China Goes West

Von Günter Spreitzhofer · · 2003/07

Chinas Investitionsprogramm für die Westprovinzen lässt neues Öl sprudeln und Minderheiten um ihr kulturelles Überleben fürchten. Die neue Industrialisierungswelle verheißt nichts Gutes für Uiguren und Tibeter.

Bis vor wenigen Jahren unterschied Chongqing wenig von Dutzenden anderen Städten in China. Eine graue Metropole 1500 km westlich von Shanghai mit Zementfabriken und Stahlhütten. Doch seit kurzem ist alles anders. Ein Heer von Kränen überragt eine skurrile Skyline halbfertiger Glaspaläste, und die schmutzigen Ziegelviertel unten am Fluss machen vielspurigen Stadtautobahnen und surrealistisch anmutenden Appartment-Blöcken Platz. Die Stahlskelette der Betonträger für die neue Hochbahn ragen schemenhaft über den diesigen Smog der früheren Kuomintang-Zentrale der 40er Jahre.
Mit der Beschaulichkeit der schwankenden Flussgondeln ist es vorbei, seit High-Speed-Wassertaxis und neue Brücken die einzelnen Stadtteile miteinander verbinden. Die neue Boomtown liegt am Westende des 660 km langen Stausees des „Drei-Schluchten-Kraftwerkes“ am Yangtsekiang. Seit einem Monat wird das Wasser gestaut, und die Stadt wird bald zum größten Binnenhafen der Welt: „In zehn Jahren sind wir so weit wie Shanghai“, ist sich Huang Qifan sicher. Huang, heute Vizebürgermeister von Chongqing, sollte es wissen, war er doch vor seiner Versetzung in den Westen verantwortlich für den rasanten Aufstieg Shanghais zu einer futuristischen Handelsmetropole.

Der Ballungsraum Chongqing ist dreimal so groß wie Belgien, hat 30 Millionen BewohnerInnen, verzeichnet ein jährliches Wirtschaftswachstum von neun Prozent und ist der östliche Eckpfeiler von Pekings ambitiöser „Go-West“-Initiative, die seit März 2000 das wirtschaftspolitische Credo des Riesenreiches bildet: Auf der einen Seite sollen die Vorteile der Globalisierung genutzt, auf der anderen die wachsende Kluft zwischen armen und reichen Provinzen reduziert werden. Der 10. Fünfjahresplan (2001-2005) scheint die Weichenstellung des neuen Jahrtausends widerzuspiegeln: Zentralstaatlich kontrollierte Mittel sollen in das Landesinnere fließen, Investitionsanreize geschaffen und die Verlagerung von rohstoff- und arbeitsintensiven Unternehmen aus der Küstenregion in das Binnenland beschleunigt werden.
„Go West“ betrifft zwölf Provinzen mit einer Gesamtfläche von 6,85 Millionen Quadratkilometern und einer Bevölkerung von 370 Millionen Menschen – fast 30% der chinesischen Gesamtbevölkerung sollen derart mit den Segnungen der ostchinesischen Wirtschaftspolitik beglückt werden. Ganzseitige Zeitungsberichte rufen zur Förderung der „industriell rückständigen“ Provinzen im Westen des Landes auf und preisen die Verdienste der chinesischen Führung bei der „Entwicklung“ dieser Regionen. Mit Konferenzen im In- und Ausland wird um ausländische Investoren für den Rohstoffabbau in Tibet, Xinjiang (Ostturkestan) und anderen Gebieten im Westen des Landes geworben.

Die Rechnung ist simpel: Chinas Energiebedarf wächst jährlich um acht Prozent. Den industriell hochentwickelten Provinzen im Osten des Landes mangelt es chronisch an Energieressourcen. Aus strategischen und wirtschaftlichen Gründen will China seine Abhängigkeit von Öl- und Erdgasimporten so weit wie möglich verringern. Also sollen multinationale Ölkonzerne die umfangreichen fossilen Ressourcen in Tibet und Xinjiang erschließen. British Petroleum (BP), Exxon (Esso) und Shell ließen sich nicht lange bitten. Ungeachtet internationaler Proteste erwarb BP bereits vor drei Jahren einen 2%-Anteil an den chinesischen Energiekonzernen Sinopec und PetroChina. Eine Milliarde Euro war dem britischen Ölriesen die Investition wert, um die Mitbewerber um den lukrativen Energiemarkt auszubremsen: Schließlich werden im ostturkestanischen Tarim-Becken die größten Erdgasvorkommen Chinas vermutet; eine Pipeline von 4.200 km Länge soll das Gas nonstop von Xinjiang bis nach Shanghai bringen.
Dass vom staatlich ausgerufenen Infrastrukturboom die chinesische Mehrheitsbevölkerung der Han nicht nur wirtschaftlich profitiert, sondern die staatliche Assimilationspolitik unter dem Deckmäntelchen der „Entwicklung“ vorangetrieben wird, scheint kein unerwünschter Nebeneffekt. „Go West“ als neue Kampagne zum Ausverkauf des Lebensraumes widerspenstiger nationaler Minderheiten? Sowohl Tibeter als auch die in Ostturkestan lebenden Uiguren protestieren gegen den zügellosen Ausverkauf der Energievorkommen, der für sie kaum neue Beschäftigungsmöglichkeiten bringt. Da in der strategisch bedeutsamen Ölindustrie vor allem Angehörige der Han und keine Uiguren beschäftigt werden, muss mit dem Zuzug weiterer Zehntausender Han-Chinesen gerechnet werden. Die staatlich propagierte Umsiedlung macht viele Volksgruppen weiter zur Minderheit im eigenen Land: Betrug der Bevölkerungsanteil der Han in der Provinz Xinjiang 1949 gerade 4%, so sind es heute bereits 41% – der Großteil davon in Xinjiangs boomender Hauptstadt Urumqi, eine Millionenstadt wie Chongqing.

