Hätte, hätte Pflegekette

Von Barbara Ottawa · · 2025/Sep-Okt
Porträt einer alten Frau.
© Laura Zalenga


Die sogenannte Global Care Chain reißt vor allem Frauen aus den unterschiedlichsten Ländern aus ihren Familien – dorthin, wo alternde Gesellschaften Betreuung brauchen. Die entstehenden Lücken sind nur schwer zu füllen.

Pflege kennt keine Grenzen. Wie viele Frauen jedes Jahr aus Ländern wie den Philippinen, Rumänien oder Nigeria nach Europa, in die USA oder nach Japan kommen, um ältere, pflegebedürftige Menschen zu betreuen, weiß niemand genau. Die Global Care Chain, also die globale Betreuungskette, ist zwar ein weltweites Phänomen, aber Zahlen, Studien und Analysen liegen – wenn überhaupt – nur für einzelne Länder bzw. Staatengemeinschaften vor. Von einer globalen politischen Strategie oder sozialen Überlegungen zum Thema kann schon gar keine Rede sein.

Selbst in den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) taucht Pflege nur als Randnotiz auf – eingebettet in das breit gefasste Ziel 3 „Gesundheit und Wohlergehen“. Die Bedeutung der Pflegearbeit, ihre globale Verflechtung und die sozialen Folgen scheint politisch kaum jemanden zu interessieren.

Was wir wissen: Viele Regierungen werben mehr oder weniger ausgebildete Pflegekräfte aus dem Ausland an. Sie gelten als Schlüsselkräfte für alternde Demografien und sind oft von restriktiven Einwanderungsgesetzen ausgenommen. Das heißt aber nicht, dass sie im Land dann besonders gut bezahlt oder sozial abgesichert sind.

In österreichischen Krankenhäusern etwa sind philippinischen Krankenpflegerinnen längst selbstverständlich – sie helfen, Gesundheitssysteme am Laufen zu halten. Und 24-Stunden-Betreuerinnen aus Osteuropa sind aus dem Alltag vieler Familien kaum mehr wegzudenken. Über eine von ihnen, die 50-jährige Rumänin Sadina Lungu, hat der österreichische Regisseur Harald Friedl im vergangenen Jahr einen Film gedreht. Ihre Geschichte steht exemplarisch für geschätzt 62.000 Osteuropäer:innen, die in Österreich Pflege leisten.

Ungleich verteilt. Auf Pflegemigration setzen auch Länder wie Kanada, USA, andere EU-Länder, Großbritannien, aber auch Japan – eben jene Staaten, in denen der Anteil der Pflegebedürftigen stark ansteigt.

Einige Zahlen: In Großbritannien sind die über 80-Jährigen jene Bevölkerungsgruppe, die am schnellsten wächst. Sie macht jetzt einen Anteil von nicht ganz fünf Prozent aus und wird sich laut Prognosen bis 2060 verdoppeln. In der EU sind bereits etwa sieben Prozent aller Menschen 80 Jahre alt oder älter. Hier wird eine Verdoppelung bis 2100 angenommen. In Japan hat diese Bevölkerungsgruppe jüngst die 10-Prozent-Anteilsgrenze überschritten – ein Rekord.

Natürlich sind nicht alle Menschen in dieser Altersschicht Betreuungsfälle, aber die Wahrscheinlichkeit nimmt mit jedem Lebensjahr deutlich zu.

Am anderen Ende des Spektrums: die Philippinen mit nur 0,1 Prozent über 80-Jährigen, Kolumbien mit 0,5 Prozent oder Tunesien mit knapp über einem Prozent.

Globaler Markt. Aus den beiden letztgenannten Ländern rekrutiert vor allem Österreich gegenwärtig ausgebildete Pflegekräfte. Allerdings will zum Beispiel die Stadt Graz in Zukunft willige Helfer:innen selbst ausbilden. Angesprochen sollen dabei z. B. Berufsumsteigende oder beim AMS-Gemeldete werden.

Woher die Pflegekräfte in unterschiedlichen Regionen angeworben werden, lässt sich teilweise durch ehemalige koloniale Strukturen, inklusive Missionstätigkeit und langjährige kirchliche Verbindungen erklären. Andere Zusammenhänge ergeben sich aus bereits bestehenden Gemeinschaften in Ländern, die dann Landsleute nachholen.

In Kanada kommen die meisten Pflegekräfte aus den Philippinen und Sub-Sahara-Afrika. Japan rekrutiert näher vor der Haustür aus Indonesien, Vietnam und ebenfalls den Philippinen. In Großbritannien zeigt sich der Kolonialfaktor an den Herkunftsländern Nigeria, Simbabwe, Indien und Ghana. Die Pflegehilfen aus Rumänien sind nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU weniger geworden.

Insgesamt sind die meisten Pflegehilfen in der EU noch immer aus Osteuropa, vor allem Rumänien, Slowakei, Polen und Ungarn. Während immer mehr junge Menschen aus den ärmeren Teilen Europas in die reicheren Teile des Kontinents ziehen, bleiben die älteren Menschen zurück. Wer kann, leistet sich eine 24-Stunden-Hilfe aus dem eigenen Land, die dann von mehreren Familienmitgliedern bezahlt wird – so geschieht es etwa auf den Philippinen (siehe Interview auf Seite 33).

