Die Demokratur am Bosporus

Von Peter Nowak · · 2001/02

Mit der blutigen Stürmung von über 30 Gefängnissen will die türkische Regierung die Einführung von Isolationszellen durchsetzen und beruft sich dabei auf EU-Normen. Doch der angebliche Weg der Türkei nach Europa hat noch zu keiner Verbesserung der Menschenrechtslage geführt.

Die Fernsehbilder Ende Dezember erinnerten an die dunkelsten Zeiten der Militärdiktatur in der Türkei. Schwerbewaffnete Militärs gehen mit Gewehren und Gasbomben gegen über tausend politische Gefangene vor. Bagger reißen Wände der Gefängnisanstalten ein. „Das Militär hat drei Gefangene bei lebendigem Leib verbrannt!“, schreit eine schwerverletzte Frau, als sie auf einer Bahre festgeschnallt in ein Hospital gebracht wird.

Offizielle türkische Stellen sprechen von 30 toten Gefangenen und loben den großen Erfolg der Operation. Währenddessen werden die in türkischen Städten protestierenden Angehörigen der Gefangenen brutal in Gefängnisbusse geprügelt und festgenommen. Polizisten rufen zur Abrechnung mit der Opposition auf. Parteihäuser der linksreformistischen Wahlpartei ÖDP werden von Anhängern der in der Regierung vertretenen rechtsradikalen MHP gestürmt.

Der Staat reagiert mit Terror auf die in den letzten Monaten gewachsene Mobilisierung der demokratischen Opposition“, meint Agdas Sükran. Seit ihr 16-jähriger Sohn beim Verkauf einer linken Zeitung erschossen wurde, ist die Endvierzigerin treibende Kraft der Angehörigenorganisation Tayad in Istanbul.

In den letzten Monaten ist kaum ein Tag vergangen, an dem die Mütter mit den von roten Bändern umschlungenen weißen Tüchern auf dem Kopf nicht in der Innenstadt von Istanbul oder Ankara die Öffentlichkeit für die Anliegen ihrer inhaftierten Angehörigen mobilisiert haben.

Nachdem mehr als tausend politische Gefangene am 20. Oktober des Vorjahres in den unbefristeten Hungerstreik getreten waren, schlossen sich Intellektuelle, ÄrztInnen, RechtsanwältInnen und KünstlerInnen ihren Protesten an. Man wollte die von der Regierung seit Jahren geplante Einführung von Isolationsgefängnissen, den sogenannten F-Typ-Zellen, verhindern, durch die die bisherigen Gemeinschaftszellen ersetzt werden sollen.

Auf einem großen Kongress Anfang November in Istanbul wurde über die physischen und psychischen Folgen diskutiert, die die Isolationshaft auf die Gefangenen hat. Alte Gutachten und Broschüren aus Deutschland, Spanien oder Italien werden ins Türkische übersetzt. Hierzulande längst aus der Mode gekommene Begriffe wie „Weiße Folter“ und „sensorische Deprivation“ werden am Bosporus neu entdeckt.

Von der EU können sich die GegnerInnen der Isolationshaft keine Unterstützung erhoffen. Im Gegenteil: Die türkische Regierung versäumt nicht, darauf hinzuweisen, dass sie mit dem Bau der neuen Gefängnisse die politischen Kriterien erfüllt, die der Europarat 1993 in Kopenhagen aufgestellt hat.

Die liberale türkische Tageszeitung „Yeni Binyil“ bezeichnete die neuen Zuchthäuser denn auch als EU-Typ-Gefängnisse. Nach dem Sturm auf die Haftanstalten wurden alle fertiggestellten Isolationszellen mit den teils schwer verletzten Gefangenen belegt.

Zigtausende politische Gefangene sitzen zur Zeit in türkischen Gefängnissen. Wie rasch man verhaftet werden kann, zeigt der Fall von drei Gymnasiasten aus Istanbul, deren Haftprüfungstermin Mitte November 2000 vor dem gefürchteten Staatssicherheitsgericht (DGM) stattfand.

Schon Stunden vorher gleicht das Foyer einer Bahnhofshalle. In kleinen Gruppen stehen die Menschen zusammen, ältere Jahrgänge teilen sich die wenigen bereitgestellten Stühle. Ein fliegender Händler verkauft Tee und Süßigkeiten.

Einige Jugendliche, die in einer Ecke zusammenstehen, machen einen bedrückten Eindruck. Immer wieder erzählen sie von der Verhaftung ihrer Mitschüler. Unter dem Vorwand, ein Drogendelikt aufzuklären, wurden diese aus dem Unterricht heraus festgenommen und in einer Polizeikaserne verhört und gefoltert. Von Drogendelikten war dort jedoch längst nicht mehr die Rede. Agitation für eine linke Organisation, Verteilen von Flugblättern und Kleben von Plakaten lauteten jetzt die Vorwürfe.

