Zweischneidiges Schwert

Von Robert Poth · · 2009/10

Beton hat alle Chancen, auch der Baustoff des 21. Jahrhunderts zu werden. Leider braucht man dafür Zement, eine der schon heute bedeutendsten Quellen von Treibhausgasen. Ein Ausweg aus dem Dilemma muss erst gefunden werden.

Zement gehört nicht zu den Dingen, die zu Begeisterungsstürmen hinreißen: ein unscheinbares, graues Pulver, das man mit Wasser, Sand, Kies oder anderen mineralischen Stoffen vermischt, um daraus Mörtel oder Beton zu machen – und mit dem man möglichst nicht direkt in Kontakt kommt, weil es ätzend wirkt. Auch fehlt ihm jeder Reiz des Neuen: Zement – genauer "Portlandzement" – wurde schon 1824 patentiert.

Im Vorjahr wurden jedoch weltweit mehr als 2,8 Mrd. Tonnen davon verbraucht, in erster Linie zur Herstellung von Beton, dem weltweit wichtigsten Baustoff: Fast drei Tonnen pro Mensch und Jahr werden derzeit erzeugt. Zement ist also wichtig. Wie wichtig, zeigt ein Gedankenexperiment: Was würde geschehen, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre? Ein Großteil aller von Menschen errichteten Bauten würde zerbröseln, riesige Gebiete würden von Sintfluten aus Stauseen überschwemmt, es wäre mit radioaktiver Verseuchung durch Kernkraftwerksunfälle zu rechnen, die Verkehrsinfrastruktur, die Energie- und Wasserversorgung, die Abwassersysteme würden zusammenbrechen. Und wer die ersten Momente dieser Katastrophe überlebt, würde wahrscheinlich mangels Versorgung bald darauf verdursten und verhungern.

Zement ist das, was unsere materielle Welt buchstäblich zusammenhält, das Bindemittel, das als unverzichtbarer Bestandteil von Beton, dem "Baustoff des 20. Jahrhunderts" einen Großteil dessen ermöglicht hat, was die meisten von uns als "Fortschritt" betrachten, Industrialisierung und die urbane Zivilisation. Und Beton dürfte aus heutiger Sicht auch der Baustoff des 21. Jahrhunderts werden – und damit der Baustoff des Südens.

Das ist er allerdings schon. Das Übergewicht der Entwicklungs- und Schwellenländer beim Zementverbrauch – ein Anteil von ca. 85 Prozent – ist enorm. Man kann es mit der weit größeren Bevölkerung erklären, die zudem auch rascher wächst als im Norden. Hauptverantwortlich sind jedoch die stärkere wirtschaftliche Dynamik, die Industrialisierung und die rasche Urbanisierung. Im Norden nimmt die städtische Bevölkerung derzeit jeden Monat um 500.000 Menschen zu, im Süden dagegen um fünf Millionen, schätzt das Wohn- und Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen (UN-Habitat).


 


Gerade in China wurde die Urbanisierung in den letzten Jahrzehnten forciert. Der Anteil der städtischen Bevölkerung nahm zwischen 1987 und 2007 von 25 auf 42 Prozent zu – ein Grund für die Dominanz Chinas beim Zementverbrauch: 2008 wurde fast jede zweite Tonne in China erzeugt und verwendet. Der Weltverbrauch von Zement hat sich seit 1990 mehr als verdoppelt, wobei die Zunahme praktisch zur Gänze auf Entwicklungsländer zurückzuführen ist. In China nahm der Verbrauch seit 1998 jährlich um 10,5% zu, im Rest der Welt um 4%. In Zukunft werden es Indien und die übrigen Entwicklungsländer sein, die die Nachfrage ankurbeln (siehe Grafik): Während in China pro Kopf derzeit mehr als 1.000 kg Zement verbraucht werden, waren es in Indien im Vorjahr weniger als 160 kg. Ähnliches gilt für Afrika, wo die städtische Bevölkerung besonders rasch zunehmen wird, verstärkt durch die weltweit höchsten Geburtenraten.


 


Es ist vor allem die Infrastruktur, die am meisten Beton – und damit Zement – verschlingt, ob in Form von Autobahnen, Staudämmen, Hafenanlagen, Flughäfen, Abwassersystemen, Brücken oder Tunnels. Diese Investitionen sind Voraussetzung für das Wachstum der Wirtschaft: Ohne Verkehrswege kein Transport, ohne Häfen kein internationaler Handel, ohne Kraftwerke und Stromnetze keine Industrieproduktion. Und wir stehen erst am Anfang. Zwischen 2008 und 2017 könnten in den Schwellen- und Entwicklungsländern rund 22.000 Mrd. Dollar in Infrastruktur investiert werden, schätzte die Investmentbank Morgan Stanley im Vorjahr (siehe SW 12/2008).

Während die Wirtschaft die Infrastruktur braucht, um wachsen zu können, ist das bei vielen Städten im Süden anders: Sie wuchern auch ohne die nötige Infrastruktur. Heute leben laut UN-Habitat eine Milliarde Menschen in Slums, 2020 könnten es 1,3 Milliarden sein. Unter "Slum" werden Wohnverhältnisse zusammengefasst, die zumindest einen von fünf Mängeln aufweisen: schlechte Bausubstanz, unzureichender Wohnraum, fehlender Zugang zu Trinkwasser und zu sanitären Einrichtungen, unsichere Wohn- oder Aufenthaltsrechte. Der Anteil der Menschen, die in solchen Verhältnissen leben, ist in Afrika südlich der Sahara mit 62% am höchsten, gefolgt von 43% in Südasien, 37% in Ostasien, 24% in Westasien und 28% in Südostasien.