Fürsorgliche Politik

Fürsorge soll nicht länger ein privates Anliegen sein, sondern ins Zentrum politischer und ökonomischer Debatten gestellt werden – das fordert unter anderem „The Care Manifesto“ (2020). Die Autor:innen des britischen Care Collectives plädieren darin dafür, dass Pflege- und Sorgearbeit nicht weiter stigmatisiert werden darf. „Für uns ist Fürsorge kollektives und relationales Handeln – ein Anerkennen unserer gegenseitigen Abhängigkeit“, heißt es im Manifest, das für eine fürsorgliche Politik, eine grundlegende Veränderung unserer Arbeitsorganisation sowie eine ökologisch verantwortungsvolle Gesellschaft einsteht.

The Care Collective (Hrsg.)
The Care Manifesto:
The Politics of Interdependence

Verso Books, 2020, 128 Seiten, € 11,50

Lückenfüller. Die Rekrutierung ausländischer Pflegekräfte verschiebt nur das Problem, dass Altenpflege in den meisten Ländern ein schlecht bezahlter Job ist, den kaum jemand im eigenen Land machen will. Im Globalen Norden stellt der signifikante Anteil an alten Menschen jedoch eine wichtige Wähler:innenschicht dar. Keine Regierung will diese vernachlässigen. Politiker:innen setzen deshalb auf mehr oder weniger kurzfristige und wahlwirksame Maßnahmen.

In anderen Erdteilen ist – demografisch bedingt – die Altenversorgung noch kaum ein Thema bzw. liegt – wie früher auch im Globalen Norden verbreitet – bei (weiblichen) Familienangehörigen. Aber, was wir in Österreich, Europa und Nordamerika schon seit geraumer Zeit machen, nämlich Betreuungspflichten auslagern, wollen auch viele junge Menschen im Globalen Süden. Doch oft mangelt es an staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Strukturen. Ein Bericht in diesem Dossier beleuchtet exemplarisch die Auswirkungen in Kenia (siehe Seite 36).

Eines ist aber global gesehen allen Ländern gemeinsam: Wirklich langfristige Entscheidungen sind in der Politik selten und das merkt man vor allem im Sozialbereich: Gerade Themen wie Pensionen und Pflege werden oft vertagt, weil anscheinend dringendere Probleme Regierungen beschäftigen oder Budgetlöcher größere Investitionen in die Zukunft verhindern.

© SWM / Our World in Data / Quellen: Rodrigues et al. (2012), UN, World Population Prospects (2024) sowie Südwind Recherche

Kettenreaktion. Andererseits wird das Ausmaß der demografischen Entwicklung, aber auch anderer gesellschaftlicher Veränderungen beinahe überall auf der Welt unterschätzt. Menschen leben länger, wollen so lang wie möglich zu Hause leben, Angehörige wollen die Pflege nicht mehr übernehmen bzw. gibt es im Durchschnitt weniger Familienmitglieder, die sich diese Aufgaben teilen könnten. Dazu kommt noch, dass gerade Altenpflege sehr oft fälschlicherweise als Beruf angesehen wird, der wenig Fähigkeiten und Ausbildung erfordert. Die soziale Anerkennung von Pflegenden ist auch gering, ihre Arbeit wird meist als selbstverständlich angesehen und ist kaum sichtbar.

Sogar die Länder im Norden Europas, die für ihre langfristigen Investitionen in das Sozialsystem bekannt sind, sehen sich seit etwa zehn Jahren mit genau dieser Kombination aus sozialen und demografischen Veränderungen konfrontiert. Bislang konnte der Bedarf an Pflegekräften aus der eigenen Bevölkerung gedeckt werden. Seit rund zehn Jahren suchen auch skandinavische Länder nach Pflegekräften im Ausland.

Und was passiert in ein paar Jahren in jenen Ländern, die derzeit eine sehr junge Bevölkerungsstruktur haben? Noch sind viele Regionen im Globalen Süden von hohen Auswanderungsraten geprägt. Mit zunehmendem Alter überlegen manche, in ihre Heimat zurückzukehren. Das ist kein eindeutiger Trend, sondern hängt von der Migrationserfahrung, der Bindung an den eigenen Herkunftsort und das soziale Umfeld am neuen Wohnort ab. Fakt ist aber, dass einige aus Ländern heimkehren, in denen es ein Pensionssystem gibt. Mit diesem Einkommen nach dem Arbeitsleben gehen sie zurück in das Land ihrer Geburt und pflegen dort noch viel ältere Menschen.

Die Faktenlage zur Global Care Chain ist fragmentiert und sehr lückenhaft. Das Thema politisch unbeliebt, aber die Überalterung lässt sich nicht aufhalten: Seit 2011 gibt es auf der Welt erstmals in der Menschheitsgeschichte mehr Erwachsene über 60 Jahre als Kinder.

Barbara Ottawa ist freie Finanzjournalistin, Nachhaltigkeitsanalystin sowie Lektorin des Südwind-Magazins und lebt in Wien.

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