Das Verschwinden der 85 Prozent

Von Ladislaus Ludescher · · 2022/Nov-Dez
Kurzkommentar

Schätzungsweise 6,7 Milliarden Menschen leben in den Staaten des Globalen Südens. In wichtigen westlichen Nachrichten erhalten sie weniger Sendezeit als Sportergebnisse.

Dass der Globale Süden, sprich rund 85 Prozent der Weltbevölkerung, in den Nachrichten konsequent und eklatant vernachlässigt wird, gehört zu den Konstanten der „westlichen“ Berichterstattung. Dies zeigt die Langzeitstudie „Vergessene Welten und blinde Flecken“, in der über 5.000 Sendungen der deutschen Tagesschau sowie exemplarisch sogenannte Leitmedien wie der britische Guardian, die französische Le Monde oder die US-amerikanische Washington Post ausgewertet wurden.

Während der Corona-Pandemie und infolge des Ukraine-Krieges hat die Vernachlässigung des Globalen Südens noch zugenommen. Zu den vergessenen Nachrichten gehört auch der globale Hunger, den das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) 2019 als das „größte lösbare Problem der Welt“ bezeichnete. Obwohl die Zahl der chronisch Hungernden  2020 auf bis zu 811 Millionen Menschen anstieg, fand dies kaum medialen Widerhall.

Von den in jenem Jahr über 3.000 ausgestrahlten Beiträgen in der Tagesschau befassten sich lediglich neun mit dem Thema Hunger, mit der Corona-Pandemie fast 1.300.

© privat

Ladislaus Ludescher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Er hat Germanistik, Geschichte und Europäische Kunstgeschichte studiert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Analyse in- und ausländischer Medien.

Sport statt Hunger. Ob die extremen Hitzewellen auf dem indischen Subkontinent, die heftigsten Fluten in Bangladesch und Indien seit Jahren, die Menschenrechtsverletzungen in der Bürgerkriegsregion Tigray und die allgemein angespannte humanitäre Lage in Äthiopien: Alle diese Themen, die Millionen von Menschen betreffen, wurden in den Nachrichten nur marginal behandelt.

Von den 34 im ersten Halbjahr 2022 ausgestrahlten ARD-Brennpunkt-Sondersendungen beschäftigten sich 29 mit dem Krieg in der Ukraine, aber keine einzige mit dem Thema Hunger.

Berichte über den Globalen Süden rangieren offensichtlich weit hinten auf den Prioritätenlisten der Redaktionen. Dass in der Tagesschau den Sportergebnissen mehr als 13 Mal so viel Zeit eingeräumt wurde wie dem Hungerthema, gibt zu denken.

In der Tat waren Sportberichte sogar etwas umfangreicher als Beiträge über alle Staaten des Globalen Südens zusammen. Auf diese entfielen lediglich etwa sechs Prozent der Gesamtsendezeit.

Nicht ohne die Medien. Medien bilden öffentliche Diskurse nicht nur ab, sondern tragen auch zu deren Entstehung bei. Nachrichten können die Öffentlichkeit auf gesellschaftliche und politische Ereignisse bzw. Entwicklungen aufmerksam machen und dadurch politische Entscheidungsprozesse beeinflussen.

Das Beispiel Klimakrise hat gezeigt, dass signifikante Maßnahmen von politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern manchmal erst als ultimativ notwendig wahrgenommen werden, wenn die Medien das Thema immer wieder in den öffentlichen Diskurs tragen.

Es ist daher zu hoffen, dass sich die Medien ihrer Verantwortung bewusst werden und den Nachrichtenwert von Ereignissen unabhängig von ihrem geografischen Hintergrund beurteilen, um die Welt etwas gerechter abzubilden.

Die vollständige Studie „Vergessene Welten und blinde Flecken“, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Poster-Wanderausstellung können eingesehen bzw. heruntergeladen werden unter: ivr-heidelberg.de

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