Argentinien ist anders

Von Yvonne A. Kienesberger · · 2011/11

Der Tod von Ex-Präsident Néstor Kirchner vor einem Jahr machte den Plan des illustren Ehepaares zunichte, sich gegenseitig im höchsten Staatsamt abzulösen. Am 23. Oktober stellt sich Gattin Cristina Fernández de Kirchner neuerlich der Präsidentenwahl – und wird sehr wahrscheinlich gewinnen.

Es ist früher Morgen am 27. Oktober 2010, Tag der Volkszählung und damit ein von der argentinischen Regierung ausgerufener Feiertag. Ich sitze im Kaffeehaus am Bahnhof von Córdoba und warte auf meinen Bus nach Buenos Aires. Plötzlich geht ein Raunen durch die Menge und die Kellner stellen die Fernseher lauter. „In fünf Minuten Sondermeldung“, steht da in roten Buchstaben, dazu wird dramatische Musik gespielt. Wir starren gespannt auf die Bildschirme, bis wir schließlich die Nachricht erhalten: Néstor Kirchner, der Altpräsident und Ehemann der aktuellen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, ist über Nacht verstorben. Stille im Kaffeehaus. Allen steht die Betroffenheit ins Gesicht geschrieben. Eine alte Dame kommt an meinen Tisch und fragt völlig erschüttert: „Fräulein, glauben Sie, dass das wirklich stimmt?“ Ja, Néstor Kirchner war kurz zuvor an einem Herz-Atemstillstand gestorben – und wurde gleichzeitig unsterblich.

Argentinien ist anders. Auch was das politische System angeht. Wie man es als EuropäerIn gewohnt ist, sucht man zunächst nach klar definierten Parteistrukturen, Ausrichtungen, Konzepten – vergebens. Die beiden Hauptrichtungen Unión Cívica Radical (UCR) und Partido Justicialista (PJ, eine Partei der peronistischen Strömung, der auch die Präsidentin angehört), haben sich im Laufe der Zeit in so viele Untergruppen aufgespalten, dass man völlig den Überblick verlieren kann. Gewählt werden auch keine Parteien mehr, sondern Wahlbündnisse, die aus den unterschiedlichsten Richtungen zusammengestellt sein können.

So trat Cristina Fernández de Kirchner bei der letzten Präsidentenwahl mit Julio Cobos im Bündnis an, einem Führer der Opposition. Taktisch klug, weil man damit beide Wählergruppen erreicht. Schlecht allerdings dann, wenn man gewählt wird und als Präsidentin auch einmal das Land verlassen muss, weil man auf Dienstreise geht. Da kann es dann vorkommen, dass einem der eigene Vizepräsident – in dieser Zeit amtlicher Stellvertreter mit allen Befugnissen – schon abgesegnete Dekrete einfach wieder zurücknimmt oder zumindest blockiert.

Solche Präsidialdekrete sind etwas sehr Praktisches, wenn die Opposition im Kongress die Überhand gewinnt. Damit lässt es sich nämlich über die Köpfe der Abgeordneten hinweg regieren. Was die Präsidentin auch schon einmal gründlich ins Fettnäpfchen treten ließ. Sie verabschiedete Anfang 2008 eine Verordnung, die hohe Exportsteuern auf landwirtschaftliche Produkte vorsah. Das war „gut gemeint“: Sie wollte damit für ein ausreichendes Nahrungsmittelangebot (und niedrige Preise) im Land sorgen. Kirchner hatte allerdings nicht mit der starken Landwirtschaftslobby gerechnet, die daraufhin zum Streik aufrief, Straßensperren errichtete und einfach nicht mehr lieferte – und das monatelang. Das Land war im Chaos, das Dekret musste zunächst abgeändert, dann zurückgezogen werden, die Präsidentin verlor an Ansehen, ihre Partei bei der darauffolgenden Kongresswahl an Stimmen.

„Gut gemeint“ ist manchmal eben nicht gut genug. Vor allem nicht, wenn es um Markteingriffe geht, die der Wirtschaft zwar kurzfristig helfen, auf Dauer gesehen aber mehr Schaden anrichten könnten als Nutzen. Ein Beispiel dafür ist das Niedrighalten des Fleischpreises, das vor allem dazu dient, den typischen Argentinier, der durchschnittlich um die 75kg Fleisch im Jahr isst, bei Laune zu halten. Die Kosten für die ProduzentInnen steigen allerdings weiterhin. Viele Anbieter können das nicht überleben. Das Angebot wird knapp, die Preise werden steigen müssen.

Ein weiteres Beispiel: Durch hohe Importzölle auf elektronische Highend-Produkte fördert man kurzfristig die heimische Industrie, behindert gleichzeitig aber massiv die vorher mit Subventionen ins Land geholten Technologie- und Softwareunternehmen. Diese könnten wieder abwandern und mit ihnen das Know-How, langfristig wird die heimische Industrie also leiden. Auf „gut argentinisch“ flickt man mit dünnem Draht die Stellen, an denen es gerade hapert. Langfristig wird dieser Draht aber wahrscheinlich nicht halten, was Kirchners Wirtschaftspolitik verspricht. Übrigens tritt sie dieses Mal mit ihrem derzeitigen Wirtschaftsminister Amado Boudou im Bündnis zur Wahl an.

