Allende-Aktivist im Interview

Von Erhard Stackl · · 2023/Sep-Okt
Seit 2005 gibt es ein Salvador-Allende-Denkmal im Wiener Donaupark. Es wurde auf Initiative von in Wien lebenden Chilen:innen errichtet. © Werner Lang / imageBROKER / picturedesk.com

Fünfzig Jahre nach seiner Flucht nach Österreich berichtet Carlos Vázquez*, ehemaliger Aktivist der Allende-Regierung, von seinen Erfahrungen 1973.

Wie ist es zu Ihrem Engagement in der Regierung Salvador Allendes (1970–1973) gekommen?

Ich stamme aus der Mittelschicht, aus einer Familie mit sozialem Gewissen. Zunächst war ich Christdemokrat. „Unser“ Präsident Eduardo Frei (regierte 1964 bis 1970, Anm. d. Red.) versprach die Entmachtung der Großgrundbesitzenden und die Verstaatlichung des Kupferbergbaus. Aber es ging wenig voran, die Enttäuschung war groß. Ich erinnerte mich an eine großartige Rede Allendes in unserem kleinen Ort nahe von Santiago und meldete mich bei der örtlichen Organisation der Sozialistischen Partei, um beim Plakatmalen und Zettelverteilen mitzumachen.

Im Oktober 1970 wurde der Sozialist Allende, zuerst als stimmenstärkster von drei Kandidaten in der Volkswahl und dann bei der Stichwahl im Kongress von der Mehrheit der Abgeordneten, auch von jenen der christdemokratischen Partei, zum Präsidenten gewählt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Die einfachen Menschen waren außer sich vor Begeisterung. Die Rechten waren erschüttert. Sie glaubten, dass aus Chile ein zweites Kuba wird. Viele Reiche verließen das Land. Wir, die hinter Allende standen, sahen damals leider nicht die Mächte im Hintergrund: den ausländischen Einfluss und das Militär. Auch alle wichtigen Medien waren gegen die Linken. Das ist bis heute so. Wir hatten nicht die leiseste Ahnung.

Sie wurden, mit nicht einmal 30, als „Interventor“, als staatlicher Zwangsverwalter einer Privatfirma, zu einem wichtigen Funktionär der Linksregierung. Wie kam es dazu?

Noch als Chemiestudent nahm ich einen Job in einem Labor an. Eines Tages wurde ich ins Wirtschaftsministerium gerufen und mit der Leitung einer Firma beauftragt, die spezielle Kunststoffrohre für den Bergbau herstellte. Die achtzig Arbeiter streikten dort gegen die drei Eigentümer, die das Unternehmen in Schwierigkeiten gebracht hatten. Ich übernahm die Aufgabe als Interventor und brachte einen Freund mit, einen guten Buchhalter, der eine totale Überschuldung feststellte. Ich hielt vor den Arbeitern anfeuernde Reden und sprach im Finanzministerium vor, um trotz der Devisennot Dollars zur Beschaffung von Vormaterial – Glasfasergewebe aus Argentinien – zu erhalten. Die Firma überlebte.

Wie reagierten die Eigentümer, die in ihrer Firma plötzlich nichts mehr zu sagen hatten?

Später, nach dem Putsch, fragte die rechte Zeitschrift „Qué pasa“ Unternehmerinnen und Unternehmer nach ihren Erfahrungen mit Interventoren. Einer meiner Eigentümer sagte, dass ich die Firma hervorragend geführt hätte. Allerdings seien dort heimlich Waffen produziert worden.

War da etwas dran?

Ich hatte einen Freund, der eine uralte Pistole besaß, für die es keine Munition mehr gab. Ein Arbeiter hat nach Dienstschluss in der Werkstatt den Lauf angepasst und die Waffe ausprobiert. Anscheinend hat das ein Spitzel bemerkt und stark übertrieben weiter gemeldet.

Insgesamt schlitterte Chile damals in eine enorme Krise, die Inflation betrug 700 Prozent. War daran auch die Regierung schuld?

