„Denk an das Leben!“

Von Brigitte Pilz · · 2005/09

In Mosambik sind Plakate, die auf die Immunschwächekrankheit Aids aufmerksam machen, allgegenwärtig. Das Land kämpft mit einer der höchsten Infektionsraten der Welt. Doch Aufklärung allein reicht nicht, um die Epidemie zu besiegen. Südwind-Mitarbeiterin Brigitte Pilz berichtet von ihren Eindrücken anlässlich eines Besuches in Mosambik.

Die Mädchen flitzen auf der holprigen Wiese hinter dem Ball her. Soeben hat eine den Ball mit einem steilen Pass zwischen die in die Erde gerammten Stöcke gepfeffert. Tor! Johlen und Jubeln! Die Mädchen sind zwischen 10 und 14 Jahre alt. Im Moment sind sie so fröhlich, dass niemand ahnen würde, wie schwer ihr Los ist. Sie sind Waisen. Ihre Eltern sind an Aids gestorben. Die Kinder leben bei Großeltern, Onkeln und Tanten oder mit ihren älteren Geschwistern.
In Manica, einer Kleinstadt von 40.000 EinwohnerInnen, in der gleichnamigen Provinz im Zentrum Mosambiks unweit der Grenze zu Simbabwe gelegen, haben Mädchen und Buben seit ein paar Monaten die Möglichkeit, nach der Schule in einem Tageszentrum ihre Freizeit zu verbringen. „Im Zentrum kriegen sie zwei ordentliche Mahlzeiten und dürfen endlich Kinder sein“, sagt die Sozialarbeiterin Stefanie Edwards. Sie ist Mitarbeiterin von Horizont 3000. „Die Kinder können spielen, malen, lesen oder einfach herumtoben. Sie genießen es sichtlich. Jugendliche lernen Schneidern oder Tischlern, wenn sie wollen.“
Davide ist zwölf Jahre alt. Seine Eltern sind an Aids gestorben, die Mutter erst im letzten Jahr. Jetzt wohnt Davide mit den sechs Geschwistern im Compound der Familie, bestehend aus vier Rundhütten um einen Hof. Das hügelige Gelände, wo die Anlage steht, ist locker bebaut wie alle Wohnviertel rund um Manica. Der gesamte Wohnraum ist nett und sauber gehalten. Es gibt sogar ein paar Kübelpflanzen. Ein Mangobaum spendet Schatten, die Papayas reifen auf den Bäumen. „Die meiste Hausarbeit macht meine Schwester Epifania. Sie ist 14 Jahre alt. Aber wir helfen alle mit“, erzählt Davide. Der älteste Bruder, er ist gerade 23 geworden, hat einen Job bei einem Tierarzt als Lagerarbeiter. Von seinem geringen Lohn leben alle.

Im Gemeindegebiet von Manica wurde die Zahl von rund 600 Aids-Waisenkindern erhoben. Laut UN-Kinderhilfswerk UNICEF haben derzeit weltweit rund 16 Millionen Kinder zumindest einen Elternteil durch Aids verloren. 80 Prozent dieser Waisen leben in Afrika südlich der Sahara. Schätzungen zufolge werden es bis 2010 in dieser Region 18 Millionen sein.
Alle Berichte über die Ausbreitung der HIV-Infektion, über Aids-Erkrankungen und Aids-Sterbefälle sind gespickt mit Zahlen. Für Afrika wurden 1980 rund eine Million Fälle von HIV-Infektionen angegeben, Ende 2004 sind es laut UNAIDS, der UNO-Organisation gegen HIV/Aids über 29 Millionen. Die Zahl der Personen weltweit, die mit dem HI-Virus leben, beziffert die Organisation mit 42 Millionen. Jährlich kommen rund fünf Millionen dazu. Das ist bislang ein Höchstwert. In den letzten Jahren sind in Osteuropa und Asien die Infektionszahlen drastisch gestiegen. Doch Krisenregion Nummer eins ist nach wie vor das südliche Afrika.
Gleichzeitig gibt es heiße Diskussionen darüber, wie diese Statistiken zustande kommen. Wer untersucht mit welchen Methoden? Wie kommt man zu der Zahl der HIV-Positiven? Wie stellt man in einem Land mit lückenhafter Gesundheitsversorgung die tatsächlichen Todesursachen fest? War es einfach Tuberkulose oder Tuberkulose auf Grund von Aids? Welche Interessen von Regierungen stehen hinter hohen oder niedrigen Infektionsraten? Hohe Raten könnten Spendengelder fließen lassen, niedrige können ausländische Investitionen erhöhen oder allgemein der Reputation des Landes dienen.

