Der Traum vom besseren Leben

Von Redaktion · · 2009/09

In Mali eröffnete die EU vor Kurzem ein Beratungszentrum für Migranten und Migrantinnen. Viele MalierInnen versuchen ihr Glück in der Fremde. Für Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern ist Mali Transitland nach Norden. Klaus Sieg aus Mali

TV-Bilder von gestrandeten, völlig erschöpften Flüchtlingen an den Südküsten Europas flimmern immer wieder in unseren Wohnzimmern. Laut UNHCR-Statistik versuchen pro Jahr 120.000 Flüchtlinge aus Afrika über das Mittelmeer oder den Atlantik nach Europa zu gelangen. 65.000 Flüchtlinge strandeten 2008 an den Küsten Europas. Der Rest wird vorher abgefangen, bleibt in den Transitländern hängen – oder kommt ums Leben.

Eines der Haupttransitländer für MigrantInnen ist Mali. Der westafrikanische Staat hat 7.000 Kilometer Außengrenze. Viele Flüchtlinge aus Ländern südlich der Sahara versuchen von Mali aus nach Mauretanien zu kommen, nach Marokko oder nach Libyen. Dort warten sie auf die Chance, nach Europa zu gelangen. Auf klapprigen Schaluppen, im Laderaum eines LKWs oder mit einem Sprung über den Grenzzaun der spanischen Enklave Ceuta – was heute allerdings kaum noch jemandem gelingt. Ein großer Teil landet wieder in Mali, abgeschoben von Grenzbeamten oder Polizisten der nördlichen Nachbarländer.

Vor Kurzem hat die Europäische Union deshalb in Mali das erste Beratungszentrum für MigrantInnen außerhalb Europas eröffnet. Im Centre d’Information et de Gestion des Migrations (CIGEM) sollen sich potenzielle Auswanderer über die Möglichkeiten legaler Migration beraten lassen. Weiterbildung soll ihnen bei der Jobsuche helfen. RückkehrerInnen finden Unterstützung bei der Wiedereingliederung in ihre Heimat. Vor allem aber will man die Menschen vor den Risiken illegaler Migration warnen.

Es riecht noch nach Farbe im CIGEM in Malis Hauptstadt Bamako. Auf den Schreibtischen stehen neue Flachbildschirme. Die Bürostühle sind fast unbenutzt.

Samba Goïta nimmt vorsichtig Platz. Sein gestreiftes Hemd ist makellos rein, die Hose ziert eine akkurate Bügelfalte. Der 30-Jährige schlägt die Beine übereinander und blickt den Berater an. Samba Goïta möchte auswandern. Am liebsten nach Kanada, wo ein Freund von ihm lebt. „Nach Europa würde ich aber auch sehr gerne“, sagt Samba Goïta und spielt an den Bügeln seiner Sonnenbrille, in deren Gläsern sich der Deckenventilator spiegelt.

Nur selten klappern Schritte über den blitzblanken Kachelboden des CIGEM. Heute waren gerade einmal zwei Klienten hier. An Tagen mit mehr Betrieb sind es gut zehn. Das CIGEM ist ein noch sehr junges Pilotprojekt. Vielleicht wissen die potenziellen KlientInnen aber auch um die wenigen Möglichkeiten der legalen Auswanderung und sparen sich den Weg an den Stadtrand von Bamako.

Vier Millionen MalierInnen leben und arbeiten in der Fremde, 3,5 Millionen von ihnen in anderen afrikanischen Ländern. Mali ist eines der ärmsten Länder der Welt. Vor allem junge Leute aus Mali suchen ihr Glück in der Ferne. Die Summe der Überweisungen der MigrantInnen in ihre Heimat liegt über dem Gesamtbudget der Entwicklungshilfe für Mali.

„Alle neuen Häuser in dieser Straße haben Leute gebaut, die im Ausland arbeiten.“ Adoma Sangaré zeigt die Straße hinunter. Flache Lehmbauten säumen die breite Sandpiste. Nur wenige Straßen in der Hauptstadt Malis sind asphaltiert. Adoma Sangaré sitzt jeden Tag mit seiner Clique an dieser Straßenecke im Stadtviertel Kala Bancoura. An einem abgestoßenen Tisch spielen sie Karten. Arbeit hat keiner der jungen Männer. Der Bruder von Adoma Sangaré arbeitet bei Paris als Tankwart. Er ernährt die gesamte Familie. Eingereist ist er mit einem Touristenvisum nach Frankreich. Dann ist er abgetaucht.

„In einem Jahr verdienst du in Europa doch mehr als hier in deinem ganzen Leben“, sagt Adoma Sangaré und die anderen nicken. „Warum soll ich es also nicht auch versuchen?“ Risiken und Gefahren heimlicher Auswanderung. Ein Leben in der Illegalität. Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit. Der 25-Jährige winkt ab und zieht die Schultern hoch.“Selbst wenn es schwierig ist bei euch, leichter als hier bei uns ist es allemal.“

Überall trifft man in den Städten und Dörfern Malis Menschen, die so denken – und träumen. Die Kraft der Fernsehbilder, Geschichten, Vorstellungen von Europa scheinen übermächtig. Hinzu kommen die verzweifelte ökonomische Lage und der Druck aus den Familien. „Mein Vater fragt täglich, wie lange ich noch warten will“, Adoma Sangaré blickt die Straße hinunter.

