Argentiniens Kampf mit der Inflation

Von Jürgen Vogt · · 2023/Jul-Aug
© Thomas Kussin (Foto: Beatrice Murch)

Die Preisspirale in Argentinien dreht sich immer schneller. Wie es dazu kam und wie es sich damit lebt.

Juan Maestro ist mittlerweile Einkaufsexperte: „Ich kaufe nur noch beim Großhändler“, sagt der Programmierer, der bei einer Softwarefirma arbeitet. „Dort kann jeder hin und alles ist mindestens 100 Pesos billiger als im normalen Supermarkt.“ Allerdings muss er von jedem Artikel mindestens drei Stück kaufen, um in den Genuss des Preisvorteils zu kommen. „Wenn man keine Familie hat, braucht man vielleicht nicht gleich drei Flaschen Geschirrspülmittel“, sagt der Vater einer vierköpfigen Familie, die in Buenos Aires lebt. Aber er kennt viele Leute, die einen gemeinsamen Großeinkauf über Whatsapp organisieren.

In Österreich wird für das gesamte Jahr 2023 eine Preissteigerungsrate von 7,1 Prozent erwartet, wie die EU-Kommission Mitte Mai mitteilte. In Argentinien rechnet man inzwischen mit einem Anstieg von weit mehr als 100 Prozent.

Die Inflation gehört für die 46 Millionen Argentinier:innen zum Alltagsleben – seit Jahrzehnten (siehe Geschichte einer Misere).

Im Jahr 2019 lag die Inflationsrate bei über 50 Prozent. Doch seit sich 2022 der Preisanstieg beschleunigt hat, kommen selbst die inflationserfahrenen Argentinier:innen ins Schwitzen.

Allein innerhalb des Monats Mai sind die nominellen Preise im Vergleich zum Vormonat um 7,8 Prozent gestiegen, wie die nationale Statistikbehörde Indec bekannt gab. Im April betrug die Rate 8,4 Prozent, das war der höchste Preisanstieg innerhalb eines einzigen Monats seit 32 Jahren.

Zahlenchaos im Supermarkt. Manchmal sei Einkaufen im Supermarkt billiger, weil über die Finanzinstitute Rabatte angeboten werden, wenn man über sie und nicht bar bezahlt. „Das ist auch so eine Wissenschaft“, erklärt Maestro. Zwölf verschiedene Apps habe er inzwischen auf seinem Handy. „Für jeden Tag und jeden Supermarkt die richtige Rabatt-App“, sagt er lachend.

Jeden Sonntagabend studiert er die Sonderangebote für die kommende Woche auf der Website des Großhändlers. „Bis vor ein paar Monaten waren alle Produkte mit Preisen versehen, was bei Sonderangeboten ja nur logisch ist“, meint er, aber jetzt stünden auf vielen Produkten statt des Preises nur noch „15 Prozent Rabatt“ oder „3 zum Preis von 2“. „Die wissen selbst nicht mehr, mit welchen Preisen sie werben sollen“, sagt er. Wenn er jetzt vor den Regalen stehe, sei ihm oft unklar, ob das Produkt noch günstig zu haben ist. In der Woche zuvor hatte es noch 100 oder 200 Pesos weniger gekostet.

Und: Man verliere völlig das Gefühl für Preise. Das Marktforschungsinstitut Focus Market hat das kürzlich eindrucksvoll unterstrichen, indem es einen Supermarkt-Verkaufsflyer aus dem Jahr 2007 mit einem aktuellen verglichen hat. Steht zum Beispiel auf dem Flyer von 2007 neben einem Kilo Rindersteak der Preis von 7,99 Pesos, prangt auf dem aktuellen ein Preis von 1.820 Pesos, was in der dritten Maiwoche umgerechnet knapp über sieben Euro entsprach.

Immer mehr Armut. Zu Beginn des Jahres lag die offizielle Zahl der Armen bei 18,6 Millionen, was knapp 40 Prozent der Bevölkerung entspricht. In Argentinien gilt eine Person als arm, wenn ihr Einkommen unter dem Wert eines Basiswarenkorbs liegt, der am Bedarf an Nahrungsmitteln und anderen Gütern berechnet wird, die als lebensnotwendig angesehen werden. Im Mai meldete die Statistikbehörde Indec, dass die Armutsgrenze einer vierköpfigen Familie bei rund 203.000 Pesos lag. Im Dezember des Vorjahres waren es rund 155.000 Pesos.

Argentinien

Hauptstadt: Buenos Aires  

Fläche: 2.780.400 km2 (33 mal so groß wie Österreich)

Einwohner:innen: 46 Millionen  

Human Development Index (HDI): Rang 47 von 191 (Österreich 25)

BIP pro Kopf: 10.636 US-Dollar (2021, Österreich: 53.637 US-Dollar)

Regierungssystem: Präsidentielle Demokratie. Staatsoberhaupt und Regierungschef ist seit Dezember 2019 Alberto Fernández von der Peronistischen Partei.

