Die Maulwürfe von Rafah

Von Eva Pilipp · · 2013/07

Die Schmuggler und Tunnelarbeiter vom Gaza-Streifen versorgen die Bevölkerung mit essenziellen Gütern und kuriosen Waren. Und setzen dabei ihr Leben aufs Spiel.

Gazas Küste glüht in der Nachmittagssonne. 40 Kilometer gelber Sandstrand an der Mittelmeerküste, zum Spazierengehen, Drachensteigenlassen und Fußballspielen. Der Weg Richtung Rafah im Süden des Gazastreifens ist idyllisch. Von Dauerkrieg, Terror und Armut – Begriffe, mit denen man Gaza in Verbindung bringt – keine Spur. Von Gaza-Stadt über den Ort Khan Younis bis nach Rafah im Grenzgebiet zu Ägypten sind es ungefähr 20 Autominuten. Die Stadt Rafah ist zweigeteilt – ein Teil liegt in Gaza, der andere in Ägypten. Hier haben die Menschen einen Weg gefunden, sich trotz sechsjähriger israelischer Blockade zu versorgen: durch die Tunnel.

Mit den richtigen Kontakten erhalten ausländische Journalistinnen und Journalisten rasch die Erlaubnis, die Tunnel zu besuchen: „Die Hamas-Behörden haben kein Problem mit ausländischen Besuchern, im Gegenteil“, erklärt Ibrahim, TV-Reporter und langjähriger Journalist aus Khan Younis, auf dem Weg zu den Tunneln.

Der 25-jährige Abu Ja’afar ist Hamas-Sicherheitsdienstmitarbeiter. Er kennt die Tunnel und führt ausländische und palästinensische Journalistinnen und Journalisten herum. „Nach meinem Psychologiestudium in Gaza war es mein Traum, in Deutschland weiterzustudieren. Das hat wegen der israelischen Blockade und der politischen Situation nicht funktioniert. Die Arbeit hier ist schwierig, aber ich sehe keine Alternative“, so der zweifache Vater. „Beinahe wöchentlich gibt es Unfälle wie Gasexplosionen oder Tunneleinbrüche. Gestern ist ein Arbeiter gestorben. Das passiert oft, durchschnittlich stirbt alle zwei Wochen ein Arbeiter.“

Die Hitze im Tunnel ist drückend, der Staub nimmt einem die Luft zum Atmen. Der Schein des Neonlichts, das von einzelnen Energiesparbirnen an der Tunneldecke kommt, gibt dem Szenario einen surrealen Touch. Tunnelarbeiter Fares macht eine Arbeitspause und trifft uns in der Mitte eines Tunnels, geographisch befinden wir uns schon auf der ägyptischen Seite. „Meine sechs Kinder brauchen Essen und Schulmaterial. Es gibt kaum Jobs in Gaza, und die Tunnelarbeit ist gut bezahlt. Dass sie hart und gefährlich ist, brauche ich nicht zweimal sagen“, so Fares. Als plötzlich das Licht ausfällt, lacht Abu Ja’afar, unser Guide, nur. Er lädt uns ein, doch ab jetzt mit Blitz zu fotografieren.

Im Inneren eines Schachtes.

Gaza grenzt im Norden und Osten an Israel, im Süden an Ägypten. Rund 1.500 Tunnel verbinden Gaza mit Sinai, manche sind 50 Meter, andere einen Kilometer lang. Kleinere können nur gebückt durchquert werden, andere bieten sogar LKWs Platz. Die Tunnel haben in Raffa Tradition. 1982 wurde die Stadt im Zuge von Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel geteilt. Legten die Menschen in der Anfangszeit Schächte in den Kellern der Wohnhäuser an, wurde das Tunnelsystem nach der Schaffung einer Pufferzone durch Israel immer länger.

Die Tunnel gewannen nach 2006 an Bedeutung. Damals siegte bei den Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten die Hamas über die Fatah. Seitdem kontrolliert die Hamas auch den Gaza-Streifen. Als Reaktion darauf verhängte Israel immer strengere wirtschaftliche Blockaden, ließ Häfen schließen und führte Einfuhrverbote ein. Seitdem sind die Tunnel eine wichtige Lebensader für die 1,7 Millionen EinwohnerInnen des am Mittelmeer gelegenen Küstenstreifens. Mit dem Argument, Waffenschmuggel zu unterbinden, zerstört das israelische Militär Tunnel, die entdeckt werden. Immer wieder entstehen neue. Manche sind gut abgestützt, andere fragile Konstruktionen, die jeden Moment einstürzen können.

Die Rolle Ägyptens in Bezug auf den Gaza-Streifen wird in internationalen Medien nur selten thematisiert. Dabei empfinden die Menschen in Gaza die ägyptische Kontrolle als ebenso destruktiv wie die israelische. Ägypten verdient sowohl am legalen Verkehr über die Grenze als auch am Tunnel-Schmuggel mit. Kairo kooperiert nach wie vor mit Israel, die Beziehung zur Hamas ist ambivalent. Immer wieder kommt es zu willkürlichen Schließungen der Grenze zu Gaza als Machtdemonstration. Wie bei der gesamten Blockade der Region sind die Leidtragenden oft die Menschen: etwa wenn durch Grenzschließungen Personen verwehrt wird, in ein ägyptisches Krankenhaus zu kommen oder Zugang zu einem Flughafen zu haben. Durch den Lichtausfall geht es im Dunkeln weiter, gebückt setzen wir einen Fuß vor den anderen. Von allen Seiten wirbelt Staub auf. Endlich flackern die Neonlampen wieder. Fares geht zurück an die Arbeit.

