Die müden Kinder des Neoliberalismus

Von Yohan Koshy · · 2018/Jul-Aug

Die Generation Y, auch Millennials genannt, geboren zwischen 1980 und 2000, ist zu einem Leben verurteilt, in dem sie nicht erwachsen werden kann. New Internationalist-Autor Yohan Koshy erklärt warum.

Die Ereignisse an diesem Tag überraschten PolitikerInnen, Medien, die Polizei und sogar ihre ProtagonistInnen selbst: „An der Besetzung der Zentrale der Conservative Party im Jahr 2010 zerbrach der in der britischen Politik fest verankerte Konsens, dass die Jugend politisch desinteressiert wäre“, konstatiert Matt Myers, Autor des Buches „Student Revolt: Voices of the Austerity Generation“. Die Ereignisse markierten den Beginn einer der bedeutendsten studentischen Bewegungen in Großbritannien. Sie entstand in Opposition gegen den Plan der Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten, die Studiengebühren zu verdreifachen, die Bildungsausgaben zu kürzen und eine wichtige Bildungsbeihilfe für SchülerInnen aus ärmeren Verhältnissen abzuschaffen, die „Education Maintenance Allowance“. Mit Straßenprotesten, Besetzungen und anderen direkten Aktionen hielt die Bewegung die Öffentlichkeit einige Monate lang in Atem.

Weltweites Phänomen. Selbst damals war klar, dass die Rebellion in Großbritannien Teil eines weltweiten Phänomens war. Von 2009 bis 2013 kam es auch in Chile, in der kanadischen Provinz Québec, in Kalifornien, den Philippinen und in 50 weiteren Ländern zu studentischen Protestbewegungen. Ungeachtet ihrer Besonderheiten war ihnen eines gemeinsam: Sie richteten sich gegen eine neoliberale Politik – gegen die Kürzungen öffentlicher Ausgaben, Privatisierungen und die Abwälzung der Bildungskosten auf die Studierenden. Auslöser der Proteste 2013 in den Philippinen etwa war der Selbstmord einer 16-Jährigen: Sie hatte Silberreiniger getrunken, „nachdem sie von der Universität ausgeschlossen wurde, da sie die bereits fälligen Studiengebühren in Höhe von 10.000 Pesos (umgerechnet 230 US-Dollar) nicht bezahlen konnte“. 1

Auch bei den allgemeinen Aufständen und Protestbewegungen im Gefolge der Finanzkrise von 2008 spielte die junge Generation eine Schlüsselrolle. Die Jugendbewegung des 6. April war eine der aktivsten Gruppen während der Revolution von 2011 in Ägypten. Bei den Occupy-Bewegungen in Großbritannien und den USA standen junge Menschen an vor-derster Front, ebenso bei den Bewegungen Geração à Rasca („Verlorene Generation“) in Portugal und Juventud sin Futuro („Jugend ohne Zukunft“) in Spanien.

Alle diese neuen Bewegungen hielten nichts von Hierarchien, Führungspersönlichkeiten und deklarierten Ideologien. Was ihnen Lobeshymnen von jenen eintrug, die in ihren auf digitale Technologien gestützten Strukturen eine neue Art erkannten, Politik zu machen. Die Beteiligten hätten eine „instinktive Abscheu“ vor jeder Person, „die wie ein Berufspolitiker klingt, Phrasen drischt“ oder „eine Ideologie vertritt“, wie der Journalist Paul Mason 2012 anmerkte. 1

Doch die jungen Radikalen übernahmen nicht die Weltherrschaft. Sie erreichten nicht einmal ihre unmittelbaren Ziele: die Studiengebühren in Großbritannien wurden wie geplant erhöht, Occupy versank als politische Kraft in der Bedeutungslosigkeit, und Südeuropa wurde einer Austeritätspolitik unterworfen, die dafür sorgt, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, Italien und Griechenland nach wie vor bei 30 bis 40 Prozent liegt.

Aber seither ist ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit in dieser Generation entstanden. Es beruht auf der kollektiven Wahrnehmung, in der schlimmsten Zeit aufgewachsen zu sein. Und diese Altersgruppe junger Menschen hat nun auch einen Namen, auch wenn er umstritten ist: Millennials.