Den turksprachigen Minderheiten bleibt das ärmliche Leben am Rande der Wüste Takla Makan, so lange ein berufliches Fortkommen in den Städten schwierig ist und auch die staatliche Industrie von Han-Chinesen dominiert wird: Zwei Drittel der Landbevölkerung haben ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von gerade 195 US-Dollar. Vor allem den muslimischen Uiguren, die traditionell enge Bindungen zu ihren Landsleuten in den zentralasiatischen GUS-Nachbarstaaten Kasachstan, Kirgisien oder Tadschikistan unterhalten, nimmt die neue chinesische Freundschaft zu den ehemaligen sowjetischen Feinden im Westen jeden Rückhalt. So werden nunmehr Uiguren, die der chinesischen Repression entfliehen, postwendend in die Volksrepublik zurückgeschickt.
Kürzlich einigte man sich mit Russland auf den Bau einer Öl-Pipeline von Sibirien nach China, auch der russische Gazprom-Konzern zeigt plötzlich Interesse an der umstrittenen Pipeline nach Shanghai. Immer mehr Unternehmen stehen bei der Kolonisierung von Ostturkestan und Tibet Schlange. Alleine Siemens, eine der führenden europäischen Firmen im Bereich der Hochtechnologie, hat 50 Millionen Dollar in den Ausbau der westchinesischen Telekommunikations-Netzwerke investiert. China versteht es nach wie vor, Menschenrechtsfragen auszublenden und gleichzeitig lukrative Wirtschaftskontrakte zu schließen. Während der ersten vier Monate dieses Jahres wurden landesweit 12.198 neue Firmen mit ausländischer Beteiligung zugelassen.
Das regionale BIP, im Jahr 2000 noch auf 40 Prozent des nationalen Mittelwertes, legt seither kräftig zu, mit jährlichen Wachstumsraten von neun Prozent. Ob sich das regionale Investitionsmuster jedoch dauerhaft verändern wird, kann noch nicht gesagt werden. Einerseits könne die Regierung nur einen begrenzten Anteil der Gesamtinvestitionen steuern, andererseits seien die Küstenregionen immer noch die entscheidende Basis für Chinas Wirtschaftsmacht, bleibt der Geograph Wolfgang Taubmann skeptisch. Doch die geplanten 200 Milliarden Dollar staatliche Gesamtinvestition alleine für Chongqing könnten Chinas Wirtschaftspole gehörig durchmischen. Hongkongs Immobilien-Tycoon Vincent Lo hat vom vom Boom am Yangtse Wind bekommen und plant bereits ein neues Shanghai am Reißbrett.

Schillernde Seifenblasen? „Es ist höchste Zeit, die Infrastrukturprogramme der letzten Jahre auf ein vernünftiges Maß zurückzuschrauben. Chinas Budgetefizit wird Ende des Jahres 4,3% des BIP betragen, deutlich mehr als die prognostizierten 3%“, warnt Yiping Huang, ein chinesischer Ökonom.
Doch noch ist die Modernisierungseuphorie im Großraum Chongqing ungebrochen. Die Argumente sind einfach gestrickt: Mehr neue Wohnungen für das Volk. Das wiederum fördere die Elektronik- und Möbelbranche. Bauern sollten besser Exportprodukte statt Reis anbauen und diese rasch auf den Markt bringen.
„Es gibt so viele Möglichkeiten, Geld zu verdienen“, sagt Zheng Ho, Parteisekretär und Leiter eines Industriegebiets, und denkt dabei an ganz China. Für die Uiguren und Tibeter versprechen diese Möglichkeiten nichts Gutes.

Günter Spreitzhofer ist Geograph in Wien, fährt bisweilen mit Eselskarren durch Xinjiang und hat mit den Uiguren schon so manchen Hammel verspeist.

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