Alle lieben Haile

Von Peter Böhm · · 2001/04

Der Langstreckenläufer Haile Gebreselassie ist aufgrund seiner Goldmedaille, die er bei den Olympischen Spielen in Sydney gewonnen hat, ein wahrer Volksheld geworden. Ein Portrait von

Es gibt leichtere Aufgaben, als in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba jemanden zu Wnden, der etwas Schlechtes über Haile Gebreselassie sagen kann. Dem Rezeptionisten des Fitnessstudios, in dem der Läufer drei Mal die Woche trainiert, hat er Sportschuhe und Kleider aus Deutschland mitgebracht. ”Er ist ein so netter Kerl“, sagt dieser. Die übergewichtigen Diplomatengattinnen, die in dem Luxushotel trainieren, begrüßt er herzlich mit Handschlag und seinem berühmten Lächeln, das seine weißen Zähne zeigt. ”Er ist ja so ein bescheidener Mensch geblieben“, sagt eine seiner Bewunderinnen.

In der Hotellobby fällt er unter Ausrufen der Freude dem Vizepräsidenten des äthiopischen Sportverbandes in die Arme, steigt anschließend in seinen silbergrauen Mercedes, den er ganz zu Beginn seiner Karriere, als 20-Jähriger in Stuttgart, gewonnen hat und acht Jahre später immer noch fährt, salutiert den Hotelpagen und den nächsten Polizisten auf der Straße, die sich geschmeichelt verbeugen, und hält an einem Café, wo ihm die Besucher diesmal nur mit den Augen ihre Reverenz erweisen.

Braucht Haile – so nennen ihn alle liebevoll hier – keine Leibwächter? Der Hotelwachmann lacht lauthals: ”Unsinn! Er hat in Äthiopien 60 Millionen Leibwächter.“ Es ist nicht zu übersehen, dass Haile Gebreselassie in seinem Heimatland ein Volksheld, und er im Gegenzug das richtige Objekt für diese Verehrung ist.

Er ist bleischwer auf dem Boden geblieben, sagt, er könne sich nicht vorstellen, je in einem anderen Land als Äthiopien zu leben, und dass diese Aufmerksamkeit ”doch etwas sehr Schönes“ ist. Auch wenn bisweilen die Verehrung schon etwas an die des Übernatürlichen erinnert.

Seit seiner zweiten Goldmedaille über 10.000 Meter im vergangenen Sommer hängt in der Stadtmitte von Addis Abeba ein riesiges Werbeplakat seines Sponsors mit seinem Konterfei sowie dem Schriftzug ”Alles ist möglich“. Und nach seiner Rückkehr aus Sydney haben sie nach ihm, dem 28-Jährigen, eine der Hauptachsen der äthiopischen Hauptstadt benannt.

Überhaupt ist es schwer, bei der Schlichtheit und der Zwangsläufigkeit, wie sich alles zum Guten wendet, in der Geschichte seiner Anfänge nicht an eine Heiligenlegende zu denken.

Die Ereignisse liegen über 20 Jahre zurück und sind schon verfilmt worden. Als kleiner Junge rennt er immer die zehn Kilometer zu seiner Dorfschule. Denn wenn er zu spät kommt, bekommt er vom Lehrer Schläge mit einem langen Lineal auf die Hände. Dann rennt er wieder nach Hause. Diesmal aus Angst vor seinem Vater. Für den muss er nämlich Essen aufs Feld bringen, Kühe hüten oder Wasser holen.

Einmal stiehlt er die Batterien aus der Taschenlampe seines Vaters, um heimlich Mirus Yifter, eines seiner großen äthiopischen Vorbilder, 1980 bei seinem Marathon-Olympiasieg im Radio zu verfolgen. Bevor er dann endgültig als 15-Jähriger vor seinem Vater, der aus ihm einen Rechtsanwalt oder Buchhalter machen möchte, zu einem Bruder in die Hauptstadt davonrennt und somit eine Karriere als einer der erfolgreichsten Langstreckenläufer aller Zeiten beginnt.

Und natürlich ist Haile Gebreselassie sehr gläubig. Zwar geht er meist aus Zeitmangel nur einmal im Monat in die Kirche, sagt er. ”Aber manchmal, wenn ich doch Zeit habe, gehe ich schon einmal kurz hinein und bete. Der Glaube ist sehr wichtig. Er kann Berge versetzen.“

Und wie viele Äthiopier spendet auch er einen Teil seines Einkommens an die Orthodoxe Kirche. So weit ist Haile Gebreselassie also der typische Sohn Äthiopiens. Einem Land, das auf BesucherInnen seltsam archaisch wirkt, und das sich nach Kaiserreich und 16 Jahren kommunistischer Herrschaft ja erst Anfang der neunziger Jahre richtig der Welt geöffnet hat.

Im Interview zeigt er sich dann auf einmal doch noch von einer anderen, überraschenden Seite: Haile Gebreselassie, der Unternehmer.

Auch hier vergisst er seine Landsleute nicht. Rund die Hälfte seiner Zeit und seiner Ressourcen verwendet er für gemeinnützige Projekte: Zusammen mit seinem Sponsor und seinem holländischen Manager für das ”Global Adidas Project“, sowie für zwei Schulen in Gebreselassies Heimatstadt Asela, 200 Kilometer südlich von Addis Abeba, in denen die Schüler schon als Kleinkinder mit Computern vertraut gemacht werden. Die Eltern müssen Schulgebühren zahlen, sagt der Läufer, aber sein Gewinn sei trotzdem gleich null. ”Die Schule soll es den Kindern später einfach machen, und sie soll als Vorbild für andere dienen, denn Äthiopien braucht eine neue Elite.“

Vor drei Jahren hat er 35 talentierte 15und 16-Jährige unter seine Fittiche genommen, in der Hoffnung, dass darunter der neue äthiopische Mittel- oder Langstreckenstar sein wird. Gebreselassie zahlt ihnen ein kleines Gehalt, so dass sie sich aufs Training konzentrieren können. Und die Erfolge haben dem Projekt bisher Recht gegeben, glaubt er: ”Wir sind sehr zufrieden. Vier, fünf von ihnen nehmen schon an internationalen Wettbewerben teil. Und sie haben ja auch noch etwas Zeit für die ganz großen Wettkämpfe.“ Auch hier versucht Haile Gebreselassie wieder, wie er sagt, sich selbst zu ersetzen.

Gebreselassie besitzt außerdem ein sechsstöckiges Bürogebäude in der nach ihm benannten Straße in Addis Abeba und baut gerade ein weiteres an der Straße zum Flughafen. Insgesamt beschäftigt er 200 Angestellte, und seine Familie ist natürlich fest in die Betriebsstruktur integriert. Seine Frau Alem zum Beispiel macht die Verwaltung, die Abrechnung und leitet die Büroarbeit, und zwei seiner Brüder sind für die Planung und Bauleitung seiner neuen Bauprojekte verantwortlich.

Dass er nicht der geborene Geschäftsmann ist, war nicht schwer zu erraten. Wenn er über seinen Sport, das Training, dessen Mühen und Freuden spricht, wirkt er selbstsicher und wach, wie jemand, dem keine erdenkliche Frage Angst einflössen könnte. Aber beim Thema Geschäfte ist diese Sicherheit auf einmal weg, und Gebreselassie rutscht unruhig auf seinem Stuhl in seinem Büro im sechsten Stock seines Geschäftshauses herum.

Hier lauern ja auch eine Menge Fallen, zum Beispiel, wenn Gebreselassie über seinen Wunsch spricht, in der Zukunft in die Landwirtschaft zu investieren. ”Mein Vater war Bauer, und ich glaube, ich habe das auch im Blut. Wie man Getreide und Mais anbaut, damit kenne ich mich aus.“

Das Problem in Äthiopien ist nur, dass die Regierung gegen den Willen der Opposition, der Entwicklungshilfe-Geberländer und wohl der großen Mehrheit der Bevölkerung an einer Verfassungsbestimmung festhält, die den Privatbesitz an Land verbietet. ”Wir müssen dieses System ändern“, sagt der Sportler entschieden. ”Man muss Land erwerben können. Vorher investiere ich nicht. Und man muss ja sehen, dass wir einer Menge Leute Anstellung geben würden.“

Einem westlichen Journalisten kann er das erzählen. Aber in Äthiopien hat er sich dazu noch nicht öffentlich geäußert.

Gebreselassie wird in dieser Hallensaison nicht in Europa zu sehen sein. Im November ließ er in einer Schweizer Klinik eine Achillesfersenverletzung operieren, die ihn schon während der Olympiade geplagt hat. Bei den Weltmeisterschaften im August wird er dann wieder über die 10.000 Meter antreten. Aber mittelfristig will er sich auf die Marathon- und die Halbmarathondistanz spezialisieren. Weil diese Strecken bei äthiopischen Sportlern eine große Tradition haben, aber vor allem, weil er mit 28 Jahren schon zu den älteren Jahrgängen in der Leichtathletik zählt. ”Für Leute wie mich, die die 30 vor Augen sehen, hat der Marathon genau den richtigen Rhythmus.“

Vom Weltrekord und der Goldmedaille in diesen Disziplinen spricht er bisher nur sehr vorsichtig: ”Wenn ich gesund bleibe, und alles so läuft, wie ich es plane.“ Aber wer würde daran zweifeln, dass Gebreselassie bald den Marathon-Rekord brechen wird und 2004 in Athen über diese Distanz ganz oben auf dem Treppchen stehen wird? Der liebe Gott bestimmt nicht!

Peter Böhm, ehemaliger Korrespondent der Berliner Tageszeitung ”taz“ unternimmt derzeit eine halbjährige Reise quer durch Afrika.

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