„Wir wollen nicht auf Netflix angewiesen sein“

Von Christine Tragler · ·
Von Drehbuch und Schauspiel bis hin zu Kameraführung und Marketing: Joana Adewsuwa Reiterer schult Filmschaffende in Nigeria. © Bold with Jo

Die österreichisch-nigerianische Filmemacherin Joana Adesuwa Reiterer setzt auf die heilende Kraft des Erzählens. Mit ihrem neuen Videoprojekt macht sie afrikanische Perspektiven sichtbar – als Gegenentwurf zu kolonialen Erzählungen und als Archiv für die Zukunft.

In Ihrem neuen Projekt Bold with Jo bestärken Sie afrikanische Kreative darin, ihre eigenen Geschichten zu entwickeln. Wie kam es zu dieser Idee?

Es hat sehr früh begonnen. Schon in meiner Kindheit in Nigeria schrieb ich ständig Geschichten über das, was um mich herum geschah. In schwierigen Zeiten las ich sie wieder, um zu verstehen, wie ich hierhergekommen bin. Später, in Österreich, habe ich meine teils schmerzhaften Erfahrungen in zwei Büchern verarbeitet: „Die Wassergöttin“ und „Hexenkind“. Zudem arbeitete ich viele Jahre mit vom Menschenhandel betroffenen Frauen, die mir ihre Geschichten anvertrauten.

Aus dieser Arbeit entstand der Kurzspielfilm „A Place of Peace“, der auch politische Auswirkungen hatte. Wir konnten damit einen Präzedenzfall in Österreich schaffen: Eine Frau aus Nigeria, Opfer von Menschenhandel, wurde zum ersten Mal offiziell als schutzberechtigt anerkannt. Das war ein kraftvoller Moment – und hat mir gezeigt, dass Geschichten nicht nur heilen, sondern auch gesellschaftlich und politisch etwas verändern können.

Welche neuen Perspektiven eröffnen die Filme, die im Rahmen des Projekts entstehen?

Wir legen den Fokus auf die afrikanische Perspektive – und darauf, was vor dem transatlantischen Sklav:innenhandel da war. Hier ist bedeutungsvolles Wissen bewusst ausgelöscht worden. Wenn da „nichts“ gewesen wäre, warum hätte man es sonst zerstören wollen? Ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen, dass wir Afrikaner:innen nicht genug sind. Dass wir nur dann zählen, wenn wir von weißen Menschen Wertschätzung erfahren. Das ist im Grunde ein Menschheitsverbrechen.

Sie sind zwischen Afrika und Europa sozialisiert worden. Warum ist es auch für Europa wichtig, in afrikanisches Storytelling zu investieren?

Die Weltgeschichte ist unvollständig, solange die afrikanische Geschichte nur bruchstückhaft und von außen erzählt wird. Alle Menschen wollen, dass ihre Stimme gehört wird – nicht nur im politischen Sinn, sondern ganz einfach als Mensch. Es geht um die Frage: Zählt meine Erfahrung, meine Wahrnehmung, meine Perspektive auf die Welt? Ist sie Teil eines globalen Verständnisses? Geschichten zu erzählen ist also essenziell. Es ist tief in uns Menschen verankert. Wenn wir unsere Zukunft auf einer lückenhaften Geschichte aufbauen, dann festigen wir weiter Strukturen der Ungleichheit.

Ein Beispiel, bitte.

In einem unserer Videoformate beleuchten wir historische Ereignisse aus afrikanischer Sicht. Die erste Doku dreht sich um die britische Invasion des Benin-Imperiums. Meist wird nur erzählt, dass die berühmten Benin-Bronzen gestohlen wurden. Aber unsere Recherchen haben gezeigt, dass es dort hochentwickelte wirtschaftliche Strukturen gab – insbesondere eine ausgeklügelte Palmölproduktion. Während der industriellen Revolution wurde Palmöl vor allem als kostengünstiger und effizienter Ersatz für tierische Fette und Öle in verschiedenen industriellen Prozessen eingesetzt – etwa in der Produktion von Weißblech oder in der Herstellung von Seifen und Kerzen sowie als Schmiermittel für Maschinen in europäischen Kriegen. Palmöl war also viel mehr als eine Zutat afrikanischer Küchen. Diese Zusammenhänge zeigen, wie sehr wir alle miteinander verbunden sind – und wie sehr es unsere gemeinsame Verantwortung ist, diese Geschichten sichtbar zu machen.

