Baustelle Marokko

Von Axel Veiel · · 1999/04

Das nordafrikanische Königreich experimentiert mit der Demokratie. Wenn es nach dem sozialistischen Premier und ehemaligen Widerstandskämpfer Youssoufi geht, soll alles anders werden im Land – aber geht es nach dem Premier?

Nichts geht mehr. Eingekeilt zwischen Männern in Kapuzenmänteln und Burschen, deren Turnschuhe und Nylonhosen für Sportartikelfirmen werben, heißt es warten. Irgend etwas muß dem Menschenstrom in die Quere gekommen sein, der sich eben noch den Gassen der Kasbah entgegenwälzte. Ganz Rabat scheint an diesem Abend den Boulevard hinabflanieren zu wollen, der dem Vater des marokkanischen Königs zu Ehren Mohammed der Fünfte heißt. Für gewöhnlich vermögen die Arkadengänge den Andrang zu bewältigen.

Aber es sind keine gewöhnlichen Zeiten in Marokko. Aus Sicht des sozialistischen Premierministers Abderrahman Youssoufi ist das ganze Land eine Baustelle. Alles soll anders werden im Königreich.

Am Vorabend noch war der 74jährige in einem Hinterzimmer des Regierungspalastes gesessen, am Ende eines Konferenztischs, milde lächelnd, die Hände gefaltet. Rosengestecke, lederne Dokumentenmappen und Pfefferminztee verströmen ihren Duft.

Der alte Haudegen aus Tanger, der einst schon den französischen Kolonialherren Widerstand geleistet hatte, wirkte erschöpft. Von der Erblast sprach er, an der er trägt.

Vor einem Jahr hatte er sie geschultert. König Hassan II. war damals zu dem Schluß gelangt, er müsse etwas mehr Demokratie wagen. Der Monarch wußte, daß es in seinem Reiche gärt. Die Verbitterung über Arbeitslosigkeit und Armut, der Zorn über einen durch Unfähigkeit, Willkür und Korruption in Mißkredit gebrachten Staatsapparat, sie drohten sich Bahn zu brechen.

Die Islamisten waren an den Universitäten des Landes zur bestimmenden politischen Kraft aufgerückt. So beschloß der Herrscher, das undankbare Regierungsgeschäft der Opposition anzuvertrauen: nicht irgendwelchen Regimekritikern, sondern einem Mann mit Charisma, integer obendrein, der das ramponierte Ansehen der Politik aufbessern würde, Youssoufi eben.

Jahrzehntelang hatte der Sozialist gegen die Allmacht des marokkanischen Monarchen aufbegehrt, was ihm Folter, Todesurteil, Begnadigung, Gefängnisstrafen und 15 Jahre im Exil eintrug. Nun sollte er eine Chance erhalten. Und der Auserwählte trat an, um sie zu nutzen. Er will dem aufgeblähten öffentlichen Dienst, der mehr als die Hälfte der Staatsausgaben verschlingt, Schlendrian, Selbstherrlichkeit und Korruptionsgelüste austreiben.

Die trotz erster Säuberungsmaßnahmen der Bestechlichkeit geziehene Justiz, in der 113.000 rechtskräftige Urteile einfach nicht vollstreckt werden, soll ehrenhaft und effizient ihren Platz als Dritte Gewalt im Staate einnehmen. Daneben möchte Youssoufi die wachsende Arbeitslosigkeit eindämmen, die in den Städten 26 Prozent erreicht hat, unter jungen AkademikerInnen sogar mehr als 30 Prozent.

Auf der Liste der Reformvorhaben stehen außerdem die Verabschiedung eines Sozialversicherungsrechts, die Regelung der Altersvorsorge und der Kampf gegen die Armut. Den Menschen auf dem Lande will der Sozialist Trinkwasser und Strom bringen, ihnen Straßen und Schulen bauen lassen. Nicht zu vergessen die „mise a niveau“, die Anpassung der Wirtschaft an das EU-Niveau. Bis zum Jahr 2010 sollen zwischen Marokko und der EU sämtliche Handelsbarrieren fallen. Bis dahin muß die Wirtschaft gegenüber der übermächtigen ausländischen Konkurrenz aufholen, soll es nicht zahllose Pleiten und noch mehr Arbeitslose geben.

Wenn es nach dem Premier geht, wird ein neues Marokko entstehen. Aber geht es nach dem Premier?

So vieles im Lande scheint für die Ewigkeit gemacht. Wie eh und je ziehen sich die zinnenbewehrten Festungsmauern um das alte Rabat, so dick und wuchtig, daß ihre hufeisenförmigen Tore mit drei Schritten nicht zu durchmessen sind.

An der nach Hassan II. benannten Avenue drängen sich wie immer ein paar Mädchen durch die Autoschlangen, reiben mit dreckigen Lappen über Windschutzscheiben und bieten den Fahrern saubere Tücher zum Verkauf an. Der Vater der Kinder hat sich hinter Säcken verschanzt, aus denen Sesam, Reis und Hirse quellen, und wartet auf Kunden. Über allem scheint das Minarett der Märtyrermoschee zu wachen, von dem aus der Blick über das Häusermeer der Stadt und den Atlantik schweift.

Allah habe die Armut gewollt, meint der Mann hinter den prallen Säcken. Schon im Koran stehe geschrieben, daß es reiche Herren und Bettler gebe.

