„Wer sagt, dass Nigeria nicht geteilt werden darf?“

Von Redaktion · · 2004/07

Der sozialistische Gewerkschafter Segun Sango wirbt auf einer Tour durch Europa für die „Campaign for Democratic and Workers‘ Rights in Nigeria“ (CDWRN). SÜDWIND-Redakteurin Martina Kopf und CDWRN-Mitarbeiterin Sonja Grusch sprachen mit ihm über seine Vision eines freien Nigeria.den darf?“

Südwind: Nigeria trägt schwer an seinem kolonialen Vermächtnis, dem Erbe des Bürgerkrieges und den Auswirkungen von mehr als 20 Jahren wechselnder Diktaturen. Auch unter der gegenwärtigen Zivilregierung halten soziale Konflikte an, die Wirtschaftskrise der 1990er Jahre hat große Teile der Bevölkerung verarmen lassen und soziale Gegensätze verschärft. Ist Nigeria überhaupt regierbar?
Sango:
Meiner Meinung nach spiegelt die politische Entwicklung Nigerias die Willkür und den zutiefst undemokratischen Charakter seiner Entstehungsgeschichte wider. Bis 1914 hat gar kein Land dieses Namens existiert. Am 1.1.1914 trat das im Jahr zuvor im Unterhaus in London verabschiedete britische Reichsgesetz in Kraft, wonach Süd- und Nordnigeria zusammengeführt wurden. Die britischen Kolonialherren haben keinen einzigen Vertreter der verschiedenen Nationalitäten oder Religionsgruppen informiert, geschweige denn danach gefragt, ob diese in einem Land zusammenleben wollen und wie die Beziehungen zueinander zu gestalten wären. Die Völker des Middle Belt zum Beispiel wurden quasi über Nacht der politischen Kontrolle durch die Hausa-Fulani unterstellt, die den oberen Norden des Landes dominieren. Obwohl der Middle Belt nicht islamisch ist, wird er nun von einer Elite regiert, die ihm einen islamistischen Gesetzes- und Verhaltenskodex aufzwingt. Soziale Konflikte sind damit vorprogrammiert, nicht nur zwischen den Nationalitäten und Religionen, sondern auch innerhalb der Gemeinschaft, wenn wir an die gesetzlich verankerte Ungleichbehandlung von Frauen gegenüber Männern denken.

Islam und Christentum existieren nicht nur im Norden, sondern auch im Westen Nigerias seit über einem Jahrhundert nebeneinander. Warum hört man dort nichts von religiösen Konflikten?
Im Westen verläuft die muslimisch-christliche Trennlinie großteils innerhalb derselben Nationalität, in vielen Familien sind, wie in meiner, beide Religionen vertreten. In Nordnigeria hingegen gehören Christen und Muslime unterschiedlichen Nationalitäten an. Doch sind diese Konflikte nicht nur kultureller oder religiöser, sondern vor allem wirtschaftlicher und sozialer Natur. Das wenige, was man in Nigeria als kapitalistische Entwicklung bezeichnen kann, findet sich überwiegend im Westen, in Lagos vor allem, und im Süden. Arme Menschen lassen sich leichter überzeugen, sie könnten sich einen Freibrief für den Himmel erwerben, indem sie so genannte Ungläubige töten.
Was Nigerias Unregierbarkeit angeht, haben wir vor allem zwei Forderungen: Es muss eine Übereinkunft darüber geschaffen werden, dass politische Selbstbestimmung ein demokratisches Grundrecht ist, bis hin zum Recht auf Sezession. Darüber hinaus verlangen wir ökonomische Selbstbestimmung.

Demokratie beinhaltet ihrer Meinung nach das Recht, den Staat in seiner gegenwärtigen Form zu hinterfragen?
Auf jeden Fall. Laut Verfassung haben wir ein Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, die Freiheit, politischen Parteien eigener Wahl anzugehören – auch wenn die Realität anders aussieht. Doch die Verfassung sagt auch, Nigeria sei unteilbar. Das können wir nicht akzeptieren. Wenn die heutige politische Elite ein vereintes Nigeria unterstützt, so nicht weil sie daran glaubt, sondern weil es für sie eine nützliche Waffe ist, ihre eigenen Interessen zu schützen. Von einer sozialistischen Perspektive aus möchten wir natürlich ein vereintes Nigeria, auch ein vereintes Afrika, wenn es soweit ist. Aber man muss es demokratisch entscheiden, man kann Einheit nicht erzwingen – das sollten wir aus der Erfahrung der ehemaligen Sowjetunion gelernt haben.

