Bolivar, Che und Chávez

Von Dario Azzellini · · 2003/07

In der venezolanischen Hauptstadt ist die Ruhe wieder eingekehrt, das Leben hat sich normalisiert. Und die BewohnerInnen der ärmeren Viertel organisieren sich in einem nie gekannten Ausmaß. Ein Lokalaugenschein von Dario Azzellini.

Auf dem Platz gegenüber dem oppositionell regierten Rathaus von Caracas wurde von den bolivarianischen Basisorganisationen ein „rincón caliente“ ausgerufen, eine „heiße Ecke“. Jeden Tag, von morgens bis abends, stehen hier bis zu 200 Menschen in kleinen Gruppen und diskutieren über Politik und die Situation im Land oder die wichtigsten internationalen Themen. Der Ausdruck „bolivarianisch“ ist derzeit allgegenwärtig in Venezuela; so bezeichnen, nach dem Befreiungshelden Simón Bolivar benannt, Präsident Chávez seine Regierungsideologie und die linken Parteien und Basisinitiativen ihren revolutionären Prozess.
Ana verkauft hier Kaffee aus zwei großen Thermoskannen: Klein, schwarz und süß, so wie ihn die VenezolanerInnen mögen, eine Art Espresso in winzigen Plastikbechern. Ana ist eine robuste Frau Mitte fünfzig mit kurz geschnittenen grauen Haaren. Sie trägt ein Stirnband, das sie als Chávez-Anhängerin identifiziert, und zahlreiche Buttons, die ihre Sympathie für die bolivarianische Revolution und ihre Ablehnung des Irakkriegs veranschaulichen.
Wir kommen schnell ins Gespräch. Sie erzählt, sie sei als Kind mit ihren Eltern aus Spanien nach Venezuela migriert. Doch trotz Armut würde sie um nichts in der Welt nach Spanien zurück wollen. „Hier haben wir wenigstens einen anständigen Präsidenten!“ erklärt sie mit einem Strahlen im Gesicht, „Aznar hingegen ist ein Verbrecher. Spanien hat im April 2002 die Putschisten unterstützt!“

Der gescheiterte Putsch vom April des Vorjahres hat viele Menschen aufgeweckt und einen breiten Organisationsprozess beschleunigt. Viele Gruppierungen sind neu entstanden oder rasend gewachsen. Zu den wichtigsten gehört in diesem Rahmen sicherlich der neue Gewerkschaftsdachverband UNT, der wenige Wochen nach seiner Gründung im April bereits stärker war als die korrupte oppositionelle CTV, die unternehmerfreundliche Gewerkschaftszentrale. Da das venezolanische Modell stark darauf basiert, die Selbstorganisierung zur Basis der Veränderung zu machen, hat dies den Transformationsprozess verstärkt. Die Unterstützung für Chávez und die „bolivarianische Revolution“ scheint trotz wachsender ökonomischer Probleme größer als noch vor einem Jahr.
Ob die Opposition daher überhaupt die laut Gesetz für ein Referendum gegen Chávez notwendigen zwei Millionen Unterschriften zusammen bekommt, ist fraglich. Dass sie eine Mehrheit in einer Volksabstimmung erzielt, noch unwahrscheinlicher. Sie ist durch die Sabotageakte in der Erdölproduktion und die absichtliche Schädigung der Wirtschaft stark diskreditiert. Und nach Bekanntwerden der Verwicklung zahlreicher oppositioneller Militärs in Morde und Bombenanschläge nehmen auch immer mehr Angehörige der Oberschicht Abstand. Viele hatten der Medienpropaganda der vom ultrarechten Medienmogul Gustavo Cisneros kontrollierten großen privaten TV-Sender über ein schnelles Ende der Ära Chávez geglaubt. Eingeschlossen in ihrem luxuriösen Mikrokosmos hatten sie die Unterstützung für Chávez völlig unterschätzt. Mittlerweile organisieren sich auch bedeutende Teile der Mittelschichten in Vereinigungen, die den bolivarianischen Prozess unterstützen – „Clase media en positivo“ nennen sich ihre Zirkel.