Fest steht, daß Youssoufi nicht viel finanziellen und politischen Spielraum hat. Mehr als die Hälfte des Haushalts fließt in den Staatsapparat selbst, ein Drittel verschlingt der Schuldendienst. Die reformerische Freiheit stößt damit schnell an Grenzen.

Kaum minder hinderlich ist, was Youssoufi die „Zentren des Widerstands“ nennt. Fragt man außerhalb des Regierungspalastes, wer sich dem Wandel entgegenstellt, fällt meist der Name Driss Basri. Der Mann, der als Innenminister und Vertrauter seiner Majestät seit 1979 über Geheimdienst, Polizei und Gendarmerie gebietet, soll zumal das ländliche Marokko nach wie vor fest im Griff haben. Noch immer gilt er als der mächtigste Mann gleich nach dem Monarchen selbst.

Der Premier selbst mag keine Namen nennen. Wer bei einem Wandel etwas zu verlieren hat, wer Widerstand leistet? „Alle Marokkaner wissen es, und Sie wissen es auch“, sagt er nur.

Zuviel Veränderung soll es nach dem Willen des Königs und seines Ministers offenbar nicht sein, und zu schnell soll sie nicht vonstatten gehen. So kommt es, daß das neue Marokko bisher vor allem auf dem Reißbrett existiert.

Nur vereinzelt sind bereits im Alltag Spuren des Wandels auszumachen. Wann es auf dem Boulevard Mohammed V. an diesem lauen Frühlingsabend kein Fortkommen mehr gibt, dann auch deshalb, weil die französische Süßwarenkette Glup’s dort im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung Marokkos eine Filiale eröffnet hat. Rosa Golfbälle, gelbe Krokodile, blaue Delphine und anders grelle Kleb- und Zuckerzeug haben einen wahren Begeisterungstaumel ausgelöst. Vor dem brechend vollen Geschäft bilden sich Menschentrauben, die auch ein dem Süßen weniger zugeneigtes Publikum zum Ausharren nötigen.

Ein paar Meter weiter folgt das nächste Verkehrshindernis, das gleichfalls von Öffnung und Wandel kündigt. Ein Mann mit Wollmütze hat einem Patiencespieler gleich unter den Arkaden alles ausgelegt, was die wachsende Pressefreiheit hervorgebracht hat. Mit bis zu acht einander überlappenden Zeitungsstößen ist der Verkäufer allerdings den Tischen des Cafés des Ambassadeurs zu nahe gerückt. Die Furt zwischen dem Sortiment und den Füßen der Teetrinker ist zu schmal, um den Menschenstrom passieren zu lassen.

Eine lebendigere Presselandschaft dürfte in kaum einem anderen arabischen Land anzutreffen sein. Tabus gibt es zwar immer noch. Kritik am König, Zweifel an der Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko oder der Ruf nach einem weltlich ausgerichteten Staat sind untersagt.

Wenn es um die Saharaouis geht, stellt auch Youssoufi das Ideal von der Selbstbestimmung eines Volkes hintenan. Wie alle anderen marokkanischen Politiker spricht er nicht von einer Volksabstimmung, sondern von einer „bestätigenden Volksabstimmung“. Ob für linke, rechte oder königstreue Politiker: Die Westsahara-Frage rührt wie kaum eine andere ans nationale Selbstwertgefühl der MarokkanerInnen. Daß sich die BewohnerInnen der umstrittenen Region für etwas anderes entscheiden könnten als dafür, die Besetzung ihres Landes an den Urnen zu bestätigen, soll wohl nicht einmal gedacht, geschweige denn ausgesprochen werden.

Andere Verbote aber scheinen sich zu lockern, es wird weniger beschönigt, die Achtung vor den Menschenrechten wächst.

„Früher habe ich beim Abschied von zu Hause Frau und Kinder umarmt, als sei es das letzte Mal“, erzählt der Menschenrechtsaktivist Fouad Abdelmoumni. Fünf Jahre seines Lebens hat der 41jährige im Gefängnis zugebracht. Heute kann er davon ausgehen, daß er abends unversehrt heimkehrt.

Der Mann mit der Wollmütze profitiert von der Pressefreiheit bisher allerdings wenig. Obwohl die PassantInnen kaum anders können, als sich auf die Zeitungsstöße vor ihren Füßen zu konzentrieren, läuft der Verkauf schleppend. 56 Prozent der Marokkaner sind Analphabeten.

Das Medium, das letztlich zählt, ist das Fernsehen, das drei Viertel aller Haushalte erreicht: das staatliche, das ob seiner Obrigkeitshörigkeit und Einfallslosigkeit zum Gespött der Intellektuellen geworden ist, und die ausländischen Programme. Zehntausende von Satellitenschüsseln schmücken wie neugierig aufgestellte Mickeymausohren Fensterbretter, Balkons und Dächer.

„Das Experiment mit der Demokratie ist zum Erfolg verdammt“, meint Khalid Jamai, Chefredakteur der Zeitung L’Opinion. Es gebe kein zurück mehr, die Menschen wüßten aus dem Fernsehen, wie schön Demokratie sein könne.

Der Autor ist Nordafrika-Korrespondent mehrerer deutschsprachiger Medien mit Sitz in Madrid.

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