Die Co-Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich übt Kritik an Europas Rolle rund um die Proteste im Iran.
Wie gehen Sie als Leiterin einer Menschenrechtsorganisation mit dem aktuellen Nahost-Konflikt um?
Das ist schwierig. Wir haben diese unglaubliche Polarisierung der vergangenen Wochen und Monate als Amnesty International Österreich insofern erlebt, als wir als Menschenrechtsorganisation angefeindet wurden. Unsere Rolle ist keine politische, sondern eine, die auf Menschenrechte blickt. Wir kamen aber unter Druck von außen, Stellung zu beziehen, uns auf eine Seite zu stellen.
Dazu muss man wissen, dass Amnesty auf internationaler Ebene, nicht die Österreich-Sektion, mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert war.
Wir als Amnesty Österreich haben uns immer klar gegen Antisemitismus positioniert. Unser Mandat als NGO ist es, politische Äquidistanz zu wahren.
Gibt es in dieser Situation intern Debatten mit und unter Amnesty-Aktivist:innen?
Die haben natürlich auch unterschiedliche Einstellungen zu Israel bzw. Palästina. Da diskutieren wir dann. Und erklären, dass wir uns auf die Menschenrechtsverletzungen konzentrieren, Berichte zu Vorfällen herausgeben – soweit sie verifizierbar sind.
Aber: Wir greifen nicht in einen politischen Prozess ein oder präsentieren Verhandlungslösungen. Das ist nicht unsere Aufgabe.
Unter Medienkonsument:innen lässt sich angesichts der vielen Krisen eine Nachrichtenvermeidung beobachten. Merken Sie nachlassendes Engagement unter Aktivist:innen oder eine sinkende Spendenbereitschaft?
Nein, bei den Spenden merken wir das so nicht. Und wir bekommen viele Anfragen in Sachen Aktivismus. Ich bin seit Sommer 2023 bei Amnesty und habe das Gefühl, dass der Wille zu handeln sehr groß ist, etwa zur Menschenrechtssituation im Iran.
Haben die multiplen Krisen die Arbeit von Amnesty verändert?
Amnesty wurde 1960 gegründet, viele Mitglieder kamen aus der Friedensbewegung der 1970er Jahre dazu. Im Kalten Krieg gab es zwei klare Fronten. Jetzt sind die Krisen in der Welt nicht nur mehr, sondern zudem komplexer geworden. Ich glaube, dass Amnesty gut beraten ist, diese Entwicklungen mit nüchternem, realistischem Blick in die Arbeit miteinzubeziehen.
Inwiefern haben sich aus Ihrer Sicht die Verhältnisse verändert?
Früher war die Meinung berechtigterweise verbreitet, dass die USA sich wie eine „Weltpolizei“ verhalten und gleichzeitig Menschenrechtsverletzungen begehen. Heute haben wir mehr Akteure – etwa Russland, Saudi-Arabien, Iran und China – sowie den Einfluss dieser Mächte auf Regionen wie Westafrika oder auch auf den Balkan.
Menschenrechte müssen dahingehend politisch zeitgemäßer eingeordnet werden. Das versuche ich in der Organisation voranzutreiben und einen geopolitischen Blick mit Menschenrechtsarbeit zu verbinden.
Verlieren die Menschenrechte an Bedeutung?
Ja. In Österreich sehen wir zudem eine veränderte Haltung zu Menschenrechtsdokumenten. Da wird auf der einen Seite das 75-Jahr-Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefeiert und auf der anderen wird die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Frage gestellt.
Und für viele Menschen, speziell junge, scheint der Begriff Menschenrechte veraltet zu sein. Viele wissen gar nicht genau, was diese im Ganzen bedeuten.
Gibt es einzelne Menschenrechte, die besonders bedroht sind?
Ja. Das sieht man z. B. an der Kriminalisierung von Protestbewegungen, von Black Lives Matter bis hin zur Klimabewegung oder der Protestbewegung im Iran. Proteste auf der Straße werden tendenziell schneller gewaltsam niedergeschlagen und radikalisieren sich in weiterer Folge, auch hierzulande.
Für uns als Amnesty ist traditionell der politisch-bürgerliche Bereich der wichtigste, worunter die Versammlungsfreiheit, die freie Meinungsäußerung oder das Verbot von Folter und Todesstrafe fallen. In Europa versuchen wir uns gerade verstärkt zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereichen zu positionieren. Für viele sind die gar kein Begriff, sie werden aber immer wichtiger – Stichwort Armutsbekämpfung, aber genauso Gesundheit, Arbeit, Bildung und Wohnen.
Wie groß sind denn Ihre Sorgen in Zeiten des Rechtsrucks in ganz Europa?