Solche Debatten muten akademisch an, wenn man für einige Zeit in einer Stadt wie Manica lebt. Hier und in der Nachbarprovinz Sofala sind die HIV-Infektionsraten besonders hoch. Hier rollt der Fernlastverkehr entlang des Beira-Korridors von den Nachbarländern hin zum Indischen Ozean. Die Prostitution ist auf dieser Transitroute höher als anderswo.
Täglich finden in Manica Begräbnisse statt. Auch wenn man sie nicht immer sieht, hört man die Gesänge der sie begleitenden Frauengruppen weithin. Auf dem Friedhof Reihen über Reihen frischer Gräber, neben mindestens einem Dutzend neu ausgehobener offener Gruben.
In Gesprächen mit Fachkräften der Entwicklungszusammenarbeit ist das Thema Aids immer präsent. Kein Zynismus ist zu spüren, wie manchmal sonst bei fehlgeschlagenen Projekten, aufgedeckter Korruption oder dem Verwaltungswirrwarr in vielen Behörden. Alle sind betroffen. Wie lebt man damit, dass der Tod allgegenwärtig ist? „Bei einem neuen Todesfall ist man schockiert“, sagt Stefanie Edwards. „Doch eigentlich hat man eine Schutzschicht aufgebaut. Man könnte sonst nicht hier arbeiten. In meinem Projekt sind in zehn Monaten fünf Personen gestorben, zuletzt ein Kind. Eine Kollegin ist todkrank.“
„Unsere Generation der 30- bis 40-Jährigen stirbt einfach“, meint Barbara Plavcak, die beim Kommunalradio gerade einen zweijährigen Einsatz von Horizont 3000 beendet. Nur wenige lassen sich testen. „Hier in Manica mache ich das nicht, sagen viele, auch nicht in der Provinzhauptstadt Chimoio. Die Ärzte reden. Man ist schnell stigmatisiert.“
Eigentlich müsste inzwischen bei jedem Projekt die Aids-Problematik als Querschnittsaufgabe mitberücksichtigt sein, ist die Meinung vieler ExpertInnen. Alle Entwicklungsbemühungen in Mosambik seien durch das HIV/Aids-Problem stark beeinträchtigt.
Diese Einschätzung teilt Maria Semedo. Sie ist Koordinatorin der staatlichen Behörde zum Kampf gegen HIV/Aids (CNCS) in der Provinz Sofala. „Der wirtschaftliche und soziale Fortschritt ist durch die vielen Sterbefälle gerade unter der arbeitsfähigen Bevölkerung gefährdet. Auf den Feldern fehlen die Arbeitskräfte. Dazu kommen die vielen Aids-Waisen. Ihre Chancen einer Schul- und Berufsausbildung sinken dramatisch, wenn die Eltern tot sind.“

Was wird getan, um die Situation in den Griff zu bekommen? Maria Semedo wirkt erschöpft, wie von der Riesenaufgabe niedergedrückt. Diese ist vielschichtig: Aufklärung und Prävention, Betreuung von Kranken und Waisen. „Die Aufklärung funktioniert schon ganz gut. Überall wird an Schulen über HIV und Aids gesprochen. Es gibt zahlreiche Broschüren.“ Tatsächlich ist das Land übersät mit Plakatwänden: Denk an das Leben – vermeide Aids! Ich mag’s nur mit Kondom! Informierte Eltern zur Vermeidung der HIV-Übertragung von der Mutter auf das Kind! Die Broschüren zur Prävention sind so direkt und detailreich, dass manche Mütter entsetzt sind, was ihre Halbwüchsigen da aus der Schule mitbringen.
Informiert sind die Menschen tatsächlich in einem hohen Ausmaß. Nicht nur die Gebildeten. Aufklärungskampagnen sind breit gestreut. Doch ändert sich damit gleichzeitig das Bewusstsein? „Auch wenn Nachbarn und Verwandte reihenweise sterben. Viele glauben trotzdem nicht daran, dass es gerade sie treffen wird“, klagt Maria Semedo.
Die meisten sind einfach gewohnt, mit Risiko zu leben. Es gibt in armen Ländern nicht das Versicherungsdenken gegen alles und jedes wie hierzulande üblich. Ob es eine nächste Ernte geben wird, hängt vom Regen ab. Ob mein Kind an Malaria stirbt oder an einer anderen behandelbaren Krankheit, weiß ich nicht. Ob ich je wieder einen Job haben werde, keine Ahnung, es sieht nicht danach aus. Eine HIV-Infektion ist für diese Menschen ein Risiko mehr.