Das Fernsehen hämmert dennoch unaufhörlich weiter gegen den Präsidenten und die Regierung. Alle 20 Minuten ist auf den größten privaten Sendern der gleiche Spot zu sehen: Saddam Hussein und ihm zujubelnde Massen. Die US-Truppen marschieren in den Irak ein. Ein Schnitt – und Chávez erscheint, dazu Bilder jubelnder Regierungsanhänger aus unteren Schichten. Noch ein Schnitt und der Schriftzug „Jetzt holen wir dich“.
In Talkshows bezweifeln Psychologen die Zurechnungsfähigkeit des Präsidenten, während gleichzeitig Stars bekannter Telenovelas sich gegen „die Diktatur in Venezuela“ wenden. Argumente werden nicht geboten.
In den Augen der Oberschicht ist Chávez an allem Schuld. In erster Linie natürlich an der schlechten wirtschaftlichen Situation, auch wenn diese vornehmlich durch den Auslandstransfer von über 33 Milliarden Dollar durch oppositionelle Großunternehmer allein von 1998-2002 und durch geschätzte Einnahmeausfälle von sieben Milliarden Dollar durch die Sabotage der Erdölförderung seitens der Opposition verursacht wurde. Doch auch für jede Kleinigkeit liegt die Verantwortung beim Präsidenten.

„So schlimm ist das mit Chávez“, resümiert eine goldbehängte Oberschichts-Venezuelanerin Ende 50 mit einer dicken Make-up-Schicht, als am Flughafen die Klimaanlage nicht funktioniert. Dabei ist die wirkliche Ursache viel einfacher. Venezuela erlebt die schlimmste Dürre der vergangenen Jahrzehnte, das Wasser ist knapp und in öffentlichen Gebäuden wurde daher der Betrieb der Klimaanlagen eingeschränkt, da diese sehr viel Wasser verbrauchen.
Die Wohnviertel und Häuser der Oberschicht vermitteln den Eindruck eines Kriegszustandes. Überall Stacheldraht, Gitter, Kameras und zusätzliche Wachtposten. Straßen sind mit Fässern, die mit Beton ausgegossen wurden, blockiert. Es ist die Angst vor den Armen, die hier grassiert.
Unter ihnen hat Chávez die größte Unterstützung. Sie machen immerhin 80 Prozent der Bevölkerung Venezuelas aus. Ihre Stadtteile ziehen sich die Hänge um Caracas hoch, das in einer Senke liegt und folglich mit unzähligen Wolkenkratzern nur in die Höhe wachsen kann.

Eines dieser Armenviertel der venezolanischen Hauptstadt heißt „23 de enero“, „23. Jänner“. Früher hieß es „2. Dezember“, doch seitdem die Bewohner des Viertels und Militärs am 23.1.1958 die Regierung des Diktators Marco Perez Jiménez stürzten, wechselte der Name.
Im Kern des 1950 entstandenen Viertels stehen einige Neubaukästen rund um einen riesigen Hof: Ein Projekt des französischen Stararchitekten Le Corbusier. Die starke soziale Organisierung hat dazu geführt, dass von diesem Stadtteil aus zahlreiche Proteste gegen mangelnde Wasser- und Stromversorgung und andere Missstände ausgingen. Hier wurden seit 1958 bis zu Chávez‘ Machtübernahme 37 Aktivisten von Polizei, Militär, Geheimpolizei oder Nationalgarde getötet. Und während des 47 Stunden dauernden Putsches vom Vorjahr war das Viertel Ziel von über 600 Hausdurchsuchungen durch die den Putschisten treuen Teile der Geheimpolizei.
Im Laufe der Jahrzehnte ist der „23. Jänner“ über die sechs- bis achtstöckigen Wohnblocks hinaus stark gewachsen, kleine Häuschen wuchern in alle Richtungen, und vor allem im höher gelegenen Teil reihen sich winzige Hütten aneinander, die aus allen erdenklichen Materialien gebaut wurden.