Weltweit besteht daher ein enormer Nachholbedarf im Wohnbau, vor allem wenn Kriterien menschenwürdiger Wohnverhältnisse angelegt werden – auch im bereits stark urbanisierten Lateinamerika. In Mexiko wird das Defizit auf vier Millionen Einheiten geschätzt, in Brasilien auf – konservativ – sieben Millionen. Dagegen verblasst selbst das anspruchsvolle Wohnbauprogramm "Minha Casa, minha vida", das die brasilianische Regierung im Frühjahr im Rahmen der Konjunkturbelebung angekündigt hat – bis 2010 sollen dabei eine Million Wohnungen für untere Einkommensschichten gebaut werden.

Von solchen staatlichen Ausgabenprogrammen profitiert auch die Zementindustrie, die als Teil der Bauwirtschaft zu den Hauptopfern der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise gehört. Die Nachfrage geht vor allem in den USA, aber auch in den anderen reichen Ländern und Osteuropa derzeit zurück. Im Süden nimmt die Zementnachfrage jedoch weiter zu, vor allem durch das Konjunkturprogramm in China mit seinem hohen Infrastrukturanteil. Die Kluft zwischen Norden und Süden hat sich damit weiter vergrößert (siehe "Zwei Welten" S. 31).

Zweifellos wird die Nachfrage nach Beton und damit Zement stark zunehmen. Beton ist nicht grundlos der mit Abstand wichtigste Baustoff: Er ist in vielen Baubereichen wie etwa im Wasserbau einfach unersetzbar, seine technische Gestaltbarkeit überraschend (siehe "Fakten" S. 30). Auf Beton und Zement zu verzichten ist keine Option. Allerdings gibt es dabei ein Problem: Die Herstellung von Portlandzement verursachte 2007 weltweit ca. zwei Milliarden Tonnen CO2, fünf Prozent der von Menschen verursachten Treibhausgasemissionen (THG).

Bliebe alles so wie bisher, würde die Zementindustrie 2050 weltweit mehr als fünf Mrd. Tonnen THG emittieren. Das wäre annähernd die Hälfte der zulässigen Emissionen, wenn die Erderwärmung auf plus 2°C beschränkt werden soll – ein Horrorszenario. Das Problem ist einerseits eines der Technologie: Die Emissionen lassen sich mit heute wirtschaftlich anwendbaren Techniken nicht in ausreichendem Umfang reduzieren. Andererseits ist es eines der Politik: Will man zumindest die machbaren Emissionsreduktionen auch zeitgerecht umsetzen, muss man den Süden – und das heißt heute in erster Linie China – davon überzeugen, mitzumachen. Erste Ansätze dazu könnten im Rahmen der großen Klimakonferenz im Dezember in Kopenhagen gelingen (siehe "Harte Nuss" S. 34).

Ein idealer Ausweg aus dem Dilemma wäre ein alternatives Bindemittel für Beton mit einer besseren THG-Bilanz. Tatsächlich gibt es Projekte, die beanspruchen, mit fantastisch klingenden Patentlösungen aufwarten zu können: CO2-negativer Beton etwa, der als Kohlenstoffsenke dienen könnte (siehe "Alternativen" S. 32).

Aber selbst wenn es sich nicht um Hirngespinste handelt, könnten diese Innovationen nicht von heute auf morgen quantitativ Bedeutung erlangen. Eine Konsequenz: Wenn man beim Zement die Emissionen nicht ausreichend reduzieren kann, muss eben anderswo mehr getan werden. Der Mangel an Alternativen hat die Zementindustrie auch dazu motiviert, auf das Potenzial der Emissionsreduktion zu verweisen, das sich auf Basis einer intelligenteren Stadtplanung, Architektur und nachhaltigen Konzeption von Gebäuden und Bauwerken ergibt. Das kann als Ablenkungsstrategie betrachtet werden, als "Haltet-den-Dieb"-Taktik. Aber das Argument ist korrekt.

Heute verursacht die Energieerzeugung für Heizung, Kühlung und Beleuchtung von Wohn- und Gewerbegebäuden fast ein Viertel der weltweiten THG-Emissionen. Gebäude verbrauchen über ihre Nutzungsdauer zumeist weit mehr Energie als bei ihrer Errichtung anfällt, Baumaterial eingerechnet. Gerade im Süden, wo der Großteil der Bautätigkeit erst in Zukunft stattfinden wird, besteht diesbezüglich ein enormes Einsparungspotenzial. Im Nachhinein ist alles viel schwieriger: In den reichen Ländern steht einer Reduktion dieser Emissionen der Umstand entgegen, dass ein großer Teil des Gebäudebestands in einer Zeit geplant und gebaut wurde, als Energie billig und der Treibhauseffekt unbekannt war.

Die Zementindustrie will natürlich als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems wahrgenommen werden. Das erklärt auch ihr Engagement in Sachen nachhaltige Architektur. Der Schweizer Konzern Holcim etwa hat dazu eine Stiftung ins Leben gerufen, die "Holcim Foundation for Sustainable Construction". Sie vergibt alle drei Jahre die Holcim Awards für nachhaltiges Bauen, die mit einem ungewöhnlich hohen Preisgeld von zwei Millionen Dollar ausgestattet sind. Für den zweiten Wettbewerb (2009) wurden fast 5.000 Projekte und Visionen aus 121 Ländern eingereicht. Dass Holcim bei der Gegenveranstaltung zum Jahrestreffen des World Economic Forums (WEF) in Davos 2008 aber auch für den Antipreis "Public Eye on Davos" nominiert wurde, zeigt, dass es in der Branche noch andere Probleme als die fehlende Nachhaltigkeit gibt: Dem Konzern wurde die Nichteinhaltung von Mindestlöhnen in Indien und illegale Preisabsprachen vorgeworfen.

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