Der Mann mit der Ledertasche

Von Peter Böhm · · 2002/07

Sana Tembini ist traditioneller Heiler und lebt in der Stadt Mopti in Mali.

Sana Tembini ist Dogon. Diese ethnische Gruppe ist sehr bekannt. Wegen ihrer Skulpturen und Masken, und weil viele TouristInnen gern in ihre schöne Region im Zentrum Malis fahren, um dort Wandertouren von Dorf zu Dorf zu machen. Die Dogon gelten als sehr traditionsbewusst. Noch heute haben sich die Dogon viel von dieser ursprünglichen Kultur erhalten.
Sana wohnt und arbeitet in einem schiefen, einstöckigen Häuschen in der Altstadt von Mopti, oder besser gesagt, in dessen winziger Kammer im Erdgeschoß. Dort schläft er auf einer Bastmatte, und dort empfängt er auch seine KundInnen und PatientInnen. Das Haus verlässt er gewöhnlich nur, um zu essen – und das tut er seit den zwei Jahrzehnten, die er in Mopti wohnt, immer bei demselben Mann am selben Stand auf demselben Markt. Er geht nie ins Kino oder in eine Kneipe, hat keinen Besitz, außer dem, was in seiner Kammer an Nägeln an der Wand hängt. „Was brauche ich mehr?“, sagt er. „Ich habe meine Religion. Die ist mein Leben.“
Sanas Kammer ist nur 2 x 2,50 Meter klein und das Fenster ist zugemauert. Darin sitzt er mit dem Rücken an die der Tür gegenüberliegenden Wand gelehnt, und über seinem Kopf hängt seine abgeschabte Ledertasche. Immer wenn Sana verreist, zwei oder drei Mal im Jahr ins Dogon-Land fährt, um seine Heilpflanzen zu suchen und um seine Familie zu besuchen, hat er diese Tasche dabei. Daran kann jeder erkennen, dass er ein Heiler ist. Außerdem hängen dort noch ein paar Kleider, ein Umhängesack mit der Aufschrift „Chicago Bulls“, seine Schuhe, ein Hosengürtel und seine Fetische in einem Plastiksackerl, die er für seine KundInnen vorrätig hat.
Trotz seiner spartanischen Lebensweise erfüllt Sana eine wichtige Funktion in seiner Gesellschaft. Wenn man einen Tag mit ihm verbringt, sieht man, dass er kleine Wehwehchen kuriert, gleichzeitig aber auch „Dr. Sommer“, beste Freundin, Psychotherapeut und Rechtsanwalt in einem ist. Dabei ist er nie in eine Schule gegangen. „Meine Schule waren die Pflanzen“, sagt er stolz. Und natürlich sein Vater, der auch schon Heiler war, und der sein Wissen an ihn weitergegeben hat.

Wie im Vorgespräch verabredet, bringen der Übersetzer und ich zwei Flaschen malischen Rotwein mit. Sana schenkt sich gleich einen großen Plastikbecher voll und trinkt ihn in großen Schlücken wie ein Verdurstender. Dann kommt gleich der erste Patient. Ein etwa 40-jähriger Mann hat eine eiternde Wunde am geschwollenen Zeigefinger und will dafür Medizin. Er geht nicht ins Krankenhaus, erzählt er, weil die Behandlung dort viel teurer ist, etwa das Fünf- oder Sechsfache kostet, und weil Sanas Medikamente auch viel stärker sind. Sana wühlt in dem Haufen alter Plastiktüten und Fläschchen auf dem Boden, in dem er seine Heilmittel aufbewahrt, und gibt dem Mann ein Pulver zum Einreiben und zwei Stöckchen, die er im Wasser auflösen und trinken soll. Der Mann war wegen des Fingers vor ein paar Tagen schon einmal gekommen. Umgerechnet bezahlte er insgesamt 7,50 _ für die Behandlung.
Noch bevor ich richtig notieren kann, wie die Heilpflanzen heißen, wofür sie angewandt werden, ist schon die nächste Kundin da. Heute kommt die alte Frau nur einmal kurz vorbei, um Sana ein bisschen Geld für Zigaretten zuzustecken. „Damit er sich gut um mein Problem kümmert“, sagt sie. Das Geld schiebt Sana achtlos unter die Bastmatte, wechselt ein paar Worte mit ihr und schenkt ihr sein leicht entrückt wirkendes Lächeln. Während wir die Frau ausfragen, sitzt er mit einem Gesicht da, das ihn so aussehen lässt, als sei er für die Niederungen des Lebens völlig unangreifbar.
Ihr Problem ist, dass sie bisher noch kein Kind bekommen hat, und in Afrika sind Frauen, die keine Kinder kriegen oder kriegen können, wie ein Apfelbaum ohne Äpfel. Sie haben ihren Zweck verfehlt. Und die Behandlung gegen Kinderlosigkeit ist nicht ganz billig. Sie kostet fast 50 _. Wie alt sie ist, will die Frau nicht sagen. Ich schätze sie auf über 50. Aber bei einer Freundin, die auch bei Sana zu Behandlung war, verteidigt sie sich, hat er helfen können. Sie hat erst kürzlich Zwillinge bekommen.