Wie groß ist denn die inhaltliche Bandbreite von Bold with Jo?

Groß. Die gerade erwähnte Dokureihe „Custodians of the Red Gold“ ist ein Format von vielen. Ein anderes ist die Gesprächsreihe mit afrikanischen Expert:innen zu aktuellen globalen Themen. Zudem produzieren wir die wöchentliche Serie „Untold“ mit kurzen Episoden zu in Vergessenheit geratenen Mythen und Legenden sowie das fiktionale Format „Ezuzu“, in dem es um Spiritualität und das Verhältnis zur Natur geht. Darin werden Themen angesprochen, die in vielen afrikanischen Gesellschaften durch die Verbreitung von Christentum und Islam verdrängt oder sogar dämonisiert wurden. Wir versuchen damit also eine Rehabilitierung traditioneller Wissenssysteme. Und: Unsere Reihe mit dem Namen „Hex“ sammelt afrofuturistische Perspektiven für zukünftige Welten.

Wie verbinden Sie im Team traditionelle Erzählformen mit neuen Plattformen und Technologien?

Wir erzählen unsere Geschichten auf verschiedene Weisen – mit Dokus und Spielfilmen holen wir sie in die Gegenwart. Wir betreiben dabei gewissermaßen „Leapfrogging“, also wir überspringen ganze Technologien wie VHS, DVDs, sogar das klassische Kino, wenn es um die Verbreitung unserer Inhalte geht. Stattdessen setzen wir auf digitale Medien, weil sie zugänglicher sind.

Ein großer Vorteil ist, dass wir bereits viel Zeit in den Aufbau unserer eigenen Plattform investiert haben. Denn ein zentraler Punkt ist Ownership, also Besitz. Wir müssen als Afrikaner:innen auch Plattformen besitzen. Es kann nicht sein, dass alle wichtigen Ressourcen – geistiges Eigentum sowie Verbreitungskanäle – ausgelagert sind. Wir wollen nicht auf Netflix oder Disney angewiesen sein.

Wie machen Sie das?

Zum Glück ist es heute einfacher geworden, eigene Plattformen aufzubauen. Wir kombinieren sie mit offenen Systemen und versuchen, daraus eine Art digitale Bibliothek afrikanischer Geschichten zu schaffen. Ein Beispiel: Bis vor zehn Jahre war das Fach Geschichte gar nicht Teil des Schulcurriculums in Nigeria. Unsere Geschichte wurde nicht unterrichtet. Das hat sich inzwischen geändert, aber es fehlt an ausgebildetem Lehrpersonal. Unser Ziel ist es daher, mit moderner Technologie ein möglichst vielen zugängliches, leicht verständliches und dennoch tiefgehendes Archiv afrikanischer Geschichte und Kultur zu schaffen – von uns selbst erzählt.

Und wie sieht es mit der Finanzierung aus?

Wir finanzieren uns zum einen durch meine Ersparnisse und zum anderen durch Crowdfunding. Aktuell haben wir eine Spendenkampagne ins Leben gerufen und brauchen dringend Unterstützung. Jede Spende ermöglicht Stipendien, Ausrüstung und kreative Projekte für junge afrikanische Filmschaffende.

Interview: Christine Tragler

Joana Adesuwa Reiterer ist eine in Nigeria geborene österreichische Unternehmerin, Filmemacherin und Aktivistin. Sie begann ihre Reise in Nollywood mit 16 Jahren und gründete 2006 den Verein Exit in Österreich, der sich für nigerianische Überlebende des Menschenhandels einsetzt. 2016 startete sie zudem das Netzwerk und Modelabel Joadre, um die finanzielle Unabhängigkeit nigerianischer Schneiderinnen zu stärken. Für ihr Engagement erhielt sie bereits zahlreiche Preise.

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