Ein dichter Kordon von schwerbewaffneten Militärs schirmt sie auf der Anklagebank völlig von der Außenwelt ab. Die Plädoyers des Anwalts Mesut Behic sind immer sehr kurz: An manchen Tagen muss er in vier oder fünf Prozessen hintereinander MandantInnen vertreten. Nach nur wenigen Sätzen fordert er die Freilassung der drei Jugendlichen. Heute hat er zweimal Erfolg. Die Gymnasiasten gehören nicht dazu. Das Gericht hat die Verlängerung der Untersuchungshaft angeordnet. Die Mitschüler verlassen traurig das Gerichtsgebäude, während die Angehörigen der Freigelassenen durch Gesänge und Händeklatschen ihrer Freude Ausdruck verleihen.

Ein etwa 40-jähriger Mann zeigt in einer Prozesspause seine vernarbten Finger. „Ich wurde kürzlich festgenommen. Beim Verhör riss man mir jeden Fingernagel einzeln aus“, erklärt er. Eine Woche später wurde er freigelassen. Den Grund seiner Festnahme hat er nie erfahren. „Ich wohne in Gazi, einem ‚linken‘ Stadtteil von Istanbul. Da werden Verdächtige einfach auf der Strasse aufgegriffen und verschleppt.“

Von einer beginnenden Demokratisierung der türkischen Gesellschaft im Zusammenhang mit der von der Regierung forcierten Aufnahme in die Europäische Union hat er wenig mitbekommen. Auch der junge Regisseur Hüseyin Karabey warnt vor dem Glauben an eine Demokratisierung in seinem Land. Im letzten Jahr wurde sein Kurzfilm „Boran“ von einer aus internationalen KünstlerInnen zusammengesetzten Jury prämiert. Der Film thematisiert die Geschichte von drei Politaktivisten, die Ende der neunziger Jahre in der Türkei entführt und ermordet wurden.

„Es ist gut möglich, dass ich wegen meines neuen Filmprojekts wieder im Gefängnis lande. Meine eigenen Kollegen werden es sein, die mich bespitzeln und denunzieren“, meint der engagierte Filmemacher. Sein in wenigen Wochen fertiggestellter neuester Film behandelt die Einführung der Isolationsgefängnisse und den Widerstand der Gefangenen und ihrer Angehörigen.

Auch Seci Rüzgar kann jederzeit wieder im Gefängnis landen. Der Rechtsanwalt aus Ankara hatte Ende der neunziger Jahre einen Polizeioffizier, der einen Gefangenen zu Tode gefoltert hatte, geklagt. Nachdem der Folterer schließlich in letzter Instanz zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, rief er Rüzgar noch im Gerichtssaal zu: „Pass auf, dafür wirst du bald deine Strafe bekommen!“

Wenige Wochen später wurde Rüzgars Kanzlei durchsucht. Rüzgar wurde festgenommen, angeklagt und wegen Unterstützung einer verbotenen linken Organisation zu einer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt. Nach Protesten aus dem Ausland vorerst auf freien Fuß gesetzt, darf er die Türkei nicht verlassen. Seine Anwaltspraxis musste er aufgeben. Jetzt stellt er seine juristischen Kenntnisse türkischen Menschenrechtsorganisationen zur Verfügung. Der Prozess wird heuer neu aufgerollt.

Auch der Stellvertretende Vorsitzende der Istanbuler Sektion des Menschenrechtsvereins IHD, Saban Dayanan, kann in Bezug auf die Menschenrechte in der Türkei keine Wende zum Besseren entdecken. „Folter und unmenschliche Behandlung von Gefangenen stehen in unserem Land weiter auf der Tagesordnung“, ist seine Erfahrung. Er verweist auf den geltenden Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen, auf die Repression gegen kritische JournalistInnen und das fortdauernde Verbot der kurdischen Sprache.

Wenn Dayanan an die letzten Monate denkt, fallen ihm nur negative Entwicklungen ein. „Nichts veranschaulicht die Menschenrechtslage besser, als die Anfang November erfolgte Ersetzung der liberalen Menschenrechtsbeauftragten des türkischen Parlaments durch ein Parteimitglied der mitregierenden rechten MHP. Der neue Mann hat schon deutlich gemacht, worin er seine Aufgabe sieht: im Schutz der Menschenrechte der Türken im Ausland.

Unangemeldete Besuche in Polizeiwachen müssen die Folterer jetzt nicht mehr fürchten. Damit hat sich seine Vorgängerin viele Feinde bei Polizei und Militär gemacht. Dayanan glaubt nicht an kurzfristige Verbesserungen. „Im Rahmen der momentanen Gesetzgebung und Verfassung ist ein Ende der Menschenrechtsverletzungen in der Türkei nicht möglich“, lautet sein ernüchterndes Fazit.

Der Autor lebt als freier Journalist in Berlin und ist spezialisiert auf Fragen der internationalen Solidarität und der sozialen Bewegungen.

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