Die Kunst in einer Zeit des Überlebens

Von Redaktion · · 2010/07

Trotz katastrophaler Sicherheitslage und Repressionen geht das kulturelle Leben in Bagadad weiter. Hadani Ditmars gewährt Einblicke in die Überlebensstrategien von KünstlerInnen.

Am Hauptcheckpoint des Flughafens treffe ich Showket, einen jungen Mann, der für Journalistic Freedom Observatory (JFO) arbeitet, eine irakische Nichtregierungsorganisation (NGO), und Ahmed, einen 21-jährigen Englischstudenten, der mein Dolmetscher sein soll.

Ahmed ist um einiges größer als 1,90 m, eine ziemlich beeindruckende Erscheinung in seinem frisch gebügelten Hemd samt Krawatte, und er unterhält mich mit Beyoncé-Songs, während wir die Flughafenstraße entlang fahren. Ahmed hat schon einige Male für ausländische Soldaten gearbeitet, aber sein Englisch ist etwas seltsam. Bald werde ich mitbekommen, dass es hier keine guten ÜbersetzerInnen mehr gibt, eine Folge des Braindrain und der anhaltenden Gewalt gegen AkademikerInnen und FreiberuflerInnen.

Zuerst fahren wir durch ein Gebiet, wo Saddam früher zahlreiche Paläste bauen ließ und das heute von US- und irakischen Truppen kontrolliert wird. Nicht weit davon entfernt befand sich eine Bastion von El Kaida, und während der Invasion kam es hier zu blutigen Kämpfen. Die dicken „T-Wände“ aus Beton, die das Viertel umranden, sind voller Wandmalereien mit glücklichen Irakis, die in Fabriken arbeiten und Felder bestellen. Danach führt die Straße durch ein mehrheitlich sunnitisches Gebiet, wo die Regierung jahrelang kaum etwas zu sagen hatte, was die Fahrt vom Flughafen in die Stadt zu einem lebensfährlichen Abenteuer machte. Fahrer verlangten dafür bis zu 3.000 US-Dollar.

Ahmed gehört zur neuen Generation, und er weigert sich aus Prinzip, mir zu sagen, ob er Sunnit oder Schiit ist. „Ich bin ein Mensch“, erklärt er vornehm, und erzählt mir von einem Pärchen auf seiner Universität, sie Schiitin und er Sunnit, die „sich lieben und denen egal ist, was ihre Eltern sagen“.

Vielleicht sind es die hoffnungsvollen Wandmalereien auf den T-Wänden, die Beyoncé-Songs und die Sicht auf den Tigris auf der Fahrt in die Stadt, die mich in ein trügerisches Gefühl der Sicherheit verfallen lassen. Minuten später hält mich ein Polizist an, der mich verdächtigt, Verbotenes gefilmt zu haben. Eine Milizstreife hatte meine kleine Videokamera entdeckt. Als ich ihm die harmlosen touristischen Aufnahmen des Tigris vorspiele, lässt er uns ziehen. Aber das Nervenkostüm von Showket und Ahmed ist sichtlich beansprucht.

Ich begreife erst, wie viel Glück wir hatten, als ich ein paar Tage später von einem nicht gerade freundlichen irakischen Polizisten wegen des Verbrechens festgenommen werde, einen Masgouf-Verkäufer (Masgouf=gegrillter Fisch) auf einem Markt fotografiert zu haben. Der Markt lag offenbar zu nahe an einem Checkpoint. Seit Premierminister Maliki seine Kampagne für „Recht und Ordnung“ startete, offenbar um außer Kontrolle geratene Milizen auszuschalten (ohne seine eigene kleine Armee aufzugeben), gibt es in Bagdad leider alle paar hundert Meter Kontrollstellen, und wer gegrillten Fisch am Spieß ablichtet, tut das auf eigene Gefahr.

In den schlimmen alten Zeiten des Baath-Regimes war es seltsamerweise weit einfacher, Straßenszenen und öffentliches Leben zu filmen und zu fotografieren, sofern man den richtigen Aufpasser hatte. Heute herrscht eine andere Atmosphäre. Die Sorge um die „Sicherheit“ hat höchste Priorität, ist allgegenwärtig, sorgt dafür, dass Treffen kurz sein müssen, viele Gebiete „verbotene Zonen“ sind und ausländische JournalistInnen gezwungen werden, in eingezäunten und bewachten Geländen zu leben, hermetisch abgeriegelt von den Irakis, vor allem seit den Bombenanschlägen auf Hotels im Februar. Die „T-Wände“ sind zum visuellen Symbol des neuen Irak geworden. Sie trennen Stadtviertel voneinander, schirmen AusländerInnen vom Gewimmel der Massen ab und machen es zu einem logistischen Albtraum, sich durch Bagdad zu bewegen.