Inzwischen ist es 9.30 Uhr geworden. Die erste Rotweinflasche ist leer und Sana schwankt hinaus, um aufs Klo zu gehen. Als er wieder zurück ist, sagt er: „Gott weiß, dass ich trinke. Ich muss trinken. Niemand könnte auch nur einen Heiler finden, der das nicht tut. Wegen meiner Arbeit habe ich ständig mit bösen Geistern zu tun. Dagegen muss ich mich schützen, und deshalb muss mein Mund voll Alkohol sein.“
Als nächstes kommt ein junger Mann mit einem braunen Turban und einem langen Umhang, einem Boubou, in derselben Farbe herein. Er sagt ganz offen, dass er Moslem ist. Er ist heute zum ersten Mal bei Sana. Ein Freund hat ihm den Heiler empfohlen, und auch er hat nichts dagegen, dass der Übersetzer und ich seine Geschichte hören. Sana lässt sich das Problem des Mannes schildern und beginnt dann sein Orakel zu werfen. Dazu benutzt er zwölf an einer Seite aufgesägte Kaurimuscheln. Aus ihrer Lage zueinander kann er sehen, wie es um das Problem des Mannes steht. Der junge Mann im Boubou macht sich Sorgen wegen seiner Frau. Er arbeitet in Mopti und hat sie und ihr gemeinsames Kind im Dogon-Land gelassen. Nun hat er von Bekannten dort gehört, dass ein anderer Mann versucht, sie ihm abspenstig zu machen. Der sei zu einem moslemischen Weisen, einem Marabu, gegangen, um die Frau mit einem Zauber zu belegen.
Nachdem Sana seine Kaurimuscheln konsultiert hat, sagt er: „Ja, das stimmt. Du musst sogar aufpassen, denn es sieht so aus, als ob deine Frau den anderen Mann mehr liebt als dich.“ Sana trägt ihm auf, ein ganz und gar weißes Huhn und drei Kolanüsse zu opfern und noch einmal über sein Problem nachzudenken. Wenn er glaube, was Sana gesagt und sich zur Behandlung entschlossen habe, solle er in einer Woche wieder kommen. Bezahlen muss er heute nichts. Das muss er erst, wenn die Behandlung beginnt. Aber er bekommt schon einmal ein Medikament – ein Pulver, das er in Wasser auflösen und trinken soll. Zwischendurch ist noch ein alter Freund von Sana hereingeplatzt. Er ist Bauunternehmer und erzählt, er werde von zwei seiner Angestellten betrogen. Sie haben Geld von einem Kunden selber eingesteckt, anstatt es an ihn weiterzuleiten. Er selbst ist Bozo, also von einer traditionell vom Fischfang lebenden ethnischen Gruppe, die Arbeiter aber wie Sana Dogon. Er bittet Sana, sie zu warnen, dass er ihr Verhalten nicht länger hinnehmen werde, und der Heiler verspricht, sich darum zu kümmern.

Als wir nach der Mittagspause um drei Uhr wieder kommen, sitzen schon wieder zwei Frauen bei Sana. Sie sind Mitte 20 und mit großer Sorgfalt gekleidet. Sie tragen westlich-modisch geschnittene Kostüme. Die erste ist Kindergärtnerin, die zweite handelt mit Kleidern. Beide sind Moslems, und sie waren schon ein paar Mal bei Sana, immer wegen desselben Problems. Sie haben bisher keinen Ehemann gefunden. „Aber mit der Hilfe Gottes“, erklärt die erste mit einem koketten Augenaufschlag in Sanas Richtung, „sind wir beide inzwischen verlobt“. Und die zweite sagt, Sana sei sehr nett. Er nehme sie ernst. Er war der Einzige, der ihnen helfen konnte.
Die erste ist heute gekommen, um „endgültig die Hand meines Verlobten zu schnappen“. Die zweite, damit Sana die Kaurimuscheln für sie wirft. Sie will wissen, ob das Problem mit ihrem Verlobten ein größeres ist, oder ob es sich nach einer Weile wieder geben werde. „Ich weiß nicht, was mit ihm los ist“, sagt sie. „Ob er anderen Frauen nachsteigt, oder was? Ich habe solche Gerüchte gehört. Er geht abends aus und kommt erst sehr spät zurück.“ Sana kann ihr heute aber nicht helfen. Es ist Dienstag nachmittag, nach 14 Uhr. Bis Mittwoch nachmittag hat das Orakel keine Aussagekraft. Er gibt beiden wieder ein Pülverchen. Ich weiß nicht, wofür oder wogegen. Ich habe mehr den Eindruck, dass er den Frauen etwas gibt, weil sie es von ihm erwarten. Und dem Übersetzer geht es wie mir. Er staunt nicht schlecht. Und als die beiden Frauen weg sind, sagte er: „Da gehen die Männer morgens aus dem Haus und ahnen nichts Böses. Und wenn sie abends zurückkommen, haben ihre Frauen eine Überraschung für sie bereit.“ Sana schmunzelte nur.

Peter Böhm arbeitete drei Jahre lang in Nairobi/ Kenia als Korrespondent für die Berliner Tageszeitung „taz“, bevor er im Jänner 2001 für ein halbes Jahr den afrikanischen Kontinent von Ost nach West durchquerte.

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