Das zentrale Leben spielt sich jedoch auf dem großen Platz zwischen den Wohnblöcken ab. Zwischen Wandgemälden von Che Guevara, den Zapatisten und Simon Bolivar wird Ball gespielt, Bier getrunken, geplaudert und diskutiert. Imbissbuden und provisorische Autowerkstätten sind hier installiert, und in den garagenartigen Ladenlokalen im Erdgeschoss der Wohnblocks funktionieren kleine Läden und das Lokal der „Coordinadora Simon Bolivar“, der ältesten Basisorganisation des Stadtteils. An der Wand hängt eine große Fahne, auf der der lateinamerikanische Befreier als Teil der Bauernbevölkerung zu sehen ist. „Wir sagen nicht dem Volk, was es machen soll – wir lernen vom Volk“ ist dort zu lesen.
Die Coordinadora unterstützt den Bolivarianischen Prozess und organisiert soziale, politische, sportliche und kulturelle Aktivitäten. Das Verhältnis zu den Regierungsparteien ist gut, doch die Organisation betont ihre Unabhängigkeit: „Uns gab es vor Chávez, und es wird uns nach Chávez geben“, unterstreicht Omar, ein kräftiger Mittvierziger, der ein wenig wie ein Boxer aussieht. Und er berichtet, wie hier während des Putsches gesuchte AktivistInnen und Regierungsmitglieder Unterschlupf fanden und schließlich vom Viertel aus ein unüberschaubarer Menschenstrom zum Präsidentenpalast zog. Im „23 de enero“ wurde Anfang Juni auch die erste von 57 landesweit geplanten „Boticas Populares“ eröffnet, Volksläden, in denen die Armen Venezuelas von Ärzten des kostenlosen öffentlichen Gesundheitssystems verschriebene Arzneimittel mit Ermäßigungen von 85-90 Prozent kaufen können.

Im höher gelegenen Teil des Viertels liegt eine Armeekaserne, die wie eine kleine Festung aussieht. Von hier aus kann man die gesamte Innenstadt überblicken, den Präsidentenpalast und seine Höfe mit eingeschlossen. Daher gingen die meisten Armeerebellionen und Putschversuche der vergangenen 100 Jahre von dieser Kaserne aus, auch der Putschversuch von Hugo Chávez 1992 gegen den heute wegen Korruption angeklagten Carlos Andres Perez.
Vor der Kaserne haben BewohnerInnen des Viertels einen schmalen Streifen begrünt und überschwänglich „Parque Che Guevara“ getauft. Gegenüber ist auf Wandtafeln eine Ausstellung zum Putsch zu sehen.
Ich frage am Kasernentor, ob ich fotografieren darf. Der ranghöchste Kommandant wird geholt und erklärt mir, dass dafür eine Genehmigung des Verteidigungsministeriums notwendig sei, die allerdings innerhalb weniger Stunden ausgestellt werde. Doch es ist schon früher Abend und die Verantwortlichen sind auch telefonisch nicht mehr zu erreichen. Die wachhabenden Soldaten haben sich ebenfalls genähert, reichen mir die Hand und versprechen zum Abschied: „Wir in dieser Kaserne werden niemals zulassen, dass der Prozess rückgängig gemacht wird. Wir stehen auf Seiten des Präsidenten und des Volkes“.

Der Autor lebt als freiberuflicher Journalist in Berlin und bereist häufig Lateinamerika. Soeben ist im Verlag Assoziation A sein Buch „Das Unternehmen Krieg“ (zusammen mit Boris Kanzleiter) erschienen, das das Outsourcing und die Privatisierung von Krieg

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