minimum. Doch dieser Ansatz ist nicht selbstverständlich und eine Bringschuld von humanitären Hilfsorganisationen. „Es gibt wohl ein immanentes Verständnis zwischen Arzt und Patient in Gesundheitssystemen derselben Kultur“, erklärt der Wiener Ethnomediziner Armin Prinz. „Dieses Verständnis fehlt jedoch häufig, wenn es sich um Patienten aus anderen Kulturen handelt.“

Die Summe aller erwähnten Faktoren war wohl der Grund, warum es drei Jahre dauerte, bis der junge Feldarbeiter schließlich vor einem Röntgengerät des Krankenhauses stand. Diagnostiziert wurde Tuberkulose.

Doris Burtscher ist Ethnomedizinerin und Lektorin am Institut für Geschichte der Medizin an der medizinischen Universität Wien. Seit 2001 arbeitet sie als Beraterin für Ärzte ohne Grenzen und hat für diese und andere Organisationen Feldforschung in Swasiland, Mauretanien, Sierra Leone, Liberia, Niger, Simbabwe, Kenia, in Senegal und Libanon sowie in Albanien durchgeführt.

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