„Ein buntes Völkergemisch auf dem Schlachtfeld“

Von Christian Koller · · 2014/07

Hunderttausende Soldaten aus Afrika und Asien erlitten auf den Schlachtfeldern des 1. Weltkrieges nicht nur Hunger, Kälte und in vielen Fällen den Tod. Sie wurden auch mit dem Rassismus und dem Überlegenheitswahn der Kolonialmächte konfrontiert.

Der Erste Weltkrieg führte zu einer Präsenz von Männern aus den Kolonien in Europa in zuvor unbekanntem Ausmaß. Frankreich und Großbritannien setzten insgesamt etwa 650.000 Kolonialsoldaten auf den europäischen Schlachtfeldern ein – wobei diese Zahl die europäischstämmigen Siedler nicht einschließt. Hinzu kamen noch etwa eine halbe Million Kriegsarbeiter aus den britischen und französischen Kolonien sowie aus China und Ägypten. Aus den deutschen Kolonien kamen keine Soldaten oder Kriegsarbeiter nach Europa. Die Westfront war also durchaus multikulturell – oder zeigte, wie das „Tagblatt der Stadt Zürich“ schon im September 1914 festhielt, „ein buntes Völkergemisch“.

Die Kolonialtruppen in der französischen Armee kamen aus Algerien, Westafrika, Tunesien, Marokko, Indochina, Madagaskar und von der Somaliküste. Aufgrund der geringen Zahl von Freiwilligen griffen die französischen Behörden rasch zum Mittel der Zwangsrekrutierung. In Westafrika war die Praxis verbreitet, von lokalen Würdenträgern die Bereitstellung entsprechender Kontingente zu erpressen. Diese lieferten vorwiegend Rekruten aus den dörflichen Unterschichten und vor allem aus der Schicht der Haussklaven. Nur in Regionen, wo vorkoloniale Traditionen eines aristokratischen Kriegertums überlebt hatten, waren auch Oberschichtsöhne vertreten. Zuweilen griffen die Franzosen auch Dörfer militärisch an und nahmen die zu rekrutierenden jungen Männer gefangen. Aufgrund dieser Praktiken zirkulierten bald Gerüchte, die Männer würden in Wirklichkeit in die Sklaverei abgeführt.

Der Widerstand gegen die Rekrutierungen war mannigfaltig: Viele flüchteten aus ihren Dörfern in unwegsames Gelände oder sogar in benachbarte Länder und Kolonien. Andere täuschten Krankheiten und Behinderungen vor oder verstümmelten sich. Unter den für kriegsdiensttauglich Befundenen versuchten viele, vor dem Transport in die Fremde zu desertieren. Andere wussten kein anderes Mittel, als sich durch Selbstmord dem Kriegseinsatz zu entziehen.

Es gab aber auch Formen kollektiven, gar bewaffneten Widerstands. In mehreren Fällen versuchten Dörfer, sich mit Gewalt zu wehren. Und wie in Algerien, wo der Widerstand gegen die Rekrutierungen im Winter 1916/17 in einem großen Aufstand im Süden des Departements Constantine gipfelte, kam es auch in Westafrika zu regelrechten Rebellionen gegen die Kolonialmacht. Eine Revolte in Bélédougou (heute Mali) im Jahr 1915 richtete sich ganz eindeutig gegen die Rekrutierung. Bei einem großen Aufstand in Westvolta 1915/16 sowie mehreren Rebellionen im Norden von Dahomey 1916 und 1917 war die Rekrutierung zumindest ein wichtiger Grund.

Die Briten verschifften schon kurz nach Kriegsausbruch bedeutende Einheiten ihrer indischen Kolonialarmee nach Frankreich – insgesamt schließlich etwa 150.000 Mann. Auch Angehörige der kanadischen „First Nations“, Maori und Aborigines kämpften in Europa. Hingegen setzten die Briten in Europa – im Gegensatz zu den Kriegsschauplätzen in Afrika und im Nahen Osten – keine afrikanischen Kombattanten ein. Offiziell wurde dies mit logistischen Problemen begründet, doch spielte auch Rassismus eine Rolle, verweigerten die Briten nach dem Kriegseintritt der USA doch auch die Ausbildung einer afroamerikanischen Einheit.

Die belgische Regierung erwog zu verschiedenen Zeitpunkten, mehrere Tausend Soldaten aus dem Kongo nach Europa zu holen, diese Pläne konkretisierten sich indessen nie. Dennoch scheinen vereinzelt Kongolesen an der Westfront gekämpft zu haben.

Der Einsatz an der Westfront war für viele afrikanische und asiatische Soldaten ein traumatisches Erlebnis, unterschied er sich doch fundamental von allem, was sie von einem Krieg erwartet hatten. Aufgrund der hohen Verlustraten zogen die Briten bereits Ende 1915 einen großen Teil der indischen Truppen wieder aus Europa ab. In französischen Offizierskreisen war schon vor 1914 die Auffassung verbreitet gewesen, Afrikaner eigneten sich aufgrund ihres angeblich unterentwickelten Nervensystems besonders zum Einsatz als Schocktruppen an der Spitze von Angriffen. Während des Kriegs wurde dies zur dominanten Einsatzdoktrin an der Westfront. Inwiefern sich dies in höheren Gefallenenraten niederschlug, ist in der historischen Forschung umstritten, doch gibt es Berechnungen, dass die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, für westafrikanische Infanteristen zweieinhalb Mal größer war als für ihre französischen Kameraden.

