
Jeden Tag sterben etwa 24.000 Menschen an den Folgen von Hunger – ohne öffentlichen Aufschrei. Warum das größte lösbare Problem der Menschheit kein Schicksal ist und dennoch medial verhungert.
In der Nahrungskette der medialen Aufmerksamkeit steht das Thema Hunger ganz hinten. Der tägliche Hungertod von etwa 6.600 Kindern weltweit macht weder Schlagzeilen noch spielt er auf den politischen Agenden eine Rolle.
Hunger ist geographisch gesehen fast ausschließlich mit dem
Globalen Süden verbunden. Dort sterben jeden Tag etwa 24.000 Menschen an den
Folgen, alle 13 Sekunden ein Kind unter fünf Jahren.
Dabei ist Hunger auf der Erde keine unabwendbare Naturkatastrophe, sondern menschengemacht. Die Vereinten Natio-nen (UN) bezeichnen Hunger als das „größte lösbare Problem der Welt“. Es stelle sich zwar als sehr weitreichend und umfangreich dar, aber alle notwendigen Voraussetzungen zu seiner Lösung seien vorhanden.
Recht auf Nahrung. Dass eine Welt ohne Hunger eine Frage des politischen Willens ist, hat der UN-Generalsekretär António Guterres im Jahr 2022 in einer Rede an die Generalversammlung der Vereinten Nationen eindringlich unterstrichen: „Eine Welt ohne extreme Armut, Not und Hunger ist kein unmöglicher Traum. Sie ist zum Greifen nah.“ Bereits im Jahr 2020 wies Guterres darauf hin, dass die Lösung des globalen Hungerproblems ein wichtiger Schlüssel zur Lösung zahlreicher anderer Probleme ist: „Wir wissen, dass die Abschaffung des Hungers eine unabdingbare Voraussetzung für den Frieden ist. Eine hungrige Welt ist keine friedliche Welt.“
Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht. Dies haben die Vereinten Nationen in Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, ICESCR), dem sogenannten UN-Sozialpakt, völkerrechtlich verankert. 2015 haben sie das Ziel „Zero Hunger“, also die Beendigung des globalen Hungers, als das zweite von insgesamt 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) ausgeschrieben. Die ursprüngliche Absicht, dieses Ziel innerhalb von 15 Jahren, also bis zum Jahr 2030 zu erreichen, erscheint, gerade auch in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen, als ausgesprochen unwahrscheinlich. Die jüngsten Erfolge und Bemühungen in der Hungerbekämpfung wurden durch die Corona-Pandemie wieder zurückgeworfen.
Genug für alle da. Trotz dieser Rückschläge zeigen aktuelle Hochrechnungen, dass die weltweiten Ernten ausreichen würden, um zwölf bis 14 Milliarden Menschen mit genügend Nahrung zu versorgen. Das eigentliche Problem liegt jedoch in der ungleichen Verteilung und der massiven Verschwendung von Lebensmitteln. Schätzungen zufolge landet etwa ein Drittel aller produzierten Nahrungsmittel – in Industrieländern sogar noch mehr – im Müll.
Auch finanzielle Ressourcen wären genügend vorhanden, sie werden aber zu anderen Zwecken eingesetzt. Die globalen Mittel zur Hungerbekämpfung machen lediglich etwa 0,5 Prozent der jährlichen Militärausgaben weltweit aus. Diese erreichen seit Jahren immer neue Rekordhöhen: 2023 stiegen sie auf fast 2,5 Billionen US-Dollar, während die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit insgesamt stagnieren oder, wie in Deutschland, gekürzt und jüngst in den USA radikal gestrichen werden.
Dem kanadischen International Institute for Sustainable Development (IISD) zufolge werden international jährlich zirka zwölf Milliarden US-Dollar zur Bekämpfung des globalen Hungers ausgegeben. Es gibt verschiedene Schätzung anhand der beobachteten Entwicklungstrends, die je konkreter Zielsetzung und veranschlagtem Zeitrahmen ergeben, wie viel Geld notwendig wäre, um das Problem Hunger zu lösen.
Laut einer im Jahr 2020 vorgestellten Berechnung des IISD in Kooperation mit dem International Food Policy Research Institute (IFPRI) und der New Yorker Cornell University könnten innerhalb von zehn Jahren zirka 500 Millionen Menschen aus Hunger und Fehlernährung befreit werden, wenn international jährlich zusätzlich 14 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt würden. Der ehemalige deutsche Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller, bezifferte in einem Interview im Oktober 2021 die jährlich erforderliche Summe zur Beendigung des Hungers bis 2030 auf zusätzlich 40 Milliarden Euro.