Aber in dieser einstigen Wiege der Zivilisation sind sie auch zur jüngsten „Leinwand“ für irakische KünstlerInnen geworden. Ich frage, ob wir bei der Galerie Akad in Abu Nawas anhalten können, die sich auf dem Weg zu meiner bewachten Unterkunft befindet. Showket und Ahmed, die im kulturellen Vakuum des Kriegs und der Sanktionen aufgewachsen sind, waren noch nie hier. Glücklicherweise ist Hayder Hashim anwesend, der langjährige Eigentümer der Galerie, und begrüßt uns.

Es ist niemand in der Galerie, was mich nicht überrascht. Schließlich wurden die Straßen in der Gegend durch T-Wände, Barrieren und Kontrollstellen fast unpassierbar gemacht. Sie ist bloß eine von drei Galerien in der Stadt, die noch offen sind, sagt mir Hayder – früher gab es dutzende. Aber er freut sich, mich herumführen zu können. Ausgestellt wird eine Serie harmloser, folkloristischer Szenen aus dem irakischen Dorfleben – beliebt bei der vorwiegend ausländischen Kundschaft, von der die Galerie früher lebte.

Hayder führt mich dann in einen Lagerraum im ersten Stock und zeigt mir die Arbeiten von Ahmed Nasaf – eine beeindruckende Serie mythisch-poetischer Variationen zum Thema T-Wände. Menschliche Glieder und andere Körperteile fliegen über blutgetränkte T-Wände, deren Rot nach und nach in das Rot-Weiß-Blau einer US-amerikanischen Flagge übergeht. Es ermutigt mich, dass Bagdad noch immer ein Ort ist, wo man eine ziemlich unmittelbare künstlerische Antwort auf die gegebenen politischen Verhältnisse antreffen kann, wie schrecklich sie auch immer sein mögen.

Nach dieser Kurzinspektion kommen wir zu dem eingezäunten, bewachten Gelände, wo ich mich widerwillig unterbringen ließ. Es ist eine Art Schutzhaus für JournalistInnen, das von einem Haufen ziemlich ungehobelter Ex-SASler [Special Air Service, britische Sondereinheit, Anm. d. Red.] betrieben wird. Meine Lieblingshotels hier wurden kürzlich allesamt in die Luft gesprengt, und es wäre sowohl für mich als auch meine irakischen Freunde gefährlich, würde ich die von ihnen liebenswürdigerweise angebotene Gastfreundschaft annehmen. Ich teile das Quartier mit VertreterInnen unterschiedlichster Medien, von Fox News bis zur öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Finnlands, allesamt durch Umstände außerhalb unserer Kontrolle gezwungen, sich unter schützende Überwachung zu begeben, und allesamt KomplizInnen des Verbrechens, sich Geschichten auszudenken. Früher war es der Polizeistaat, den wir irgendwie zu überlisten lernten. Jetzt gibt es einen völlig neuen Angstfaktor: Entführer, Banden, Milizen, irakische Polizei und verschiedene andere Schreckensgestalten, und dazu noch die Angst, in einem Verkehrsstau stecken zu bleiben und ein leichtes Ziel für eine selbstgebastelte Bombe abzugeben.

Aber man kann die Spatzen durch den Stacheldraht rund um das Gelände zwitschern hören. Im Garten blühen blutrote Rosen, die einen betörenden Geruch verströmen, wie um den Dreck und den Staub, die T-Wände und die bewaffneten Männer durch ihre bloße Schönheit zu provozieren.

In diesem Land verleihen einem zwar laminierte Ausweise und Abkürzungen wie CNN Glaubwürdigkeit, aber vom New Internationalist hat hier noch niemand etwas gehört. Das bedeutet, dass ich unter dem Radar „durchschlüpfen“ kann – meistens jedenfalls. Es bedeutet aber auch, dass ich einigen Belästigungen durch die Polizei ausgesetzt bin, die ansonsten irakischen JournalistInnen vorbehalten sind. Wie mir der Chef von JFO in Erinnerung ruft, wurden seit meinem letzten Aufenthalt im Irak hunderte JournalistInnen verhaftet, verprügelt, eingesperrt und umgebracht.

„Hier herrscht jetzt Freiheit“, grinst Haydar Daffar, ein „enfant terrible“ unter den irakischen Filmemachern, dessen Dokumentarfilm Dreams of Sparrows sich mit dem Chaos und der Tragödie im Irak nach der Invasion befasst: „Die Freiheit sich auszudrücken, und die Freiheit zu töten.“ Der Enddreißiger gibt gerne provokante politische Stellungnahmen ab, die er mit jüngst erlernten englischen Schimpfwörtern, Zügen an seinen Camel-Zigaretten und melancholischen Blicken garniert.