Kinder des Crashs. Wie alle Schubladen für eine ganze Generation, in diesem Fall für alle, die zwischen 1980 und 2000 geboren wurden, ist „Millennials“ ein schwammiger Begriff. Geprägt wurde er von der Marketingbranche, insbesondere von den zwei US-Unternehmensberatern William Strauss und Neil Howe im Jahr 1991. 2

Die AkteurInnen, die den Begriff zuerst verwendeten, vor allem die Medien und die Werbebranche, hatten auch keine sinnvolle Analyse im Sinn – es ging bloß um die Vorlieben und Wertvorstellungen, die dieser Generation unterstellt wurden.

Daher haben Millennials für diese Bezeichnung oft nur ein Lachen übrig – zu Recht, denn was von dieser Generation behauptet wird, ist in der Regel einfach absurd. Etwa soll das Ende des Urlaubs drohen, weil sich die Millennials weigern, Urlaub zu nehmen, sie würden den Wohnungsmarkt zerstören, weil sie keine Eigenheime kaufen, und Arbeitsplätze vernichten, weil sie partout selbständig arbeiten wollten. Derart wird nur zu oft die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt.

Existenzängste in Zahlen

75% der Millennials weltweit arbeiten mehr als 40 Stunden die Woche. 1

25% der Millennials haben zwei oder mehr bezahlte Jobs. 1

37% der Millennials in Japan glauben, dass sie nie in Pension gehen werden. 1

Jede Stunde nimmt sich in Indien ein Student oder eine Studentin das Leben – mangelhafter Studienerfolg und Existenzängste gelten als Hauptgründe. 2

1 ManpowerGroup, „Millennials Careers: 2020 Vision“, 2016.

2 Devanik Saha, „Every hour, one student commits suicide in India“, Hindustan Times, Mai 2017.

Anstatt zu erkennen, dass die jüngste Krise des Kapitalismus im Westen dafür gesorgt hat, dass junge Menschen ärmer sind als ihre Eltern, oder dass es die Arbeitgeber sind, die von kurzfristigen Arbeitsverträgen profitieren, wird so getan, als ob die zunehmende Unsicherheit ein Ergebnis der Entscheidungen der Millennials wäre.

Doch die Wirklichkeit, in der junge Menschen leben, wird weitgehend von wirtschaftlichen Entwicklungen determiniert, nicht von freien Willensentscheidungen. „Der bedeutendste Faktor, mit dem Millennials heute konfrontiert sind, ist der Rückgang der Löhne im Verhältnis zur Leistung, die wir in der Arbeit erbringen“, sagt Malcolm Harris, Autor von „Kids These Days: Human Capital and the Making of Millennials“. „Ebenso hat sich die Zeitarbeit verbreitet, und es gibt immer mehr ‚schlechte Jobs‘. Wir haben das mit der Eigenart der Millennials in Zusammenhang gebracht, als ob zwischen beidem eine existenzielle Verknüpfung bestünde.“ Auch dem Stereotyp, dass diese Generation faul und arbeitsscheu wäre, kann Harris nichts abgewinnen: Millennials wären tatsächlich „verdammt gute Arbeiter mit einem beispiellos hohen Ausbildungsniveau“. 3

In den reichen Ländern ist eine Stagnation oder sogar ein Rückgang der Reallöhne zu beobachten, was sich u.a. mit dem sinkenden gewerkschaftlichen Organisierungsgrad und der wirtschaftlichen Entwicklung nach der Finanzkrise erklären lässt. Betroffen sind insbesondere junge ArbeitnehmerInnen. In den 1980er Jahren geborene BritInnen verfügen im Alter von 31 Jahren nur über die Hälfte des Vermögens, das in den 1970er Jahren Geborene im selben Alter besaßen. 4