Mediales Verhungern
In politischen wie öffentlichen Diskursen ist Hunger, der sich im Globalen Süden täglich durch ganze Gesellschaften frisst, kaum präsent. So essentiell das Problem ist, es wird medial als wenig „nachrichtenwürdig“ behandelt. Hunger ist als „langsame“ bzw. „stille Katastrophe“ weniger „spektakulär“ als zum Beispiel militärische Auseinandersetzungen oder Terroranschläge.
Und: Hunger in Massen ist im Globalen Norden weitgehend ausgerottet und fast ausschließlich ein Phänomen des Globalen Südens. Allgemein ist die mediale Aufmerksamkeit für den Globalen Süden verschwindend gering: Untersuchungen haben ergeben, dass in den führenden deutschsprachigen Nachrichtensendungen etwa nur zehn Prozent der Beiträge auf den Globalen Süden entfallen, obwohl dort etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung leben – in den meisten Printmedien liegt der Anteil in der Regel sogar noch niedriger.
Royals statt Welthunger. In der österreichischen Zeit im Bild 1 war die Aufmerksamkeit für die britische Königsfamilie im Jahr 2022 größer als für den Welthunger. In der deutschen Tagesschau erhielten Sportnachrichten in der ersten Jahreshälfte 2022 mehr Sendezeit als der gesamte Globale Süden. Und in der Schweizer Tagesschau wurde über die Ohrfeige, die Will Smith auf der Oscarverleihung Chris Rock gab, umfangreicher berichtet als über die Bürgerkriege in Jemen und in Tigray, Äthiopien, zusammen. Beide Konflikte sind eng mit dem Thema Hunger verbunden und finden im Globalen Süden statt. Die UN bezeichnen den Bürgerkrieg im Jemen als „schlimmste humanitäre Krise weltweit“ und der Bürgerkrieg in Äthiopien mit bis zu 600.000 Toten gilt als „tödlichster Krieg des 21. Jahrhunderts“.
Zur Einordnung: Im Jahr 2022 beschäftigte sich die ZIB 1 in etwa 94.000 Sekunden mit dem Ukraine-Krieg, die Bürgerkriege im Jemen und Äthiopien erhielten 185 bzw. sogar nur 40 Sekunden Sendezeit. (Mehr Info: siehe „Weiterlesen“)
Existenzieller Zustand. „Die Geschichte der Menschheit ist von Anfang an die Geschichte ihres Kampfes um das tägliche Brot“, konstatierte der brasilianische Arzt und Schriftsteller Josué de Castro in seiner wirkmächtigen Schrift Geopolitik des Hungers (Geopolítica da Fome) von 1951.
Hunger gehört zu den elementarsten Zuständen des Lebens und den ursprünglichsten Wesensmerkmalen einer jeden biologischen Existenz. Der niederländische Internist und Endokrinologe Max Nieuwdorp bezeichnete Hunger als das „wahrscheinlich älteste Gefühl auf Erden“, das „das Leben bereits seit Milliarden von Jahren peinigt“.
Hunger – „wirklicher Hunger“ – ist ein existentieller Zustand. Jeder Mensch hat Hunger erlebt, gleichwohl bedeutet es einen fundamentalen Unterschied, ob man hungrig ist, weil man, ansonsten wohlgenährt, vor einigen Stunden das letzte Mal etwas zu sich genommen hat oder, ob man verhungert, weil jemand seit Tagen oder sogar Wochen nichts oder kaum etwas gegessen hat.
Der argentinische Schriftsteller, Journalist und Hungerkritiker Martín Caparrós stellte in diesem Zusammenhang fest: „Wir kennen Hunger und haben doch keine Vorstellung, was Hunger ist.“ Dies gilt auch für das Verständnis des Verhungerns als Todesursache.
Der frühere UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler beschrieb den Tod durch Hunger mit physisch-psychischen Auswirkungen folgendermaßen: „Der Hungertod ist qualvoll. Der Todeskampf ist lang und verursacht unerträgliche Schmerzen. Er führt zu einer langsamen Zerstörung des Körpers, aber auch der Psyche.“
Bereits die frühkindliche Unterernährung, die in Form des sogenannten Stunting (Unterentwicklung) nicht zum Tod führt, hat für Kinder trotzdem langfristige Auswirkungen. Sie macht die Betroffenen anfälliger für Krankheiten und stellt für sie eine lebenslange Belastung dar.
