Die andere Kraft entdecken

Von Redaktion · · 2002/02

Hildegard Goss-Mayr ist Ehrenpräsidentin des Internationalen Versöhnungsbundes. SÜDWIND-Mitarbeiter Ralf Leonhard sprach mit ihr über die Perspektiven der Gewaltfreiheit in einer gewalttätigen Welt.

Vom Ost-West-Dialog während des Kalten Krieges über das 2. Vatikanische Konzil bis zum Palästina-Konflikt der Gegenwart hat Dr. Hildegard Goss-Mayr versucht, gewaltfreie Positionen zu stärken. Hildegard Mayr machte schon während der Nazizeit Erfahrung mit Gewalt, da ihr Vater als Mitbegründer der gewaltfreien Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg politisch verfolgt wurde. Der Krieg löste in der jungen Wienerin eine schwere Krise aus: „Wenn der Mensch des Menschen Wolf ist, kannst du nicht leben.“
Erst die Neuentdeckung der Radikalität des Evangeliums gab ihr die Zuversicht, „dass es eine Kraft gibt, die stärker ist als Hass und Gewalt“. Gandhi und Martin Luther King zeigten ihr, was gewaltfreier Widerstand bewirken kann. Sie studierte Sprachen, Geschichte und Völkerrecht und stellte sich dann in den Dienst des Internationalen Versöhnungsbundes, der schon nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründet wurde. Diese Arbeit brachte sie mit ihrem späteren Mann, dem Franzosen Jean Goss zusammen. Gemeinsam versuchten sie, in Lateinamerika gewaltfreie Strukturen gegen die Militärregimes aufzubauen. Dabei wurden sie mehrmals verhaftet. Einmal holte sie der brasilianische Kardinal Evaristo Arns aus dem Kerker. Einer der größten Erfolge des gewaltfreien Kampfes war der Sturz des philippinischen Diktators Ferdinand Marcos durch die People Power, bei der auch das Ehepaar Goss-Mayr beteiligt war. In Ruanda konnten sie knapp vor dem Völkermord von 1994 nichts mehr ausrichten. Doch danach wurden sie eingeladen, bei der Versöhnung mitzuhelfen.
Hildegard Goss-Mayr: Das Attribut „aktiv“ wurde hinzugefügt, weil viele Menschen im Wort Gewaltfreiheit nur ein Zurückweisen von Gewalt als Lösung für Konflikte verstehen. Denn das, was Gandhi als Satyagraha verstanden hat, ist in dem Wort, das wir in den europäischen Sprachen verwenden, nicht enthalten. Es war also nötig zu zeigen, dass das Nein zur Gewalt ein aktives Handeln, eine alternative Kraft erfordert. Diese alternative Kraft ist die eines aktiven Widerstandes, der nicht verletzt, der die Wahrheit aufdeckt, Gerechtigkeit und eine absolute Achtung vor dem anderen durchsetzt.

Den Pazifisten hat man vorgeworfen, Hitlers Expansionismus nicht verhindert und den Holocaust ermöglicht zu haben.
Wenn man bei einem Nein zur Gewalt stehen bleibt und nicht gleichzeitig konkrete Alternativen des gewaltfreien Widerstandes entwickelt, dann ist das nicht im Sinne einer Überwindung von Unrecht. Bevor das Hitler-Regime an die Macht gekommen ist, wurde diese konstruktive Seite nicht entwickelt.

Bietet das Prinzip der aktiven Gewaltlosigkeit eine Antwort auf den 11. September oder nur Erklärungen, was versäumt wurde?
Mir war von Anfang an klar, dass man sich nach dem 11. September fragen muss, was die Ursachen des Terrorismus sind. Was wurde nicht getan, dass diese Form von Gewalt sich entfalten konnte? Terrorismus einerseits und bewaffnete Erhebungen sind fast immer die Frucht von Unrecht, entweder von Armut und Ausgrenzung oder, wie im Nahen Osten, der Missachtung einer Volksgruppe oder Nation. Diese Ausgrenzung führt naturgemäß zu Formen des Widerstandes, und wenn man den gewaltfreien Widerstand nicht kennt, nicht dazu ausgebildet wurde, wird man zu bewaffnetem Widerstand oder Formen des Terrorismus greifen. Deswegen ist ein Austrocknen des Terrorismus nur möglich, wenn man sich viel radikaler als bisher für eine Überwindung der Unrechtssituation der Dritten Welt einsetzt.