20 Jahre nach dem Sojaboom und der Bonanza der Rohstoffpreise in den Nullerjahren steht Argentinien sozial so ruiniert da wie zu deren Beginn (vgl. auch hierzu Geschichte einer Misere). Dem damaligen Aufschwung war eine kräftige Abwertung des Peso vorausgegangen. Anfang des Jahres 2002 verlor der Peso drei Viertel seines Wertes gegenüber dem US-Dollar. Die massive Entwertung ließ Millionen Menschen in die Armut abrutschen.

Argentiniens wichtigste Devisenquelle ist seine industrielle Agrarwirtschaft, und als wichtiger Exporteur von Ölsaaten und Getreide hätte das Land von der durch Russlands Angriffskrieg in der Ukraine verursachten Verknappung von Weizen, Mais und Soja auf den Weltmärkten profitieren können.

Doch eine langanhaltende und extreme Dürre verursachte dramatische Ernteverluste von mehr als 20 Millionen Tonnen. Ein Ausfall, den die gestiegenen Weltmarktpreise nicht ausgleichen konnten und der rund 20 Milliarden Dollar weniger Exporterlöse bedeutet. Die ohnehin herrschende Devisenknappheit verschärfte sich weiter.

Verlust der Kaufkraft. Vor allem Personen in regulären Arbeitsverhältnissen, sprich Arbeiter:innen und Angestellte, die zwar über ein regelmäßiges Einkommen verfügen, deren Kaufkraft jedoch immer geringer wird, sind heute vom Abrutschen in die Armut bedroht. Deren monatliches Familieneinkommen pendelt zwischen umgerechnet 350 und 500 Euro. Zu dieser Gruppe gehören rund 20 Prozent der Bevölkerung. Familien mit einem Einkommen zwischen 500 und 1.000 Euro zählen zur noch gesicherten Mittelschicht. Das sind rund 30 Prozent der Bevölkerung.

Der stetige Kaufkraftverlust der Einkommen zeigt sich in den offiziellen Daten der Statistikbehörde Indec von Jänner 2016 bis Juli 2021, wonach die Lohnsteigerungen stets unter der Inflationsrate lagen: Während die Löhne in diesem Zeitraum um sage und schreibe 446,5 Prozent stiegen, lag die Inflation mit 591,6 Prozent deutlich darüber.

Einmal im Monat fährt der Programmierer Maestro zum Mercado Central, dem Großmarkt im Süden der Hauptstadt Buenos Aires. Auch wenn die Preise dort inzwischen im Wochenrhythmus steigen, zahle man dort um ein Drittel weniger als beim Gemüseladen an der Ecke. Meistens geht er jetzt nur noch am Ende des Monats zum Großmarkt. Denn: „Da ist der Andrang nicht so groß, weil viele Leute kein Geld mehr zum Kaufen haben“, meint er.

Essen, das überbleibt: Viele machen sich im Abfall auf dem Mercado Central in Buenos Aires auf die Suche. © Luis Robayo / AFP / picturedesk.com

Notenpresse auf Hochtouren. Für die Mehrheit der argentinischen Wirtschaftsanalyst:innen ist die Hauptursache für die Inflationsmisere das chronische Haushaltsdefizit des Staates. Der Staat am Río de la Plata verfügt schon seit Langem nicht mehr über ausreichende eigene Einnahmen, um es auszugleichen.

Ein nationaler Kreditmarkt ist praktisch nicht vorhanden und ausländische Kredite sind nur zu horrend hohen Zinsen zu bekommen, was dem ohnehin hoch verschuldeten Argentinien den Weg auf den internationalen Kreditmarkt versperrt.

Was bleibt, ist die Notenpresse der Zentralbank, die seit Jahren auf Hochtouren läuft und zum Ausgleich des Haushaltsdefizits eingesetzt wird. Dass diese Maßnahme der stärkste Inflationstreiber sein könnte, wird jedoch von der gegenwärtigen Mitte-links-Regierung von Präsidenten Alberto Fernández kleingeredet. Ihrer Meinung nach sind es vor allem die großen Zwischenhändler und Supermarktketten, die die Preise willkürlich in die Höhe treiben. Deshalb werden seit Jahren Preisstopps ausgehandelt oder einfach von der Regierung angeordnet.

91 Prozent Zinsen. Tatsache ist jedoch, dass die Zentralbank die umlaufende Geldmenge ständig ausweitet. So hat sie im laufenden Jahr bis Mitte Mai bereits eine Summe von 670 Milliarden Peso an die Regierung überwiesen. Während sie so auf der einen Seite das chronische Defizit im Staatshaushalt mit Billionen von Pesos vergrößert, versucht sie auf der anderen Seite, die überbordende Geldmenge mit immer höheren Zinssätzen aufzufangen.