Groß! Die Pressefreiheit etwa ist ein Thema, das uns deswegen beschäftigt, sowie die sogenannten SLAPP-Klagen (strategische Klagen, die Kritiker:innen, kleinere Initiativen oder Medien einschüchtern oder mundtot machen sollen, Anm. d. Red.), wie die gegen die Organisation SOS Balkanroute. Wir haben diesen Fall gerichtlich begleitet und waren sehr froh, dass die Klage in allen Punkten abgewiesen wurde. Vor allem, weil der Richter sein Urteil mit der Europäischen Menschenrechtskonvention begründet hat.
Gleichzeitig haben Verfassungshüter:innen in Deutschland die Präventivhaft von Klimaaktivist:innen in einem konkreten Fall nun als rechtmäßig beurteilt.
75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Am 10. Dezember 1948 einigten sich die damals 56 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen auf einen Katalog von Grundrechten. Grundrechte, die auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit basieren. Sie schufen damit ein Wertesystem, das für alle Menschen gelten sollte – unteilbar und nicht verhandelbar sollten sie sein. red
Wie wollen Sie Amnesty verändern?
Ich möchte an einem Ausbau der Angebote für junge Menschen arbeiten und die Advocacy, also die politische Lobbyarbeit, weiterentwickeln, denn die kenne ich aus meinem früheren Berufsleben. Ich weiß: Mit den richtigen Zugängen und der passenden Kommunikation kann man Dinge im Stillen verändern. Und da haben wir bereits Expertise im Haus.
Stichwort Expertise: Diese bringen Sie als langjährige Iran-Aktivistin mit zu Amnesty. Wie ist Ihre aktuelle Einschätzung der Lage?
Die Freiheitsbewegung ist im Iran brutal niedergeschlagen und dementsprechend still geworden, auch wenn sie weiterhin existiert. Es gibt einen Erfolg zu verzeichnen bezüglich der Zwangsverschleierung, denn mittlerweile kleiden sich Frauen, zumindest in den großen Städten, wie sie das wollen.
Politisch aber hat sich die Gesamtsituation mit neuen restriktiveren Gesetzen eher verschlechtert. Es ist ein schwieriger Moment, vielleicht braucht es einen Auslöser für neuen Schwung.
Welche Hebel von außen würden für eine Verbesserung der Menschenrechtslage im Iran wirken?
Im vergangenen Jahr hätte es Möglichkeiten gegeben, etwas zu bewegen, aber da hat der Westen versagt. Man wollte schauen, ob die Atomverhandlungen nicht doch weitergehen, nachdem sie kurzfristig auf Eis gelegt wurden. Ich habe als Aktivistin stark für die Listung der Revolutionsgarde auf der EU-Terrorliste lobbyiert. Obwohl es auf EU-Ebene eine gewisse Offenheit dafür gegeben hat, ist letztlich nichts passiert. Man wollte die Lage offenbar nicht eskalieren. Die UN hat mit ihren Institutionen und nicht rechtsverbindlichen Resolutionen da nicht so viel Wirkungsmacht, wie weitläufig angenommen wird. Es geht eher darum, was die EU-Staaten, USA oder Kanada machen.
Viele sehen nicht zuletzt wirtschaftliche Gründe und Abhängigkeiten, wieso die EU-Staaten nicht strenger gegen die Führung in Teheran vorgehen. Sehen Sie das auch so?
Ja, insbesondere bei Deutschland.
Was kann man als Amnesty machen, damit die Menschen hier Länder wie Iran oder Afghanistan nicht aus den Augen verlieren?
Afghanistan haben viele abgeschrieben mit dem Überlassen der Macht an die Taliban, so leidvoll dieser Befund ist. Für die Menschenrechtslage dort interessiert sich kaum noch jemand. Sogar bei Einzelfällen ist es schwierig, die Menschen zur Unterstützung zu bewegen. Wir haben als Amnesty kein Büro dort, aber bekommen unsere Informationen über die UN und Ärzte ohne Grenzen. Umso wichtiger ist das Halten von Kontakten. Und das Nichtanerkennen der Taliban.
Themen zum Iran sind einfacher vermittelbar, sie scheinen die Menschen mehr zu erreichen. Iran ist eine Regionalmacht und durch den Nahost-Konflikt steigt das Interesse an seiner Rolle. Und über das Thema Frauen sind bei uns mehr Menschen mobilisierbar.
Wie kann man iranische Aktivist:innen stärken?
Durch Aufmerksamkeit sowie über Spenden. Amnesty bringt Menschenrechtsverletzungen ans Licht und berichtet über Entwicklungen wie im Herbst 2023 den Hungerstreik der iranischen, inhaftierten Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi.
Ist das Engagement für den Iran wegen ihres persönlichen Hintergrunds kompliziert?
Es ist schwierig für mich, da nicht zu sehr ins Politische zu kippen. Persönlich bin ich für den Umsturz des Regimes, für Amnesty fordere ich die Einhaltung der Menschenrechte.
Auf was muss man als Person mit iranischen Wurzeln in Österreich achten, wenn man politisch aktiv wird?