Löst die Selbstbestimmung alle Probleme?
Politisch unterstützen wir das Recht auf Selbstbestimmung. Doch die arbeitenden Massen sollen auch um ökonomische Selbstbestimmung kämpfen. Wer besitzt und kontrolliert die Ökonomie und die Ressourcen in der Gesellschaft? Das Nigerdelta als Öl produzierende Region liefert seit den 1970er Jahren den Großteil der Staatseinnahmen, aber die Bevölkerung hat nichts davon: Umweltverschmutzung, Verwüstung des Landes, schlechte Straßen, kein sauberes Wasser, zu wenig Schulen. Aus dieser Region werden zunehmend Stimmen laut, die eine Loslösung von Nigeria fordern. Wir Sozialisten sagen, wir unterstützen euer Recht auf Selbstbestimmung, aber wir wollen, dass Selbstbestimmung auch die Wirtschaft umfasst. Natürliche Ressourcen und öffentlicher Besitz müssen auch demokratisch verwaltet werden, was bisher nicht geschehen ist. Sonst riskieren wir die gleiche Korruption und das gleiche Missmanagement, die zum Kollaps der früheren Sowjetunion und zum Niedergang öffentlicher Unternehmen in Nigeria geführt haben.

Kann Sozialismus in Nigeria funktionieren?
Wir sind davon überzeugt, dass eine sozialistische Transformation Nigerias und anderer, vergleichbarer Länder die einzige Option ist. Nigeria ist außergewöhnlich reich und hat mehr Ressourcen als genug für alle Einwohner und Einwohnerinnen. Doch das gegenwärtige kapitalistische System gibt einzig dem Profit einiger weniger kapitalistischer Unternehmen den Vorrang. Einige Individuen und Einzelunternehmen sind so reich, dass sie es nicht einmal für notwendig erachten, weiter zu expandieren. Laut London Financial Times haben allein drei führende nigerianische Politiker – besser gesagt Betrüger – 250 Milliarden Dollar auf Schweizer Konten gebracht. Würde dieses Geld wieder zurück in die nigerianische Wirtschaft fließen, könnte es Industrie, Kultur und den allgemeinen Lebensstandard entscheidend verbessern. Lagos hat fast neun Millonen Einwohner und es gibt nicht einmal öffentliche Busunternehmen.

Wie definieren Sie „Arbeiterklasse“? Entspricht der Begriff den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen, wo doch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in keinem formellen Beschäftigungsverhältnis steht?
Ich unterscheide zwischen „Arbeiterklasse“ und „Menschen der Arbeiterklasse“. Die Arbeiterklasse im klassischen marxistischen Sinn stellt natürlich eine kleine Minderheit dar, hat Nigeria doch Millionen von selbständigen Händlern, Handwerkern, Mechanikern, Kleinbauern – Männer und Frauen. In Lagos steht vor jedem Haus ein Laden. Dennoch realisieren diese Leute instinktiv, dass die Arbeiterklasse eine Schlüsselposition im Kampf gegen die Regierung einnimmt, was sich beim Streik 2003 gezeigt hat. Die Regierung bezieht 80 Prozent ihres Einkommens aus dem Öl. Als sie Benzin und andere Ölprodukte um 54 Prozent verteuert hat, haben die Gewerkschaften einen Generalstreik ausgerufen, der acht Tage lang dauerte. Wenn Kleinhändlerinnen den Markt schließen, wird das von der Regierung viel weniger wahrgenommen als wenn die Angestellten der Banken oder Versicherungsgesellschaften streiken. Der Streik wurde von der arbeitenden Bevölkerung breit unterstützt. Können Sie mir irgendein anderes Land nennen, in dem es innerhalb der letzten drei Jahre drei Generalstreiks gegeben hat? Der Kapitalismus hat sich als totaler Misserfolg für Nigeria herausgestellt.

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