Falsche Zuschreibungen. In Australien hat der diesbezügliche Diskurs mittlerweile parodistische Züge angenommen: Ein Partner des Wirtschaftsprüfungskonzerns KPMG in Melbourne meinte, dass junge Menschen, die ein Eigenheim erwerben wollten (die Eigenheimquote von Millenials in Australien ist die zweitniedrigste der Welt), damit aufhören sollten, Avocado-Sandwiches in hippen Cafés zu kaufen. Dass die Eigenheimpreise in Australien „in den vergangenen zwölf Monaten um mehr als zehn Prozent gestiegen sind, während die Reallöhne voraussichtlich um nur 1,6 Prozent zulegen werden“, hatte er in seiner Analyse offensichtlich nicht berücksichtigt. 5

Überqualifiziert, überarbeitet und unterbewertet – aus dieser Situation entkommt man nicht, wenn man weder die Zeit noch die Energie hat, eine bessere Zukunft zu fordern, weil man ständig auf Abruf bereit zu stehen hat. „Für Millenials läuft die Aufhebung der Trennung von Leben und Arbeit tendenziell darauf hinaus, dass die Arbeit alles dominiert“, sagt Harris. „Wir arbeiten die ganze Zeit: Wir werden ständig angerufen, sitzen dauernd am Computer, sehen uns dauernd Stellenanzeigen an.“

Millennials sind in Gesellschaften aufgewachsen, die den Individualismus als höchstes Gut und Solidarität als überkommenes Artefakt betrachten; insofern sind sie wohl am besten als überreizte, müde Kinder des Neoliberalismus aufzufassen.

Warten aufs Erwachsenwerden. „Für jemanden in den Zwanzigern ist das Leben im Kongo hoffnunglos“, betont Bwenge (Name geändert, Anm. d. Red.), ein junger Uniabsolvent in der Demokratischen Republik Kongo. „Wenn sie die Chance hatten, eine Schule oder eine Universität zu besuchen, dann haben sie entweder keine Arbeit oder eine sehr schlechte. Meine Freunde von der Uni verkaufen heute Wertkarten für Mobiltelefone auf der Straße oder irgendetwas auf dem Markt, und andere arbeiten als Sicherheitsleute, 50 Stunden die Woche für 100 Dollar im Monat.“

In Teilen Afrikas und des Nahen Ostens wird weniger von „Millennials“ gesprochen, dafür mehr von „Waithood“ – einem immer längeren Warten auf das Erwachsenwerden. In diesem neuartigen Fegefeuer stellen Männer fest, dass sie von den Insignien des Erwachsenseins – einer akzeptablen Arbeit, einem eigenen Haus oder einer eigene Familie – ausgeschlossen sind, und damit auch von der damit verbundenen gesellschaftlichen Anerkennung.

Wenn Männern die Mittel fehlen, ein Haus zu bauen – eine Voraussetzung für eine Heirat, etwa in ländlichen Gebieten Ruandas und Burundis – leiden auch die Frauen, da sie „von der Gesellschaft nicht als Frauen akzeptiert werden können, solange sie nicht offiziell verheiratet sind und Kinder haben“. 6

Für einige im globalen Süden, bilanziert die Anthropologin Jennifer Cole nach einer Untersuchung der Lebenschancen junger Menschen in städtischen Regionen Madagaskars, ist „Jugend“ ein „Stadium, dem sie nicht entrinnen können“. 7

Auch dafür ist zum Teil eine neoliberale Wirtschaftspolitik verantwortlich. Jahrzehntelang wurden auf Druck des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank strukturelle Anpassungsprogramme verfolgt, die zu einer De-Industrialisierung im Globalen Süden geführt haben. Afrikas Anteil an der weltweiten Industrieproduktion ist heute geringer als vor fast 50 Jahren. 8

Das ist ein wichtiger Grund, warum es in einem Kontinent, in dem jeden Tag 33.000 zusätzliche junge Menschen eine Arbeit suchen, weniger Jobs gibt als es geben sollte.

