Die Kraft der Vorstellung

Von Redaktion · · 2000/05

Die zentralen Themen des neuesten Romans des indischen Autors Vikram Seth sind die Liebe und die Musik. Im Brahms-Saal im Wiener Musikverein, der auch im Buch eine wichtige Rolle spielt, wurde die deutsche Übersetzung „Verwandte Stimmen“ erstmals der Öffe

Im Jahr 1952, dem Jahr 5 der indischen Unabhängigkeit, endet Seths Erfolgsroman „Eine gute Partie“, und in diesem Jahr wurde Vikram Seth in Kalkutta geboren. Seine Mutter war die erste Richterin an Indiens Oberstem Gerichtshof.

Vikram Seth studierte in Oxford, promovierte im kalifornischen Stanford und lebte dann in China, um die großen Lyriker dieses Landes zu übersetzen.

Sein neuester Roman, „Verwandte Stimmen“, ist die Geschichte des englischen Musikers Michael Holme, dessen Liebesbeziehung mit der Pianistin Julia, die in Wien begonnen und dort auch ihr Ende gefunden hatte, ganz unerwartet ein Jahrzehnt später in London eine Fortsetzung findet. Julia leidet mittlerweile unter fortschreitendem Verlust ihres Gehörsinns.

Frage: Beim Lesen des Buches hat sich mir auf Grund Ihrer genauen Kenntnisse von Wien sofort die Frage aufgedrängt, wie lange Sie wohl in Wien gelebt und ob Sie hier auch Musik studiert haben wie Michael Holme, die Hauptfigur des Romans?

SETH: Nein, eigentlich weder das eine noch das andere. Ich habe nur in klassischer indischer Musik eine gewisse Ausbildung. Mein Wissen über die Dynamik und die Psychologie klassischer westlicher Musik entwickelte sich erst als Ergebnis des Versuchs, in die Person von Michael Holme zu schlüpfen.

Was nun meine Aufenthalte in Wien betrifft: Ich war schon mehrmals hier auf Besuch, doch meistens nur für einen Zeitraum von einer oder zwei Wochen. Ich habe aber mit vielen Menschen von hier gesprochen, um zu begreifen, wie das für Michael war, als er hier als ein Ausländer lebte und studierte.

Frage: Ich war auf Grund der Detailgenauigkeit in den Wien-Passagen Ihres Buches überzeugt, dass Sie länger hier gelebt hätten … Sie schreiben ja in Ichform, als der englische Musiker Michael Holme. Wie haben Sie es erreicht, als Angehöriger einer ganz anderen Kultur diese Authentizität in der Darstellung des Denkens und Handelns und Musizierens der Hauptperson in Ihrem Roman zu erreichen?

SETH: Ja, ich bin weder Engländer noch Musiker. Ich habe aber einige Jahre in London gelebt. Was nun die Musik betrifft, so habe ich vielen Proben von Streichquartetten beigewohnt, habe mit vielen Musikern gesprochen – und habe auch meine Vorstellungskraft spielen lassen. Ich liebe Musik sehr.

Frage: Wie lange haben Sie an diesem Roman gearbeitet?

SETH: Ich brauchte zwei bis drei Jahre, um das Buch fertig zu stellen, doch war ich schon in den vier Jahren zuvor, nachdem ich meinen letzten Roman „Eine gute Partie“ beendet hatte, mit dem Inhalt des nächsten Buches beschäftigt, auch wenn ich noch nicht daran geschrieben habe.

Frage: Können oder wollen Sie verraten, was der reale Hintergrund dieser Liebesgeschichte ist?

SETH: Das sind sehr private Angelegenheiten, und ich möchte keine Parallelen ziehen dem Leben eines Autors und dem Leben seiner Romanfiguren. Sicherlich muss die Kraft des Empfindens aus den eigenen persönlichen Erlebnissen kommen.

Frage: Wie Sie die Einladung erhalten haben, in Wien Ihr Buch vorzustellen und daraus zu lesen – haben Sie sich überlegt, ob es zum gegenwärtigen Zeitpunkt opportun ist, nach Österreich zu kommen?

SETH: Es war meine Idee, das Buch für den deutschsprachigen Raum zuerst in Wien vorzustellen, denn diese Stadt spielt ja eine so große Rolle in dem Roman. Dieses Vorhaben stand bereits vor den letzten Wahlen fest. Ich war natürlich, wie so viele andere Menschen, ziemlich verstört über den Ausgang der Wahlen und vor allem dann über die Koalititon, die sich daraufhin bildete. Als Ausländer sollte man das vielleicht nicht sagen, aber ich denke, als Schriftsteller soll man seine Geisteshaltung manifestieren.

Aber ich möchte auf etwas hinweisen. Intoleranz ist nicht auf Österreich beschränkt. Auch in Indien haben wir viel Intoleranz und Vorurteile, und wir haben eine rechte hindustische Partei an der Regierung. Überflüssig zu sagen, dass ich alles andere als entzückt bin über Regierungen, die ganz offenbar auf Intoleranz fußen, egal ob das nun in Indien ist oder anderswo.

Endmarke

Vikram Seth: Verwandte Stimmen. Aus dem Englischen von Anette Grube. Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 478 Seiten, öS 328,-.

Anmerkung des Autors

(die zugleich einen interessanten Einblick in die Entstehungsgeschichte dieses Romans gewährt)

Musik liegt mir noch mehr am Herzen als Sprache. Als mir klar wurde, dass ich darüber schreiben würde, überkam mich Angst. Nur langsam konnte ich mich mit dem Gedanken daran aussöhnen.

Freunde und Fremde haben mir bei der Arbeit geholfen: Streicher, die häufig Mitglieder eines Quartetts waren oder aufgrund ihres Engagements für Alte Musik mit Problemen abweichenden Stimmens zu tun hatten; andere Musiker und Komponisten; Instrumentenbauer, Restaurateure und Händler; diejenigen, die dabei helfen oder versuchen, dabei zu helfen, Musik zu erschaffen und zu verbreiten – Lehrer, Kritiker, Musikagenten und Manager, Geschäftsführer von Plattenfirmen, Saal- und Festivalmanager; diejenigen, die die Orte, über die ich schrieb, besser kennen als ich – Londoner, Rochdalianer, Venezianer, Wiener; diejenigen, die die Welt der Gehörlosen verstehen: in medizinischer Hinsicht, wie die vielen Ärzte, die mir mit Rat zur Seite standen, oder weil sie mit ihrer Ausbildung befasst sind – vor allem meine Lehrerin im Lippenlesen und ihre Klasse – oder Taubheit aus eigener Erfahrung kennen.

Viele Menschen sprachen mit mir über die Welt meiner Charaktere; ein paar über die Charaktere selbst. Einige Freunde stimmten großzügigerweise zu, die Rohfassung des Manuskripts zu lesen – eine Aufgabe, die zu absolvieren ich kaum ertrage, auch nicht bei meinen eigenen Werken. Andere verziehen mir, dass ich aus ihrem Leben verschwand, als Autor, als Stimme und als Person.

Auf die Gefahr hin, redundant zu erscheinen, möchte ich besonders drei Musikern danken – einem Pianisten, einem Schlagzeuger, einem Streicher -, die mir auf ganz unterschiedliche Weise halfen, wo Vorstellungskraft allein nicht ausreichte: mir ein Bild davon zu machen, wie es ist, in den Zonen zu leben, gelebt zu haben und auch weiterhin zu leben, die an der Grenze der Welt der Gehörlosigkeit mit den Welten des gehörten, falsch gehörten, halb gehörten oder vorgestellten Klangs liegen.

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