Das Modell Brasilien

Von Werner Hörtner · · 2009/02

Das südamerikanische Riesenland ist nicht nur die Heimat der Befreiungspädagogik (Paulo Freire), des Theaters der Unterdrückten (Augusto Boal) und der Befreiungstheologie (Leonardo Boff u.a.) – es ist auch der Staat, wo die Solidarische Ökonomie mehr als sonst wo auf der Welt offizielle Anerkennung und Unterstützung findet.

Die ökonomischen Krisen der letzten Jahrzehnte haben in Brasilien Millionen von Menschen in die soziale Ausgrenzung, in Armut und Elend gestoßen: Verlust der Arbeit, Fehlen jeglicher Arbeitschancen, gigantische Migrationsströme auf der verzweifelten Suche nach Arbeit. Die extrem ungleiche Verteilung des Grundbesitzes bei sprunghaft steigenden Bevölkerungszahlen brachte ein Millionenheer von Landlosen hervor, die sich – ohne Aussicht auf menschenwürdige Beschäftigungsverhältnisse – zu sklavenähnlicher Arbeit auf den Plantagen des Agrobusiness verdingten.
Doch diese Situation rief auch widerständische und innovative Gegenbewegungen ins Leben: die Landlosen formierten sich in einer der größten Massenbewegungen der Welt, die schwarzen Gemeinden, die indigenen Völker, die Frauen, die arbeitslosen Jugendlichen begannen Formen autonomer Selbstorganisation zu entwerfen, Keimzellen eines Projekts der sozialen Revolution, der gesellschaftlichen Befreiung. Dieses Projekt war unweigerlich auch mit der Suche nach neuen Formen ökonomischer Tätigkeiten und Organisationsstrukturen verbunden.

„Eine andere Welt ist möglich“, lautet der Leitspruch der Sozialforumsbewegung, die 2001 vom brasilianischen Porto Alegre aus ihren Ausgang nahm. In Porto Alegre war es auch, wo eine der ersten großen selbstverwalteten Genossenschaften entstand. Die Ofen-Firma Wallig war Anfang der 1980er Jahre, noch in Zeiten der Militärdiktatur, zu Beginn des von den neoliberalen Umwälzungen hervorgerufenen „verlorenen Jahrzehnts“, in Konkurs gegangen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen entschlossen sich, den Betrieb in Eigenregie weiterzuführen. An diesem Punkt zeigt sich der wohl größte Unterschied zwischen einem kapitalistischen und einem solidarwirtschaftlichen Unternehmen. Gehört ersteres dem Eigentümer, einer Familie, einer Aktiengesellschaft oder irgendeinem Konsortium, auf jeden Fall Investoren, die das Geld zum Kauf der Produktionsmittel vorschießen und es dann plus möglichst viel Gewinn wieder zurückbekommen wollen, so sucht letzteres keine Maximierung der Profite, sondern ist von seinem Ursprung her demokratisch und egalitär. Die Produktionsmittel gehören allen Beschäftigten, die Risiken und Gewinne werden auf alle aufgeteilt.
Das Beispiel Wallig machte Schule, immer mehr Konkursunternehmen wurden von den ArbeiterInnen und Angestellten übernommen. Standen diesen neuen Betrieben zuerst die Gewerkschaften beratend zur Seite, so wurde 1994 eine eigene „Nationale Vereinigung der Arbeiter in Betrieben mit Selbstverwaltung und Aktienbeteiligung“ (ANTEAG) gegründet. Ihrer Expertise und Koordinierungsfunktion ist es zu verdanken, dass in Brasilien die große Mehrheit dieser in die Solidarische Ökonomie übergeführten Unternehmen überleben konnte.
Der Genossenschaftsgedanke setzte sich nach längeren Geburtswehen auch in der Landlosenbewegung (MST) durch, die 1992 die „Konföderation der Genossenschaften der Agrarreform“ bildete.

Mit dem Amtsantritt von Präsident Lula Anfang 2003 erfuhr die Solidarische Ökonomie in Brasilien eine bedeutende Aufwertung. Der aus der Gewerkschaftsbewegung kommende Staatschef und seine Partei, die Arbeiterpartei (PT), haben sich stets für die Förderung der Solidarischen Wirtschaft ausgesprochen. Noch im ersten Amtsjahr gründete Lula das „Nationale Sekretariat für Solidarische Ökonomie“ (SENAES). Dieses arbeitet mit einer Vielzahl von Projekten und Initiativen der SÖ zusammen, angefangen von Kooperativen mit Menschen, die aus psychiatrischen Anstalten kommen, bis hin zu Programmen mit ländlichen Gegenden mit schwarzer Bevölkerung (Quilombos). Obwohl eine staatliche Einrichtung, ist SENAES bemüht, eine staatliche Bevormundung in diesem Prozess zu verhindern. So war sie federführend an der Gründung des „Brasilianischen Forums der Solidarischen Ökonomie“ beteiligt, das die verschiedensten zivilgesellschaftlichen Bewegungen vereinigt, die sich solidarwirtschaftlich organisieren. An einer ersten Konferenz der Solidarischen Ökonomie 2006 beteiligten sich 14.000 Personen.
Mit der Leitung dieser Behörde wurde Paul Singer betraut. Der in Wien geborene Brasilianer konnte im Alter von acht Jahren mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten flüchten, studierte in São Paulo und Princeton, USA, Wirtschaftswissenschaften, unterrichtete später an einer Universität in seiner zweiten Heimatstadt São Paulo und war dort von 1989 bis 1992 als Planungsstadtrat tätig.
Paul Singer ist überzeugt, dass sich in Brasilien eine soziale Revolution auf dem Weg befindet. „In dieser sozialen Revolution werden wirklich neue Formen der ökonomischen Tätigkeit und der sozialen Organisation von unten nach oben lebendig. Wir, das heißt das Nationale Sekretariat, sind gewissermaßen diejenigen, die das Bewusstsein von dieser großen Bewegung unterstützen.“ Die Solidarische Ökonomie ist für Singer ein Gegenentwurf zum Kapitalismus: „Bei einem solidarischen Wirtschaftssystem, in dem die Arbeiter die einzigen Besitzer des Kapitals sind, ist auch die dazugehörige Gesellschaft sozialistisch.“

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