Doch so dem Wertverlust des Pesos zu entgehen, wird immer schwieriger. Wer etwas bei der staatlichen Banco Nacíon 10.000 Peso für ein Jahr fest anlegt, bekommt zwar einen Zinssatz von 91 Prozent, aber bei einer erwarteten Inflationsrate von über 100 Prozent ist selbst das ein Verlustgeschäft.

Leere Automaten. Inzwischen erscheint auf den Displays der Bankomaten wieder immer öfter die Anzeige: „Dieser Automat ist leer.“ Während in Europa die kleinste Banknote der 5-Euro-Schein ist, ist in Argentinien die größte Banknote der 1.000-Peso-Schein, umgerechnet 3,80 Euro. Der 1.000er wurde vor allem deshalb in Umlauf gebracht, weil die Ladekapazitäten der Geldautomaten mit den bis dahin höchsten 100-Peso-Scheinen die Nachfrage der Kund:innen nicht mehr decken konnten.

Im Mai wurde deshalb ein 2.000-Peso-Schein in Umlauf gebracht.

Lange Zeit war der Kauf von langlebigen Konsumgütern eine gängige Strategie, um Geld zu sparen. Aber auch diese Strategie ist immer weniger erfolgreich. Konnte vor zehn Jahren ein preiswerter Kleinwagen noch mit 46.000 Peso gekauft werden, müssen heute etwa 3,5 Millionen Peso hingeblättert werden.

Das „Sparen in Betongold“ ist nur noch für wenige eine Alternative: Weil die Reallöhne seit Jahren sinken, ist der Traum vom eigenen Haus oder der eigenen Wohnung für viele zum Albtraum geworden. Die Faustregel, nach der für den Kauf einer Sechzig-QuadratmeterWohnung 100 Durchschnittslöhne ausreichen, gilt schon lange nicht mehr. Heute bedarf es dazu mindestens 600 Durchschnittslöhne.

Weiter Preisanstiege. Es wird erwartet, dass der Anstieg der nominellen Preise von Monat zu Monat in der nächsten Zeit nicht unter die Acht-Prozent-Marke fallen wird. Zumal die Regierung begonnen hat, die Subventionen für die Gas-, Strom- und Wassertarife zu reduzieren. Sie sind seit 2001 eingefroren bzw. wurden seitdem nur wenig erhöht und sind längst zu einer der größten Belastungen für den jährlichen Staatshaushalt geworden.

Trotz massiver Teuerung: Am Supermarktregal wird mit „fairen“ Preisen geworben. © STRINGER / AFP / picturedesk.com

Höhere Energiekosten etwa werden Geschäfte oder Bäckereien dann wiederum an die Kund:innen weitergeben: „In den kommenden Monaten werden wir weiterhin eine instabile Inflation erleben, die sich in zunehmenden Schritten verfestigen und im Jahr 2023 zu einer Inflation von mehr als 115 Prozent führen wird“, kommentierte das Wirtschaftsforschungsinstitut Ecolatina die angekündigten Tariferhöhungen.

Witze aus der Zeit der Hyperinflation machen bereits die Runde: „Als ich in den Laden ging, kostete der Liter Milch 100 Peso. Als ich ihn aus dem Kühlfach nahm, waren es 150 und an der Kasse habe ich dann 200 Peso bezahlt.“

Ältere Argentinier:innen erinnern sich noch gut an die Jahre 1989 und 1990, als die Inflationsraten in den Tausenderbereich schossen. Um gerade sie zu beruhigen, verkündet die Regierung nun immer öfter einmalige Sonderzahlungen zusätzlich zur gesetzlichen Mindestrente von 165 Euro. Finanziert werden diese über die Notenpresse der Zentralbank.

Potenzial & Wahlen. „Argentinien hat enorme Möglichkeiten in den Bereichen Bergbau, Öl und Gas sowie Agrarindustrie. So sehr, dass wir die jährlichen Exporteinnahmen relativ schnell um 25 Milliarden Dollar steigern könnten“, sagt der argentinische Wirtschaftsanalyst Miguel Kiguel.

Die Steuereinnahmen aus erwarteten Exporterlösen könnten den Staatshaushalt entlasten. Diese Prognose wird in unzähligen Variationen von Analyst:innen und Politiker:innen aus nahezu allen politischen Lagern wie eine Heilsbotschaft für die Zukunft vorgetragen.

Die kommenden Monate scheinen aber auf jeden Fall ernst zu bleiben: Die aktuelle Regierung versucht, ohne einen großen Crash bis zum Ende ihrer Amtszeit im Dezember durchzuhalten. Strukturelle Änderungen werden von ihr nicht mehr erwartet. Zumal in der zweiten Jahreshälfte Präsidentschafts- und Parlaments- sowie in vielen Provinzen und der Hauptstadt Buenos Aires Gouverneurswahlen anstehen.

Jürgen Vogt lebt seit 2005 in Buenos Aires und ist u. a. Korrespondent der deutschen Tageszeitung Taz.

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen