China und seine Minderheiten

Von Redaktion · · 2008/05

In Tibet wie in vielen anderen Minderheitengebieten des Reichs der Mitte wird ein nicht offen deklarierter Kolonialismus praktiziert. Eine Analyse von Helmut Opletal.

Über historische Argumente – wann z.B. Tibet wie lange unabhängig war, lässt sich streiten. Nur für die heutige Diskussion bringt es nicht sehr viel, denn die Anerkennung von Menschen- und Volksgruppenrechten muss auch jenseits der Frage staatlicher Souveränität außer Streit stehen.
Tibet ist seit den 1960er Jahren eine „Autonome Region“ der chinesischen Volksrepublik, so wie auch die Innere Mongolei, Sinkiang (usprünglich vor allem von muslimischen Uiguren, Kasachen und Hui bewohnt), Ningxia (von Hui – chinesischsprechenden Muslimen – bewohnt), und Guangxi in Südwestchina (mit dem Thai-Volk der Zhuang). Daneben gibt es noch Dutzende „autonome“ Gebiete, Landkreise oder Gemeinden.
Dieses System „autonomer“ Gebietskörperschaften stammt aus den 1940er Jahren und wurde von Stalin übernommen, dies allein erklärt schon manche Wurzel des Übels. Denn die Autonomie bestand (und besteht) in China, so wie einst in der Sowjetunion, vorwiegend aus ein wenig Folklore, symbolischen Gesten gegenüber der jeweiligen Volksgruppe, und der Übersetzung politischer Schriften (von Marx und Mao bis zu den Leitartikeln des Zentralorgans) in die jeweilige Minderheitensprache.
Die Geschichte Chinas im Zuge der Herausbildung eines modernen Staatswesens war auch die Geschichte einer Kolonisierung der peripheren Völker, da unterschied sich China wenig von anderen großen Nationen. Die kommunistische Volksrepublik hat diese Tradition ziemlich unkritisch fortgeführt. Man war überzeugt, auch den nichtchinesischen Völkern zunächst einmal „Fortschritt“ näher bringen zu müssen, und dazu „brauchte“ man chinesische Beamte, chinesische Wirtschaft, Sprache und Alltagskultur.
Wer ausgiebiger in Minderheitengebieten Chinas gereist ist, merkt bald den Widerspruch: Zwar gibt es viele zweisprachige Aufschriften auf Ämtern oder Bahnhöfen, doch im Alltag scheren sich chinesische Zuwanderer, Männer und Frauen, wenig um die Gepflogenheiten der Region, „Wir sind hier ja in China“, lautet das Argument.
In allen wichtigen Entscheidungsfunktionen sitzen Han-Chinesen (so die Bezeichnung für das chinesische Mehrheitsvolk), Angehörige der „Minderheit“ (die regional ja meist die Mehrheit stellt) bekommen die „dekorativen“ Ämter: Der Parteichef ist Chinese, der Vorsitzende des (machtlosen) „Volkskongresses“ ein Tibeter, für die Wirtschaft ist eine Chinesin zuständig, für kulturelle Angelegenheiten ( = Folklore) eine Tibeterin.
In vielen Minoritätengebieten beobachtet man auch eine – in der offiziellen Politik niemals offen deklarierte – Form der Kolonisierung: Zwischen zwei traditionellen Volksgruppen-Dörfern wurden systematisch Siedlungen aus chinesischen Zuwanderern (oft demobilisierten Armeeangehörigen) gegründet, die es leicht machten, auch entlegene Regionen zu kontrollieren. Hier wurden dann die Verwaltungsbehörden eingerichtet, hier entstand die „moderne“, natürlich vorwiegend chinesische, Wirtschaft. Die neuen Chinesen-Viertel in den Städten haben die gleiche Funktion.

„Autonomie“ im eigentlichen Sinn, nämlich das Recht auf Selbstverwaltung und kulturelle Selbstbestimmung innerhalb eines größeren Staatsverbandes gab (und gibt) es für die Tibeter, Uiguren, Mongolen, Zhuang und die Angehörigen der übrigen mehr als 50 Nationalitäten genauso wenig wie für die (Han-) Chinesen selbst. In diesem Sinne werden die Tibeter nicht anders behandelt als alle chinesischen Bürgerinnen und Bürger.
Doch man muss etwas genauer hinschauen: In den Minderheitengebieten existieren oft mehrere Konflikte und Gegensätze nebeneinander, das macht die Analyse so schwierig.
Auch in Tibet gibt es einen Generationenstreit, es gibt Debatten über Modernisierung, Anhänger und Anhängerinnen traditioneller Lebensart und der Lebensformen einer globalisierten Welt: Konsum, Computer, Entertainment. Und es gibt Menschen, für die Religion oder Nationalität dabei eine wichtig, oder eine untergeordnete Rolle spielen.
In dem Klima wirtschaftlichen Aufschwungs in China und einer Liberalisierung des Alltags am Ende des 20. Jahrhunderts schien es eine Zeitlang, als ob sich die Bevölkerung Tibets arrangieren würde, als ob vielen der materielle Wohlstand, die Aussicht auf ein „besseres Leben“, wichtiger sei als Tradition.
Doch der nationale Konflikt zwischen Tibetern und Han-Chinesen ist wieder zum dominierenden Gegensatz geworden, und daran sind einige politische Entwicklungen schuld: Die seit den 1990er Jahren auch in Tibet gezielte Ansiedlung von Chinesen und muslimischen Hui aus den Nachbarprovinzen, als Händler und Verwaltungsbeamte zum Beispiel. Was als ungeplante Zuwanderung im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung begonnen hatte, wurde bald als Mittel zur Kontrolle und Zähmung tibetischer Eigenständigkeits-Bestrebungen eingesetzt.

Mit der Macht des Zentralstaates und vor allem der allgegenwärtigen Armee im Rücken, wurden die Nicht-Tibeter (sie stellen heute vielleicht zwanzig, dreißig Prozent in der Region, aber schon weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den Städten) rasch zu einer politischen und vor allem wirtschaftlichen Herrschaftsklasse, die auch im Alltag Überlegenheitsdünkel und Intoleranz zur Schau stellt.
Tibeterinnen und Tibeter sanken zu billigen Arbeitskräften und Hilfstrupps für chinesische Unternehmen, Behörden und Armee-Einheiten herab. Es klingt wie eine Perversion der Geschichte, denn China hatte seine Herrschaft nicht zuletzt dadurch legitimiert, dass mit der Machtübernahme der Kommunisten die Leibeigenschaft des alten Tibet abgeschafft worden ist.

Der Autor ist Sinologe, Außenpolitik-Redakteur beim ORF-Radio und lebte mehrere Jahre in China und Kenia.

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