Ein Riesenthema ist die Überwachung durch den iranischen Geheimdienst, vor allem in Wien als Spionagedrehscheibe. Persönlich passe ich darauf auf, verschlüsselt zu kommunizieren. Ich gehe allerdings auf Demos und sage mit Klarnamen, was ich meine. Viele andere machen das nicht, das verstehe ich. Mir wurde sehr wohl geraten, nicht in den Iran oder in die Nachbarländer zu fahren, ich empfinde das aber nicht als große Einschränkung.
Ihre Eltern waren ja auch schon gegen das Regime aktiv …
Über das Ausmaß, wie sehr sie das wa-ren, bin ich mir erst in der letzten Zeit so richtig bewusst geworden. Früher hatte ich wenig Bezug zum Iran, ich habe mich auf hier konzentriert. Erst im Zuge der Proteste im Herbst 2022 habe ich meine Eltern dazu befragt und so viel erfahren, u. a., wie viele Familienmitglieder schon inhaftiert worden waren.
Was hat sich denn mit Ihrem beruflichen Wechsel vom Außenministerium in die Geschäftsleitung von Amnesty verändert?
Die Hierarchien bei Amnesty sind definitiv flacher als im Ministerium. Aber dennoch wird hier in gewissem Sinne strukturierter, mehr nach Prozessen gearbeitet. Meine 15 Jahre Berufserfahrung im Außenamt bringen mir viel, vor allem den politischen Realitätssinn und ein Gespür, was ich von wem fordern kann, wie ich mit wem kommunizieren muss.
Lassen Sie sich zu einer Kritik der Performance der österreichischen Außenpolitik hinreißen?
Ich finde, sie könnte proaktiver sein. Sie ist behäbig, es fehlen die Visionen. Vieles geschieht aus Tradition heraus und vielleicht hat man auch das Gefühl, zu klein zu sein, um außenpolitisch groß etwas zu bewirken. Staaten wie Finnland oder die Schweiz beweisen aber, dass das schon anders ginge. Es ist viel Aktivität verloren gegangen, man fokussiert auf Wirtschaftsservices. Das sehe ich nicht als Aufgabe der Außenpolitik. Gern hätte ich hingegen eine feministische Außenpolitik gesehen.
Wie wären die UN Ihrer Meinung nach zu verändern?
Die Vereinten Nationen sind tatsächlich in einer schwierigen Phase. Da ist einerseits der Sicherheitsrat, der in Wirklichkeit nicht handlungsfähig ist, wenn es darauf ankommt. Seine veraltete Zusammensetzung und das Vetorecht müssten an die heutigen Umstände angepasst werden.
Ich habe in meiner Arbeit für das Außenministerium gesehen, dass Staaten aus dem Globalen Süden, die selbst Menschenrechtsverletzungen begehen, innerhalb der Vereinten Nationen Macht haben und Allianzen gegen Menschenrechtsresolutionen schmieden.
Natürlich setzen dabei die Mächtigeren die weniger Mächtigen unter Druck. Oft kommt es da zu politischem Kuhhandel. Von außen erscheinen die UN als sehr westliches Gebilde, aber wenn man drinnen sitzt, sieht man, dass der Globale Süden – also die größeren Staaten – sehr viel politische Entscheidungsmacht hat.
Braucht es ein „Update“ der Menschenrechtskonvention?
Ich hätte eine gewisse Offenheit dafür und halte Diskussionen für wichtig, weil es in den alten Dokumenten natürlich an Themen fehlt. Beispiel Klima: Vergangenes Jahr hat die UN-Versammlung eine Resolution beschlossen, in der das Klimathema und das Recht auf eine nachhaltige Umwelt erstmals als Menschenrecht angenommen wurde. Neue Themen gäbe es genug.
Aber es gibt schon eine große Angst, die Konvention von einst aufzumachen. Die Frage ist, ob heute die Konvention mit ihren 30 Artikeln überhaupt noch von so vielen Staaten ratifiziert werden würde. Ich glaube nicht, dass Staaten wie Saudi-Arabien noch zustimmen würden.
Interview: Christina Schröder, Richard Solder
Mitarbeit: Xaver Schrems
Shoura Zehetner-Hashemi wurde 1982 in Maschhad, Iran, geboren. Dort verbrachte sie die ersten Jahre ihres Lebens mit ihren politisch aktiven Eltern. Gemeinsam flohen sie 1987 nach Österreich und erhielten politisches Asyl. Nach dem Jusstudium in Wien absolvierte Hashemi die Diplomatische Akademie und kam 2008 ins Außenministerium. Während ihrer Laufbahn im höheren auswärtigen Dienst verbrachte Hashemi sechs Jahre an den österreichischen Vertretungen in Brüssel, Genf und Jakarta. Dann war sie in der Sektion für Entwicklungszusammenarbeit tätig. Seit September 2022 dokumentierte sie die Ereignisse im Kontext der Demokratiebewegung im Iran und engagiert sich als Unterstützerin der feministischen Revolution.
Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!
Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.
Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.
Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!
Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.