Autor Ilija Trojanow im Gespräch

Von Christina Schröder · · 2022/Nov-Dez
© Alexander Chitsazan

Ilija Trojanow über die Kräfte, die es braucht, um die Ängste vor Utopien zu überwinden bzw. die Vorstellung davon zu stärken.

Sie schreiben aktuell an einem utopischen Roman, der in einem Jahr erscheinen wird. Von welcher Definition von Utopie gehen Sie aus?

Utopien dürfen erst mal nicht verwechselt werden mit Ideologien. Es geht nicht um durchkomponierte Vorstellungen, wie die Welt zu sein hat. Im Gegenteil: Es geht um einen befreiten Raum, in dem alles möglich ist, es geht um Platz für die Fantasien, die aus den eigenen Sehnsüchten entspringen. Es ist ein Fehler, utopische Vorstellungen in der fernen Zukunft zu verankern. Das würde bedeuten, dass der Mensch sich neu erfinden muss. Utopisches Denken entspringt aus dem, was da ist, und bedeutet, immer wieder vom Status quo aufzubrechen.

Gibt es utopische Vorstellungen, die man überall auf der Welt findet?

Sie kreisen beinahe alle um die Achtung der Menschenwürde. Für diese braucht es soziale Gerechtigkeit, individuelle Freiheit, eine gewisse, abgesicherte Grundversorgung, sowie die Gleichstellung aller Geschlechter.

Wie man dahin kommt, wird unterschiedlich gedacht: Durch den Einsatz von technologischen Hilfsmitteln bis zu Konzepten rund um kleindörfliche, kommunale Selbstversorgung. In den wenigsten utopischen Vorstellungen spielen staatlich verordnete moralische oder ethische Regeln eine Rolle. Sie gehen davon aus, dass diese schlicht nicht nötig sind, wenn es allen möglich ist, ein menschenwürdiges, sozial gerechtes Leben zu führen.

Ilija Trojanow ist Schriftsteller, Übersetzer und Verleger. Er hat in Bulgarien, Deutschland, Afrika und Indien gelebt und reisend auf der ganzen Welt über Menschen und ihre Einstellungen zum Leben gelernt. Heute lebt er in Wien und schreibt an einem utopischen Roman, der im Herbst 2023 erscheinen soll.

Welche Vorstellungen, die einst utopische waren, aber verwirklicht wurden, finden Sie beispielgebend?

Beispielsweise der Kampf gegen die Sklaverei, der von den Quäkern, einer kleinen religiösen pazifistischen Gemeinschaft im 18. Jh. in England ausging. Innerhalb von 50 Jahren ist diese Bewegung angewachsen und allem Widerstand der Eliten zum Trotz, die meinten, damit gehe die Wirtschaft unter, wurde die Sklaverei offiziell abgeschafft. Aus dieser Bewegung ist dann der Kampf der Frauen um Gleichberechtigung entstanden, der zum allgemeinen Wahlrecht geführt hat.

Was hindert die Menschen daran, nicht ständig auf die Verwirklichung von Utopien zu drängen, wenn es doch ihre eigenen kollektiven Sehnsüchte sind, die ihnen zugrunde liegen?

Der Konflikt zwischen dem utopischen Denken und dem Verharren im Status quo liegt darin, dass Menschen eine existenzielle Angst vor dem Unbekannten haben und lieber auf Vertrautes, z. B. den Kapitalismus setzen – auch wenn er alles andere als ideal ist – als auf Neues, Unbekanntes; sogar, wenn eine Alternative Besseres verspricht.

© Sigrid Sandmann

Welche Utopien setzen sich denn eher in den Köpfen und Herzen der Menschen fest als andere?

Es braucht die Kraft der emotionalen Verführung, um die Angst vor dem Neuen abzuschwächen. Diese geht im politischen Diskurs unserer Zeit aber unter. Der Egoismus steht im Vordergrund, keiner soll auf etwas verzichten müssen oder wollen. Wir benötigen aber den Willen zum Verzicht, um etwa der Klimakrise wirkungsvoll zu begegnen. Das Konzept ist bei uns durch und durch negativ besetzt, im Unterschied zu naturverbundeneren Gesellschaften, wo es als Respekt und Rücksichtnahme verstanden wird.

Wir müssten uns öfter fragen, wie ein gutes Leben aussehen könnte. Ein besseres als das, was wir in unserem vermeintlichen Wohlstand führen. Die Naturzerstörung und der dabei entstehende Müll sind für uns zu wenig sichtbar. Abfall wird exportiert, etwa in die chilenische Atacama-Wüste, wo unsere Altkleidung landet. Bliebe der Müll hier, würden wir wohl anders konsumieren, aber da fehlt es am politischen Willen, daran etwas zu ändern.

Denken Sie, die Menschen könnten sich von den Vorstellungen verabschieden, die ihnen von Kindesbeinen an eingetrichtert wurden, also z. B., dass der Kapitalismus der einzig gangbare Weg ist, und es dafür mächtige und ordnende Instanzen braucht?

Ich glaube fest daran, dass die Menschen von Natur aus eine solidarische Haltung haben und sich um das Wohlergehen ihrer Artgenossen kümmern. Das wird in Krisen sichtbar, wenn Wesentliches zusammenbricht. In Notsituationen werden die Machtstrukturen plötzlich wirkungslos und die Menschen helfen einander. Ein Albtraum für Politikerinnen und Politiker, weil es für alle anderen die Chance ist zu erkennen, dass wir ihre Herrschaft nicht brauchen.

Und in dem Moment, in dem wir alles verlieren, wird auch der Verzicht weniger relevant. Ich denke, dass Zusammenbrüche gewohnter Strukturen uns irgendwann erkennen lassen, dass andere Formen der gesellschaftlichen Organisation Chancen für ein besseres Leben bergen.

Was können wir denn tun, um das Denken an Utopien zu fördern?

Fantasie ist das Allerwichtigste! Manche Menschen haben Probleme damit, sich diesen hinzugeben, weil man für Tagträume schon als Kind nicht gelobt wurde. Wir werden erzogen, unsere Bedürfnisse durch Konsumgüter zu befriedigen; nicht etwas Neues zu ersinnen. Fantasie und Träumereien sind wie Muskeln. Wir sollten sie trainieren und Kinder darin bestärken. Das würde uns freier machen: von der Gier, die ich für eine Form von Pathologie halten, und frei für den Gewinn neuer Horizonte.

Interview: Christina Schröder

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