Transportunternehmen streikten, man fand in den Geschäften kaum Lebensmittel. Alle, die Sachen erzeugt und verkauft haben, waren gegen Allende. Sie wollten ihn weghaben. In meinem Ort gab es eine riesige Hühnerfarm, ihr ganzes Geflügel ist auf dem Schwarzmarkt gelandet. Für solch eine Situation hatte die Regierung keine Lösung. Unter normalen Umständen hätte sie die Preise regulieren können. Aber wie, wenn plötzlich alle Waren verschwinden? Egal, was die Regierung gemacht hätte, der Ausgang wäre immer derselbe gewesen. Ziel der Unternehmerinnen und Unternehmer war es, die Militärs zu überzeugen, dass das Land so nicht regiert werden kann. Aber die Militärs waren traditionell verfassungstreu und haben zunächst gezögert. Diese Mentalität unter Geschäftsleuten ist bis heute unverändert.

Wo waren Sie beim Militärputsch am 11. September 1973?

Auf Flitterwochen in einem Ferienort am Meer. Hochzeiten wurden damals lang vorbereitet, trotz der Krise war am Termin nichts zu ändern. Gott sei Dank. Weil sonst wäre ich tot. Ich hätte in Santiago gekämpft und wäre umgekommen.

Wann ist Ihnen klar geworden, dass Sie Chile verlassen müssen?

Im Fernsehen wurde tagelang die Szene gezeigt, wie zwei Düsenjäger den Präsidentenpalast La Moneda bombardierten. Man sah auch, wie Militärs in Armenviertel eindrangen und viele Menschen mit erhobenen Händen abführten. Und sie sagten: Wer sich uns entgegenstellt, wird streng bestraft. Wir flüchteten in eine ausländische Botschaft. In meinem Wohnort hingen schon Fahndungsplakate mit meinem Bild, das vom Hochzeitsfotografen kam. Mein Leben war in Gefahr.

Wie kam es zur Ausreise nach Österreich?

Zunächst wurde uns Finnland als Asylland angeboten. Das war uns zu kalt. Ich wäre gern nach England gegangen, aber das Flüchtlingshilfswerk UNHCR schlug meiner Frau und mir dann Österreich vor. Von heute aus gesehen war das genau das Richtige für uns, besser geht’s nicht.

Es wird wohl nicht so einfach gewesen sein, Wohnung und Arbeit zu finden?

Ich habe schon als Jugendlicher gearbeitet, später machte ich dann immer etwas mit Chemie. Wir fanden hier schöne Arbeitsmöglichkeiten, alles war gut organisiert. Wir erhielten sogar einen aufmunternden Brief von Bundeskanzler Bruno Kreisky. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich in Österreich ein Außenseiter bin.

Wie beurteilen Sie die Lage in Chile heute?

Die extreme Armut ist geringer geworden. Statt drei großer politischer Blöcke – Rechts, Mitte, Links – gibt es nun viele Parteien mit nur wenigen Prozent an Stimmen. Der linke Präsident Gabriel Boric wird von einigen dieser Gruppen unterstützt, aber nur, wenn er ihre Wünsche erfüllt.

Dass in Chile die Schulen, das Gesundheitssystem und sogar die Pensionen privat sind, beruht auf der unter Pinochet erlassenen Verfassung. Deshalb wollte man sie ändern. Harte Rechte wehrten sich dagegen mit allen Mitteln.

Bei der Formulierung einer neuen Verfassung haben dann ultralinke Gruppen auf einigen Forderungen beharrt, speziell was indigene und sexuelle Minderheiten betrifft, und das ist bei vielen Menschen nicht gut angekommen. Es führte zur Niederlage bei der Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf. Jetzt wird ein neuer Anlauf unternommen. Es besteht die Gefahr, dass die Pinochet-Verfassung noch länger bleibt.

Interview: Erhard Stackl

* Auf Wunsch des Gesprächspartners wurde sein wirklicher Name auf Carlos Vázquez geändert.

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