Der massive Einsatz von Kolonialsoldaten in Europa rief seit den ersten Kriegsmonaten europaweit ein gewaltiges mediales Echo hervor. Das Thema wurde bald auch Gegenstand propagandistischer Kontroversen. Artikel in der deutschen Presse verdammten den Einsatz von Kolonialtruppen als moralisches Verbrechen. Frühzeitig wurden auch Berichte über angebliche Gräueltaten von Kolonialsoldaten publiziert. Dies sollten in der Folge die dominierenden Elemente der deutschen Presseberichterstattung über die Kolonialtruppen werden. Ab dem Frühjahr 1915 spielten sie auch eine wichtige Rolle in den propagandistischen Versuchen, die neutralen Staaten im deutschen Sinne zu beeinflussen.

Die Darstellung der afrikanischen und asiatischen Truppen in deutschen Propagandaschriften war in der Regel hochgradig rassistisch und knüpfte an die Stereotype der zeitgenössischen kolonialimperialistischen Diskurse an. Im Sommer 1915 publizierte das deutsche Auswärtige Amt eine Broschüre mit dem Titel „Völkerrechtswidrige Verwendung farbiger Truppen auf dem europäischen Kriegsschauplatz durch England und Frankreich“, die auch in verschiedenen Übersetzungen erschien. Darin wurde eine Reihe angeblich von Kolonialsoldaten begangener Gräueltaten geschildert, etwa das Ausstechen von Augen und Abschneiden von Ohren, Nasen und Köpfen verwundeter und gefangener deutscher Soldaten.

In anderen Publikationen wurden die Kolonialsoldaten etwa als „Menschenwirrwar von Farben und Religionen“, „Teufel“, „entmenschte Wilde“, „in teuflischer Ekstase herumstechende Afrikaner“, „nicht oder nur ungenügend zivilisierte Banden und Horden“ oder „Hilfstruppengesindel aller Farben“ tituliert. Auch war von einer „schwarzen Flut“, „dunklem Schlamm“ oder „schwarzer Schande“ die Rede.

Unmittelbar nach dem Krieg sollte die Stationierung französischer Kolo-nialeinheiten in der rheinländischen Besetzungszone dann eine zweite Propagandakampagne gegen die „Schwarze Schmach“ nach sich ziehen, die sich dieses Mal auf angebliche sexuelle Übergriffe auf die Zivilbevölkerung konzentrierte.

Ein weiterer Einwand der deutschen Propaganda gegen die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa war deren angeblich negativer Einfluss auf die Zukunft des Kolonialsystems und die globale Dominanz der „weißen Rasse“.

In Österreich-Ungarn waren die nordafrikanischen Kolonialtruppen Frankreichs bereits vom Sardischen Krieg von 1859 her bekannt. Während des Ersten Weltkrieges wurden die k. u. k. Truppen indessen kaum je mit Kolonialtruppen konfrontiert. Italienische Pläne, libysche oder eritreische Truppen an der Alpenfront einzusetzen, konkretisierten sich nie. Das Kolonialtruppen-Thema war deswegen in der österreichischen Propaganda weniger zentral. Die Zeitungskommentare deckten sich im Wesentlichen mit denjenigen der deutschen Presse. Eine abweichende Stimme kam jedoch von prominenter Seite: Der Sozialdemokrat Karl Renner, später maßgebend an der Gründung der ersten wie der zweiten Republik beteiligt, nahm 1917 in seiner Schrift „Marxismus, Krieg und Internationale“ den Einsatz der Kolonialtruppen als Beweis, dass der Krieg nicht ein Konflikt zwischen Nationalstaaten, sondern ein „Kampf der Imperialismen um die Weltherrschaft“ sei: „England (…) marschiert real auf den flandrischen Schlachtfeldern auf, Kanadier neben Australiern, Kapländer neben Indern (…). Und Frankreich nicht minder: Araber von Algier und Marokko und Neger stehen mit Pariser Proletariern in einer Front.“ Alle stünden sie letztlich „unter der ausschließlichen Herrschaft der Bourgeoisie“.

Inwiefern der Einsatz von Kolo-nialtruppen in Europa von 1914 bis 1918 in der Tat einen Ursprung der Dekolonisationsbewegung darstellte, die vier bis fünf Jahrzehnte später zum Durchbruch gelangte, ist in der historischen Forschung umstritten. Eines aber zeigt sich unmissverständlich: So erbittert sich Deutsche, Franzosen und Briten an der Westfront bekämpften, so einig waren sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrem kolonialrassistischen Überlegenheitswahn und der Verachtung der Menschen aus Afrika und Asien.

Christian Koller ist Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und seit 2014 Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs.
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Medienkooperation mit der Zeitschrift Südlink / Berlin.

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