Der blaue Drache als Retter

Von Redaktion · · 2013/12

Mädchen werden von Vietnam nach China verschleppt, zur Prostitution gezwungen oder als Ehefrauen verkauft. Ganz wenige von ihnen können entkommen – oder werden von AktivistInnen der Organisation Blue Dragon gerettet.
Eine Reportage von New Internationalist-Autor Philip Martin.

Es ist mitten am Vormittag. Ein leichter Regen fällt auf Hanoi. Der Wagen, in dem ich mich befinde, schlängelt sich durch den chaotischen Verkehr. Vor mir und zu meiner Linken sitzen zwei Mädchen im Teenager-Alter.

Es wird viel gelacht im Wagen. Ich werde die beiden Mädchen „Qui“ und „Phong“ nennen. Die eine ist 17, die andere 19. Sie strahlen über das ganze Gesicht, aber man darf sich von ihrem Lachen nicht täuschen lassen. In den vergangenen zwölf Monaten wurden Qui und Phong entführt, verprügelt, vergewaltigt und als Sklavinnen verkauft, von organisierten Menschenhändlern.

Ihre Freiheit gewannen sie mit Hilfe des Helden wieder, der neben mir sitzt: Ta Ngoc Van, der lieber Van Ta genannt werden will, ein Anwalt von Blue Dragon, einer Organisation, die gegen den Menschenhandel kämpft. Van Ta beschreibt, wie er gerade erst vor ein paar Tagen Qui befreit hat: „Sie war in der Provinz Guangdong in China eingesperrt, und eines Nachts rief mich die chinesische Polizei an und bat mich, bei der Befreiung dieses Mädchens mitzuhelfen.“

Wir verlassen die Stadt Richtung Norden, auf dem Weg ins Heimatdorf von Qui. Sie wird wieder zu ihrer Familie gebracht. Van Ta sagt, in der ersten Nacht ihrer Entführung waren es 47 Männer …

Qui ist fast 18, und sie war 16, als sie bei einem Besuch in Hanoi einen Mann kennen lernte. Sie trafen sich in einem Internetcafé, und sie verliebte sich. Sie gingen sechs Monate miteinander, und der Mann, sechs Jahre älter als sie, sagte, er liebe sie. Er lud Qui immer wieder zu seinen Eltern ein, aber sie weigerte sich jedes Mal. Schließlich nahm sie seine Einladung doch an. Sie fuhren weit nach Norden, in die hügelige, bewaldete Region an der Grenze zwischen Vietnam und China. Er brachte sie zu einem Haus und meinte, er käme gleich wieder. Die Männer, die kurz danach durch die Türe hereinstürmten, sprachen chinesisch.

Qui begriff, dass sie nicht mehr in Viet­nam war. Sie packten sie hinten in einen Lieferwagen und fuhren immer tiefer nach China hinein, eine Zeit, die ihr ewig vorkam.

Qui wurde mehrmals vergewaltigt und ständig geschlagen. Die Prügel wurden schlimmer, nachdem sie beschlossen hatte, sich die Namen aller viet­namesischen Mädchen in dem Bordell aufzuschreiben. „Sie wollen nicht, dass jemand weiß, dass diese Mädchen aus Vietnam sind“, erklärt Van Ta.

UN-BeamtInnen glauben, dass es allein in einer einzigen Stadt in Guangdong 1.000 Bordelle gibt – alle betrieben von organisierten Gangstern, Vietnamesen und Chinesen. Nach sechs Monaten gelang es Qui, mit zwei anderen Mädchen zu entwischen. Ein verständnisvoller Polizist rief Van Ta an, und er ging mit einem vietnamesischen Polizisten, beide getarnt als Touristen, über die Grenze, um sie nach Hause zu bringen.

Die Mädchen, mit denen Qui flüchtete, wurden wieder erwischt und an andere Bordelle verkauft. Sie sind irgendwo in China verschwunden.

Menschenhandel in China

Hauptmethoden des Menschenhandels:
Betrug und Täuschung 37%
Entführung 26%
Machtmissbrauch 17%
Physische Gewalt 5%
UNIAP 2013

4.800 US-Dollar

Der Preis, den Menschenhändler von chinesischen Männern für eine vietnamesische Braut verlangen.
Von 2011 bis 2012 wurden bloß von einer Bande von Menschenhändlern 20 vietnamesische Frauen derart verkauft.
tuoitrenews.vn

Wir sind nun schon drei Stunden unterwegs. Bald werden wir in dem Dorf sein, in dem Qui geboren wurde und aufwuchs. Sie wird plötzlich ganz still und starrt durch das Fenster auf die Reisfelder und die arbeitenden Bauern. Wir kommen bei einer Schule vorbei.

„Sie war in der 10. Klasse, als sie verschleppt wurde“, erzählt Van Ta. „Das erste Jahr in der Sekundarschule. Jetzt wieder nach Hause zu kommen, das macht sie etwas nervös.“

Unser Weg führt durch ein Waldstück, bis wir Quis Mutter begegnen. Die beiden umarmen sich, und wir begeben uns rasch zum Haus, damit die Nachbarn nichts bemerken und neugierig werden. In dem aus einem Raum bestehenden Haus macht die Mutter Tee; alle paar Minuten berührt sie das Gesicht ihrer Tochter und lächelt.

Sie hat acht Kinder. Auch die Töchter anderer Leute hier wären aus diesem Dorf verschwunden, sagt sie. Vor vielen Jahren wurde ihre eigene Schwester entführt, und sie soll irgendwo im Süden Chinas gesehen worden sein. Sie sorgt sich um die nächste Generation, und auch um ihre Enkel. Quis Vater taucht mit seinem Fahrrad zwischen den Bäumen auf und umarmt seine Tochter.

Es ist Zeit, dass wir gehen. Qui und Phong sitzen auf der Treppe, besprechen etwas unter vier Augen. Qui wurde zu ihrer Familie zurückgebracht. Phong sucht eine Familie. Sie sagt, fürs erste hätte sie eine gefunden, in Gestalt der Organisation, die sie gerettet hat, Blue Dragon.

Kurze Zeit später, wieder auf der Straße, summt das Mobiltelefon von Van Ta. Eine SMS aus China. Eine junge Frau, Prostituierte. Sie benutzt das Telefon eines verständnisvollen Kunden und schickt die Nummer, die sie von einer Frau bekommen hat, die vor kurzem aus dem Bordell entkam.

„Sie sagt ‚Bitte helfen Sie mir‘“, erklärt Van Ta. „Ich fragte: ‚Wo befinden Sie sich?‘ Sie sagte: ‚Ich bin in China, aber ich weiß nicht genau wo.‘ Ich schrieb: „Ich werde kommen und ihnen helfen, aber es wird etwas dauern‘, und sie: ‚Ja, und bitte bleiben wir in Verbindung‘, und ich: ‚Keine Angst, wir werden einen Weg finden, Ihnen zu helfen‘.“

© New Internationalist

Aus der preisgekrönten Radioreihe Underground trade: From Boston to Bangkok für den US-Radiosender WGBH (wgbhnews.org/underground-trade-boston-bangkok), abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Phillip Martin.

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