Zwischen 200 und 400 israelische Schekel bekommt ein Tunnelarbeiter pro Tag, umgerechnet zwischen 50 und 100 Euro. Die Arbeitszeiten betragen zwischen acht und sechzehn Stunden am Tag. Die Lebenshaltungskosten und vor allem Benzinpreise sind in Gaza auf Grund des aus Ägypten geschmuggelten Benzins zwar niedriger als im Westjor­dan­land. Doch die Arbeitslosigkeit ist mit rund 40 Prozent extrem hoch. Laut Fares leiden die Tunnelarbeiter unter Rückenschmerzen, durch die Staubbelastung verursachte Atemnot, Sehproblemen, Schwindel und Kniebeschwerden. Die Schichtarbeit ist nicht nur anstrengend, die Arbeiter leben mit der ständigen Angst, verletzt zu werden oder gar umzukommen. „An die Schmerzen bin ich gewöhnt, aber meine Angst, lebendig begraben zu werden, begleitet mich inner- und außerhalb des Tunnels – sogar wenn ich mit meinen Kindern spiele.“

Geschmuggelt werden neben Lebensmitteln vor allem Medikamente, Kleidung und Baumaterial. Täglich kommen LKWs mit Zement oder Benzin von Ägypten nach Gaza. Im Mai machten Meldungen über Lieferungen von Fast Food einer US-Kette in westlichen Medien die Runde. Aber auch ganz andere kuriose Waren, etwa Zootiere wie Strauße und Löwen, teure Autos oder Haschisch werden durch die Tunnel nach Gaza transportiert. Und der Verkehr geht durchaus auch in die andere Richtung: Vor unseren Augen macht sich eine isländische Touristin auf den Weg in Richtung Ägypten. Am anderen Ende des Tunnels wartet ein Auto, das sie nach Kairo bringen soll. Für ungefähr 100 US-Dollar organisieren Schmuggler die ganze Logistik für die Reise von Kairo nach Gaza und umgekehrt.

„Wer den umständlichen, oft diskriminierenden Weg mit den ägyptischen Behörden in Rafah umgehen will, kommt durch die Tunnel: AusländerInnen und Palästinenser gleichermaßen“, erklart Fares.

Ibrahim, ein Journalist, steht vor einem Berg ägyptischem Zucker, der gerade in Gaza eingetroffen ist. Er erklärt: „Die Tunnelbesitzer aus Gaza sind mittlerweile Millionäre und jeder verdient mit – außer der Bevölkerung. Bis auf ein paar Hamas-Tunnel, die nicht besichtigt werden dürfen, sind alle Tunnel in Privatbesitz.“ Der Schmuggel sei ein gutes Geschäft für verschiedene Seiten: „Die Hamas kassiert Steuern, Ägypten nascht inoffiziell mit und in Gaza sind einige Leute unglaublich reich geworden. Darunter auch Grund- und Hausbesitzer aus Rafah, die ihr Grundstück zu hohen Preisen verkaufen konnten, um Platz für die Tunnel zu machen“, so Ibrahim.

Für die AnrainerInnen seien die Tunnel gefährlich: „Die wenigen, die noch nahe der Tunneleingänge wohnen, sind heute von israelischen Drohnen und Bombenangriffen bedroht.“

Eine Ware, die durch die Tunnel kommt, ist Gaza zum Verhängnis geworden: die Droge Tramadol. Sechs Schekel kostet eine der Pillen, die in Ägypten hergestellt werden. Wer Tramadol einnimmt, wird in einen ruhigen, rauschhaften Zustand versetzt. 150.000 Menschen sind laut einem UN-Bericht in Gaza bereits süchtig danach. Tunnelarbeiter nehmen es, um gegen Angst und Erschöpfung zu kämpfen. In Schulen wurde das Medikament bei Schulkindern gefunden. Mohamad, ein Dokumentarfilmer, betont, dass das Schmerzmittel erst im Zuge der israelischen Blockade nach Gaza gekommen sei. „Die Hamas kontrolliert alle Tunnel. Wie ist es also möglich, diese Droge ohne ihr Wissen zu schmuggeln?“ fragt sich Mohamad. „Das größte Tabu der Hamas-Regierung ist Alkohol. Durch die Tunnel kommt jedenfalls kein Alkohol. Die Hamas hat einen Weg gefunden, die Bevölkerung ruhig zu stellen, und somit an der Macht zu bleiben.“ So wie Mohamad denken viele in Gaza. Besonders jene, die von der Hamas genug haben und sich eine neue politische Führung wünschen. Und davon gibt es einige.

Auf der Route von Rafah zurück nach Gaza-Stadt lädt der Sonnenuntergang über dem Meer zum Verweilen am Strand ein, Pärchen und Familien genießen die Atmosphäre: Abendlicht, blaues Meer, der kilometerlange Sandstrand. Die Dunkelheit und die Enge der Tunnel scheinen von hier aus unendlich weit entfernt zu sein. 

Eva Pilipp studierte Politikwissenschaft und Journalismus in Wien. Nach einem längeren Aufenthalt in Syrien lebt und arbeitet sie heute in Bethlehem, Westjordanland, als freie Journalistin und Projektmanagerin für die Non Profit-Medienorganisation Ma’an Network: www.maannet.org

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