Die Artikel dieses Themas wurden zuerst im Monatsmagazin „New Internationalist“ (Ausgabe 432, Mai 2010) veröffentlicht. Wir danken den KollegInnen in Oxford für die gute Zusammenarbeit. Der „New Internationalist“ kann unter der Adresse: Tower House, Lathkill Street, Market Harborough, Leicestershire LE16 9EF, England, U.K., bezogen werden (Jahresabo: 37,85 Pfund; Telefon: 0044/ 171/82 28 99). www.newint.org. Redaktionelle Bearbeitung und Kürzung der Artikel: Irmgard Kirchner. Übersetzung: Robert Poth.

Er fährt mich zu einer alten osmanischen Villa am Ufer des Tigris, die vor kurzem zu einem Theater umgebaut wurde. Hier probt eine Gruppe junger SchauspielerInnen und TänzerInnen ein neues Stück über Mudaffer al Nawab, einen kommunistischen Schriftsteller, der 1963 nach dem Putsch der Baathisten ins Gefängnis geworfen wurde und heute von seiner Heimat Syrien aus scharfe Kritik sowohl an der US-Besatzung als auch an der irakischen Regierung übt. Das Stück verbindet Theater, Film und Tanz, wobei Bilder von aktuellen Bombenanschlägen gleichzeitig mit Aufnahmen von Nawab bei der Rezitation von Versen über den „Widerstand gegen die globalen Mächte der Finsternis“ gezeigt werden.

Im Irak – wie auch in Kuba – wurden die Künste stets großzügig vom Staat gefördert, und abgesehen von den brutalistischen Monumenten, die von Saddam in Auftrag gegeben wurden [Brutalismus ist ein Architekturstil der Moderne, dessen Blütezeit zwischen 1953 und 1967 lag, Anm. d. Red.], sind die Musik- und Ballettschulen, wo junge Leute jeder Herkunft eine kostenlose Ausbildung erhielten, ein glücklicherweise dauerhaftes Erbe dieser früheren staatlichen Förderung. Vor dem Hintergrund von Horrorgeschichten über KünstlerInnen, die von Milizen bedroht werden, und über ein Verbot von Musik und Tanz sogar bei Hochzeiten ist diese Probe ein ermutigendes Zeichen: Der unbezähmbare irakische Geist, den ich kennen und lieben gelernt hatte, erlebt offenbar eine Auferstehung.

Bushra Ismail, eine Veteranin der irakischen Theaterszene, spielt in dem Stück die Mutter al Nawabs. Unter Saddam wäre die Zensur ein Problem gewesen, meint sie, „aber heute müssen wir aufpassen, die religiösen Parteien nicht zu provozieren. Es gibt eine ganze Reihe neuer ‚roter Linien‘, die wir nicht überschreiten dürfen“. Gleichwohl: Die Vorfreude auf die Premiere im Nationaltheater, wo seit Ende 2008 wieder Abendvorstellungen stattfinden (nach einem langen Zeitraum, während dem aus Sicherheitsgründen nur am Tag gespielt wurde) ist groß.

Nabeel Taher, Manager des Theaters, hegt trotz der unzureichenden Kunstförderung durch die Regierung große Hoffnungen für die Zukunft des irakischen Kulturlebens. „Wir fühlen uns viel freier als früher“, versichert er, obwohl es 2008 zwei Bombenanschläge auf das Theater gab, einmal bei der Premiere des Stücks „Hey – give me back my house“, in dem die verbreitete Beschlagnahme von Eigentum durch die Milizen kritisiert wurde. Er verweist auf eine politische Satire des irakischen Dramatikers und Regisseurs Hayder Monather, in der der damalige Parlamentspräsident Mahmoud al-Mashhadani verspottet wurde. „Al-Mashhadani schickte den Schauspielern Blumen und eine Gratulationskarte“ – das wäre vor zehn Jahren unvorstellbar gewesen.

Zu einem weiteren Präzedenzfall kam es im März 2008, wie er mir erzählt. Damals fand am Internationalen Tag des Theaters eine riesige, von Muqtada as-Sadr geführte Demonstration gegen die Besatzung statt, die genau vor dem Nationaltheater vorbeiführte. „Einige Milizionäre kamen herüber und drohten, uns an einem Mast aufzuhängen, wenn wir unsere Feierlichkeiten nicht stoppten. Aber ich habe versucht, mit ihnen zu reden und sagte: ‚Begreift doch, wir sind nur Künstler, keine Politiker, und schließlich sind wir ja alle Iraker.‘“ Das Endergebnis war ein vom Nationaltheater unterstütztes Theaterstück in Sadr City über das Leben Imam Husseins (Enkel des Propheten Mohammed und Märtyrer, eine zentrale Figur des schiitischen Islam), an dem sowohl professionelle SchauspielerInnen wie auch lokale Amateure mitwirkten, darunter einige Milizionäre.

Einer von ihnen, versichert mir Taher, war derart fasziniert vom Theater, dass er seine Miliz verließ, um ein professioneller Schauspieler zu werden. „Aber sie können ihn nicht interviewen“, warnt er mich, „er will nicht über seine Vergangenheit reden.“

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