Die Sozialpolitik der Präsidentin scheint hingegen nichts zu wünschen übrig zu lassen. „Freies Sport-Fernsehen für alle“, „Fleisch und Milch für alle“ zu billigeren Preisen, ein Laptop (aus heimischer Produktion) für jedes Schulkind einer staatlichen Schule, Pensionen für Hausfrauen, Kindergeld für Arbeitslose, eine kostenlose Gesundheitsersorgung für alle und staatlich geförderter Wohnungsbau, das sind nur einige der von Kirchner lancierten oder weiterhin geförderten Projekte. Der Angestellte im kleinen Kiosk ums Eck ist begeistert: „Europa steht heute schlechter da als wir. Das haben wir alleine unserer Präsidentin zu verdanken!“ Doch, etwas wünscht man sich dann schon: Die Antwort auf die Frage, wie und wie lange dieses System denn finanziert werden kann …

„Die Wirklichkeit ist nicht die alleinige Wahrheit“, beschreibt der Autor Tomas E. Martínez in einem seiner Essays Argentinien sehr treffend. Die Wirtschaft scheint auf eine neue Krise zuzusteuern, die Inflation steigt. Ein Unternehmer sagt mir in einem Gespräch seufzend: „Die Menschen bringen ihr Geld außer Landes oder legen es in Dollar an, sie haben kein Vertrauen in die Wirtschaftspolitik dieser Regierung – aber sie werden die Präsidentin wiederwählen!“

Das ist eben Argentinien. Das kann man rational nicht erklären. Hier werden keine Parteien gewählt, keine Zukunftskonzepte, hier wählen Menschen Menschen. Das argentinische Volk agiert gefühlsbetont, voller Emotion und Leidenschaft. Ich wurde davon im (argentinischen) Frühling 2010 Zeugin. Néstor Kirchner wird im Präsidentenpalast, der Casa Rosa in Buenos Aires, aufgebahrt. Tag und Nacht stehen die Menschen über Häuserblocks hinweg Schlange, um sich von ihm zu verabschieden. Aber sie kommen auch, um ihrer Präsidentin Kraft zu wünschen: „Fuerza, Cristina! Das Volk ist mit dir!“

Wählen ist in Argentinien Pflicht. War man wählen, erhält man einen Stempel im amtlichen Dokument. Kann man nicht wählen, weil man sich zu weit weg vom zuständigen Wahlsprengel befindet (Argentinien ist groß und eine Briefwahl gibt es nicht), dann sollte man sich eine dementsprechende Bestätigung bei einer Polizeidienststelle holen. Ein Stempel ist immer gut und hilft beim nächsten Behördengang, beim Ansuchen um einen Pass etwa.

Der Samstagabend vor der Wahl wird eher langweilig ausfallen. Kinos, Theater, Discos und Bars bleiben geschlossen. So richtig ausschlafen muss man sich für den Wahlgang allerdings nicht. Das System ist so altmodisch wie einfach: In den Wahlkabinen liegen von jedem Wahlbündnis Zettel auf, auf denen die Kandidaten mit Namen und Bild aufscheinen. Man wählt den entsprechenden Zettel aus und steckt ihn in die Urne. Das ist alles. Eine neue Wahlordnung, die einen einzigen Wahlzettel vorsieht, auf der man seine Kandidaten durch Ankreuzen wählen kann und der schon dieses Mal hätte Anwendung finden sollen, wird nun doch erst mit der nächsten Wahl in Kraft treten.

Umfragen sehen Cristina Kirchner mit weit über 40% als Gewinnerin der Wahl. Daran werden auch Gerüchte, dass sie gerade in Paris Schuhe für Tausende Euro einkaufte, nichts ändern. In einem Interview mit Oliver Stone 2009 für den Dokumentarfilm „South of the border“ antwortete sie auf eine Frage nach ihrer schicken Kleidung eher genervt: „Warum werden das eigentlich immer nur Frauen gefragt? Niemand interessiert sich dafür, was ein männlicher Politiker trägt!“ Sie gilt als schroffe und etwas herrische Amtsinhaberin. Aber das muss man bestimmt auch sein als erste Frau, die im 200 Jahre alten Argentinien zur Präsidentin gewählt wurde. (Anm.: Peróns Ehefrau Isabel Martínez war nach dem Tod ihres Mannes eingesetzt und nicht gewählt worden.)

Gewählt wird am 23. Oktober, fast genau ein Jahr nach dem Ableben Néstor Kirchners. Man wird sehen, dass auch er in den Gedanken der Menschen noch nicht wirklich begraben wurde, denn mit Sicherheit wird es danach heißen: Cristina Fernández de Kirchner ist die neue alte Präsidentin, und das Leben in Argentinien wird weitergehen wie bisher – trotz oder wegen ihrer Wiederwahl …

Die österreichische Autorin und Journalistin Yvonne A. Kienesberger lebte zuerst zwei Jahre in Ushuaia, im äußersten Süden Argentiniens, und zog dann in das größere und wärmere Córdoba im Norden des Landes.

Interessante Links zur weiteren Information: www.argentinaelections.com www.elhistoriador.com.ar www.congreso.gov.ar www.cristina.com.ar

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