Für Frauen kommt die Frage der Machtlosigkeit hinzu. Der Mann will kein Kondom verwenden. Punktum. Keine Diskussion. „Ich habe dich mit einer anderen Frau gesehen. Wer war sie?“ „Das geht dich nichts an.“ Männliche Promiskuität ist gang und gäbe. Wenn die Ehefrau nicht kuscht, riskiert sie Schläge. Das erzählt Zaida Manivete, eine 28-jährige Mutter von drei Kindern. Sie ist Aktivistin bei ANDA, jener lokalen nichtstaatlichen Organisation (NGO), die in Manica auch das Tageszentrum für Waisen betreibt. Sie ist in dem Projekt „Faça comigo o percurso!“ („Mach mit mir den Parcours!“) angestellt. Entlang des Beira-Korridors wird an allen „escolas secundárias“, die in etwa unseren Hauptschulen entsprechen, diese von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit – GTZ entwickelte interaktive Aufklärungsausstellung gezeigt. „Ich habe Hoffnung, dass die Kinder einmal ihre Sex-Praktiken anders gestalten werden. Die Generation der jetzt Erwachsenen wohl kaum mehr.“
Gerade in Bezug auf Mädchen sieht es auch in näherer Zukunft nicht gut aus. Viele Mädchen werden bereits mit zwölf Jahren verheiratet. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Mehrzahl bereits mit elf Jahren beginnt, Sex zu haben, häufig mit älteren Männern. Inzwischen infizieren sich laut Statistiken bereits mehr Frauen als Männer mit dem Virus.
Auch Prostituierte haben wenig zu bestimmen. „Ich will keinen Sex mit Kondomen“, sagen viele Fernfahrer, die häufig bereits infiziert sind. Und die Mädchen: „OK, dann wird es teurer.“ Peter Piot, Chef von UNAIDS, hat Ende letzten Jahres in einem Interview mit der Tageszeitung Der Standard gemeint: „Wenn wir uns nicht um die Frauenrechte kümmern, dann werden wir die Epidemie nie stoppen können.“ Es geht um Rechte für Frauen, Bildung und ökonomische Unabhängigkeit. Dieser Meinung ist auch Maria Semedo.

Doch unumwunden gibt sie zu, dass in Mosambik nur ein sehr geringer Prozentsatz der internationalen Gelder zur Eindämmung von HIV/Aids in überschaubarer Zeit wirklich in Projekten landet. Finanzielle Unterstützung kommt von der Weltbank, von USAid, UNAIDS, UNDP, UNICEF und vielen anderen. Alles Geld muss über die CNCS-Zentrale in Maputo laufen. Die Projektanträge sind auch von ihrer Behörde dorthin zu leiten. „Es gibt unzählige kleine NGOs im Land. Sie sind teilweise von Leuten gegründet, die kaum lesen und schreiben können. Ein solcher Projektantrag geht hin und her, bis er akzeptiert wird, und es dauert Monate bis ein wenig Geld fließt.“ Maria Semedo ist ratlos, wie man dieses Problem beheben könnte. Trotzdem meint sie: „Wir werden die Krankheit besiegen.“ Siegesgewiss wirkt sie dabei nicht.

Brigitte Pilz verbrachte die Monate Mai und Juni 2005 in Mosambik.

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