Genauso häufig spricht man in Mali aber auch mit Menschen, deren Traum von der Auswanderung geplatzt ist. Die Meisten trauen sich nicht wieder nach Hause. Scham und Verzweiflung sind zu groß. Oft hat die Familie sich verschuldet, um Schlepper und Fahrtkosten zu bezahlen. Nun steht der für die Reise Auserwählte wieder vor der Tür. Ein Esser mehr statt des erhofften Ernährers.

Bertrand Couture hockt im Schatten eines Torweges und blickt apathisch zu Boden. Jeden Tag kommt er hierher. Hinter einer kleinen Tür im Torweg befindet sich das Büro der Association des Refoulés d’Afrique Centrale au Mali (A.R.A.C.E.M.), einer Selbsthilfeorganisation von Flüchtlingen verschiedener afrikanischer Staaten, die in Mali hängen geblieben sind. In das Büro ohne Fenster passen gerade einmal ein Holztisch, zwei Stühle und ein alter Computer. Von hier aus versuchen Ntamag Romeo und Patrice Zinahad, die beiden Gründer der Organisation, die Situation der gestrandeten Flüchtlinge etwas zu verbessern. In Kooperation mit der lokalen Polizei stellen sie zum Beispiel Behelfspapiere aus, mit denen die Migranten sich bei Kontrollen ausweisen können. Die meisten haben auf ihrer Odyssee sämtliche Dokumente verloren.

Vor sieben Jahren ist Bertrand Couture aus Kamerun aufgebrochen – auf der Suche nach einem besseren Leben. Er war in Nigeria, Benin, Burkina Faso, Mauretanien, Algerien und Marokko. Die längste Zeit hat er in Marokko auf eine Gelegenheit gewartet, in die spanische Enklave Ceuta zu gelangen. Im August 2001 kletterte er zum ersten Mal über den Zaun. Doch die spanische Guardia Civil bugsierte ihn gleich wieder hinaus. Insgesamt sieben Mal rannte Bertrand Couture so gegen die Festung Europa an.

Geschlafen hat der 26-Jährige zusammen mit anderen Flüchtlingen in einem nahen Wald. Viele der Männer brachen sich Knochen oder Gelenke, beim Versuch über den Zaun zu gelangen, den Spanien von Monat zu Monat höher zog. Ihr Essen mussten sie sich auf einer Müllhalde suchen. „Manchmal haben wir herumstreunende Hunde gejagt und gegessen.“

Mit der flachen Hand wischt Bertrand Couture sich über das Gesicht. Irgendwann hat ihn die marokkanische Polizei aufgegriffen und nach Algerien abgeschoben. Von Gefängnis zu Gefängnis wurde er nach Süden transportiert. „Die Polizisten haben uns schikaniert und geschlagen.“

Schließlich landete Bertrand Couture in Mali. In Bamako schlief er zunächst einige Wochen unter den Ständen einer Markthalle, verdiente sich mit Trägerdiensten und Reinigungsarbeiten ein paar Lebensmittel und Kleingeld. Nun wohnt er in einem Haus mit einhundert anderen Flüchtlingen aus Kamerun, Togo, Kongo oder Tschad. Bis zu zehn Männer teilen sich ein Zimmer. Die Zustände sind katastrophal. Immer mehr Flüchtlinge bleiben hier hängen, weil immer weniger durchkommen, seit die EU die Kontrollen verschärft hat. Nur selten findet einer der Männer einen Job auf einer Baustelle oder auf dem Markt.

„Ich bin völlig erschöpft“, sagt Bertrand Couture mit halb geschlossenen Augen. Warum kehrt er nicht zurück nach Kamerun? „Mein Vater hat mir am Telefon gesagt, dass ich nur mit Geld nach Hause kommen soll.“ Bertrand Couture zupft an seinem Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft mit der Nummer 9 für Ronaldo. „Ein Freund hat es mirgeschickt, der es nach Europa geschafft hat“, sagt er und tupft sich den Schweiß von der Stirn.

Im klimatisierten CIGEM neigt sich die Beratung dem Ende entgegen. Samba Goïta nickt einsichtig, als der Berater auf die Risiken heimlicher Migration zu sprechen kommt. Dann leuchten seine Augen für einen kurzen Moment auf. Nervös beginnt er mit dem Fuß zu wippen. Ein spanischer Gemüsebauer sucht Erntehelfer für drei Monate. Aber Samba Goïta ist überqualifiziert. Die Erntehelfer sollen möglichst nicht lesen und schreiben können. Zudem sind Erfahrungen in der Landwirtschaft erwünscht. „Ich hätte nie gedacht, dass meine Schul- und Universitätsausbildung von Nachteil sein könnte.“ Enttäuscht erhebt sich Samba Goïta und tritt auf die Straße, die in der Mittagshitze flimmert. Ob er noch einmal wieder kommt? Das mag er heute noch nicht entscheiden.

Klaus Sieg berichtet seit 1997 aus dem In- und Ausland für verschiedene Medien. Er ist Partner bei „agenda – Fotografen und Journalisten“.

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