Systemzersetzend. Individueller Hunger zerstört den Körper, kollektiver Hunger kann ganze Gesellschaftssysteme zersetzen. Eine sichergestellte Nahrungsmittelversorgung ist eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität von soziopolitischen Systemen. Der US-amerikanische Umweltanalytiker Lester R. Brown machte darauf aufmerksam, dass Kulturen wie beispielsweise
die der Sumerer und Maya aufgrund einer falschen Ernährungspolitik untergegangen sind. Extreme und konsequente Nahrungsmittelknappheit, chronische Unterernährung und Hungersnöte können den Zusammenbruch etablierter sozialer Werte und Normen bedeuten.
Hungersnöte waren wiederkehrende Phänomene in der Menschheitsgeschichte und verursachten weitaus mehr Tote als Kriege. Caparrós schloss daraus: „Nichts hat die Geschichte der Menschheit stärker beeinflusst. Keine Krankheit, kein Krieg hat mehr Opfer gefordert. Keine Seuche ist so tödlich und dabei so vermeidbar wie der Hunger.“
Der genaue quantitative Umfang von vielen Hungersnöten ist schwer zu fassen, Schätzungen gehen davon aus, dass im Zeitraum von 1850 bis 2000 weit über 100 Millionen Menschen auf der Erde infolge von Hunger starben – eine Zahl, die die Opfer der beiden Weltkriege zusammen weit übersteigt.
Dennoch gab es in den vergangenen 80 Jahren deutliche Fortschritte in der Hungerbekämpfung. Genaue Schätzungen sind schwierig, aber Mitte des vergangenen Jahrhunderts hungerte noch etwa jeder zweite Mensch auf der Welt, Anfang der 1970er Jahre war es etwa jeder dritte, Anfang der 1990er Jahre etwa jeder fünfte.
Seit zirka 20 Jahren schwankt der Anteil ungefähr um den Bereich zehn bis 15 Prozent der Weltbevölkerung. Zu berücksichtigen ist bei diesen Zahlen der gleichzeitige immense Anstieg der Weltbevölkerung, die innerhalb der erwähnten 80 Jahre etwa um den Faktor 3,5 anwuchs. Und: Prognosen der World Obesity Federation zufolge sind 2025 bereits 17 Prozent der Bevölkerung weltweit fettleibig, Tendenz steigend.
Kein Aufschrei. Eigentlich sollte Hunger laut internationalen Übereinkommen oberste politische Priorität genießen. Doch das Gegenteil ist der Fall. US-Präsident Donald Trump macht es vor und andere, wie der argentinische Präsident Javier Milei folgen seinem Beispiel. Sie kündigten den Austritt ihrer Länder aus der Weltgesundheitsorganisation an, Gelder für humanitäre Hilfe werden weniger.
Aktuell fehlt der politische Motor, das Problem Welthunger mit entschiedener Kraft in Angriff zu nehmen. Es gibt keine klare Gesamtstrategie und niemand aus den Reihen der Machthabenden fühlt sich konkret verpflichtet das Problem anzugehen. Und auch vonseiten der Zivilgesellschaften fehlt es an politischem Druck und Aktivitäten, die über Spenden hinausgehen.
Der Schriftsteller Ilija Trojanow hat das mit deutlichen Worten zum Ausdruck gebracht: „Wenn unzählige Menschen, egal wo, von einem vermeidbaren Tod bedroht sind, müsste man einen öffentlichen Aufschrei erwarten, Demonstrationen auf den Straßen, Aufrufe von Intellektuellen. […] Eigentlich wäre diese drohende Katastrophe eine existenzielle Herausforderung, um mit universellem Anspruch die Anliegen von Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle auf eine verbindliche Basis zu stellen. Stattdessen: Schweigen. Keine der Stimmen, die sich sonst zu allem und jedem äußern, meldet sich zu diesem Thema zu Wort. Wie kann das sein?“
Ladislaus Ludescher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Franfurt am Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die deutsch-amerikanischen Literatur- und Kulturbeziehungen sowie insbesondere die in- und ausländische Medienanalyse.
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Eine umfassende Studie von Ladislaus Ludescher zur Marginalisierung des Themas Hunger in den Medien erscheint Mitte des Jahres im Verlag der Universitätsbibliothek Heidelberg. Sie wird in digitaler Form kostenlos auf der Website ivr-heidelberg.de zum Einsehen und Herunterladen bereitgestellt. Bereits jetzt finden sich dort zahlreiche weitere Untersuchungen zur Vernachlässigung des Globalen Südens in den Medien, darunter auch eine Analyse der ZIB 1 im ORF.