Was kann man in so eskalierten Situationen wie derzeit in Israel unternehmen?
Eine Unrechtssituation, die sich jahrzehntelang aufgebaut hat, kann man nicht von heute auf morgen überwinden. Ich glaube aber, dass sich in Israel alle bewusst sind, dass eine Lösung heißt, ein Miteinander anzunehmen und zu finden. Ich habe im August eine Reihe von Organisationen besucht, die sich um eine friedliche Lösung bemühen. Man muss in einer so aufgeschaukelten Situation einen Mediator finden. Das könnte die EU sein. Die USA haben großen Einfluss, aber unterstützen nur eine Seite. Ich sehe es als Verantwortung, die auf uns Europäer zukommt, eine authentische Vermittlung zu unternehmen. Dabei gilt es, das Schutzbedürfnis der Israelis und das Grundrecht der Palästinenser auf einen eigenen Staat, wie es völkerrechtlich verankert ist, im Blick zu haben und schrittweise eine authentische Verhandlungslösung aufzubauen. In dem Maße, indem man damit das Vertrauen der Bevölkerung gewinnt, werden auch die Terrorakte und das Töten von Seiten Israels nachlassen.

Die Vereinten Nationen haben eine Dekade der Gewaltfreiheit ausgerufen. Versprechen Sie sich davon mehr als ein paar schöne Erklärungen und feierliche Veranstaltungen?
Meiner Meinung nach hängt der Erfolg davon ab, inwieweit sich die NGOs dafür einsetzen dass z.B. auf der Ebene der Erziehung, der sozialen Verantwortung, der Kinderrechte, der Kindersoldaten, konkrete Schritte gesetzt werden. Wir stehen am Anfang und ich sehe bisher den Schwerpunkt in erster Linie bei der Erziehung zur Gewaltfreiheit auf Seiten der Jugendlichen. Auch in Österreich. Die Kräfte zur Konfliktlösung in den Jugendlichen zu verankern, scheint mir sehr wesentlich.

Man muss also Geduld haben und auf die nächsten Generationen setzen?
Wenn man realistisch ist, muss man sagen, dass es nur Schritte in Richtung auf eine Kultur der Gewaltfreiheit sein können. Persönlich sehe ich aber die Notwendigkeit einer gerechteren und gewaltfreien Gesellschaft auch auf anderen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens: etwa die Frage der sozialen Verantwortung oder jene, wie weit das Leben in unserem Staat in erster Linie auf Profitvermehrung ausgerichtet ist. Durch den liberalen Kapitalismus beherrscht ein System die Welt, in dem der Mensch zum Ding herabgesetzt und danach bewertet wird, wie viel er für die Marktwirtschaft wert ist.

Das ist in den indianischen und afrikanischen Gesellschaften anders. Dennoch hat es auch vor der Kolonisierung immer wieder Kriege und Gewalt gegeben. Wohnt die Neigung zur Gewalt nicht doch dem Menschen inne?
In jedem Menschen liegen beide Möglichkeiten. Wir sind alle gewalttätig in der einen oder anderen Art und Weise, auch wenn wir uns bemühen. Aber die Möglichkeit zu achtungsvollem Handeln liegt ebenfalls in jedem Menschen. Die Schwierigkeit in Europa ist, dass unsere Gesellschaftsform auf individualistische und egoistische Interessen, auf Konsumismus, auf Genießen und Profitieren ausgerichtet ist. Die auch in jedem Menschen angelegte Kraft des Zugehens auf den anderen, die Solidarität, das Miteinander, das Teilen, die Barmherzigkeit, das Vergeben, auch dem Schwächeren eine Chance geben, wird hingegen zu wenig entfaltet. Ich glaube, dass es in dieser Dekade darum geht, daran zu arbeiten, dass immer mehr junge Menschen und Kinder die andere Kraft entdecken und auch daran Freude finden können, Konflikte und die Gewalt, die sie erleben, anders zu lösen als durch Zurückschlagen und Hass.

Eduardo Galeano fragt sich, was soll man von einer Friedensordung halten, die von den größten Waffenexporteuren, nämlich den ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates, überwacht wird. Ist eine solche Organisation geeignet, Friedenserziehung zu betreiben?
Es war überhaupt erstaunlich, dass diese Dekade durch einen einstimmigen Beschluss der Generalversammlung zustandegekommen ist. Ich sehe eine sehr zwiespältige Haltung zwischen diesem Beschluss und dem Waffenhandel der Mitgliedsstaaten. Auch in Österreich sind wir, etwa bei der Frage der Kleinwaffen, nicht sehr weit vorangekommen. Auch die Ausbeutung von Erdöl in Kriegsgebieten, z.B. im Sudan, wo auch Österreich Interessen hat, ist noch nicht verpönt. Die Umsetzung der Gewaltfreiheit steht noch am Anfang, aber in den letzten Jahrzehnten haben sich Wege und Erfahrungen aufgetan, die die Hoffnung stärken, dass uns diese von der UNO ausgerufene Dekade der Gewaltfreiheit ein Stück näher bringt. Ich bin jedoch überzeugt, dass die Aufgabe des Friedenstiftens und der friedlichen Gewaltbewältigung durch die Geschichte der Menschheit gehen wird, da Egoismus und rücksichtsloses Verhalten im Menschen angelegt sind. Wir sind jedoch dazu verpflichtet, mit höchster Anstrengung für eine Annäherung an eine Kultur der Gewaltfreiheit zu arbeiten.

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