DRO, der Sänger der Hip Hop-Band Rassef L’bkariya. Ägyptens Jugend war bei der Revolution 2011 an vorderster Front.© Gianmarco Maraviglia

Überlebensstrategie. Vor diesem Hintergrund kann der „unternehmerische Geist“ der Millennials rund um die Welt als das verstanden werden, was er wirklich ist: eine Überlebensstrategie. „Ein Begriff, den wir im Kongo nun verwenden, ist ‚se débrouiller‘“, erklärt Bwenge. „Man tut einfach alles, um sich zu verkaufen, es geht darum, zu überleben, um jeden Preis.“

Junge MosambikanerInnen verwenden einen ähnlichen Begriff: „desenrascar a vida“, sich durchschlagen. In Westafrika werden Männer, die sich bis in ihre späten Dreißiger mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten, als „youthmen“ bezeichnet. Die optimistische Story vom „Aufstieg Afrikas“ und seiner wachsenden Wirtschaft verschleiert, dass die Mehrheit der jungen Menschen des Kontinents nach wie vor mit frustrierenden Perspektiven konfrontiert ist.

Ein Gefühl der Perspektivlosigkeit und Resignation scheint auch viele der 380 Millionen Millennials in China zu erfassen. In Reaktion auf den übermäßigen Erwartungsdruck, der auf der Generation der Einzelkinder lastet, die steigenden Wohnkosten in den Städten und den wirtschaftlichen Abschwung hat sich ein ironischer Defätismus entwickelt, der sich als „Sang“-Kultur vor allem in den sozialen Medien ausbreitet.

Witzige Texte dienen dazu, eine quasi nihilistische Einstellung zur Zukunft auszudrücken – „ich wollte heute für den Sozialismus kämpfen, aber es ist so schrecklich kalt, dass ich nur in meinem Bett liegen und mit meinem Mobiltelefon spielen kann“. Die Bezeichnung der Subkultur entspricht einem chinesischen Schriftzeichen, das u.a. „Trauer“, „Verlust“ und „Niedergeschlagenheit“ bedeutet. 9

Versuchung von rechts. Wer sich in einer prekären Lebenssituation befindet, erliegt leicht den Versuchungen einer reaktionären Politik. Die „Alt-Right“-Bewegung in den USA, die der Präsidentschaft Donald Trumps einen pseudo-intellektuellen Anstrich verleiht, verdankt ihren Auftrieb auch den Millennials.

Autor Harris befürchtet etwa, dass „Frauenfeindlichkeit einen gegenkulturellen Glanz“ gewinnen könnte: Junge Männer, die Probleme haben, gut bezahlte Jobs zu finden, machen dafür nun „Feministinnen, arbeitende Frauen und einfach Frauen im Allgemeinen“ verantwortlich, die in den Arbeitsmarkt eintreten. 3

Wie Karl Mannheim (1893-1947) anmerkte, der erste Theoretiker der Generationenforschung, ist „nichts falscher“ als die Annahme, dass die junge Generation quasi von Natur aus „progressiv“ wäre.1

Aber viele aus der jungen Generation haben beschlossen, der Mutlosigkeit den Kampf anzusagen. Sie zeigen Wege der Veränderung auf, die weniger von irgendeiner brandneuen Technologie oder einer horizontalen Organisationsform abhängen – wie manche vielleicht angenommen hätten, auf Basis der Jugendrevolten Anfang der 2010er Jahre – sondern vielmehr von einer Aktualisierung von Strategien und Konzepten, die noch vor Kurzem bestenfalls als „altmodisch“ betrachtet wurden.

Streik via WhatsApp. Ein Beispiel sind die Streiks bei Deliveroo, einem mit Risikokapital finanzierten Online-Lieferdienst, der Zustellungen per Fahrrad und Moped in 84 Städten weltweit anbietet. Deliveroo, als typisches Unternehmen der „Gig Economy“, betrachtet seine FahrerInnen nicht als Angestellte, sondern als „unabhängige Auftragnehmer“ – ein Etikettenschwindel, mit dem sich das Unternehmen der Verpflichtung entzieht, Mindestlöhne zu bezahlen.

Deliveroo rechtfertigt sich damit, dass es sich bei vielen seiner AuftragnehmerInnen um Studierende handle, die selbst an Flexibilität interessiert wären. 10

Aber FahrerInnen in Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien und anderswo gehen mit Streiks und Klagen gegen das Unternehmen vor. Diese eher nadelstichartigen Aktionen werden oft über geheime Gruppen über den Instant-Messaging-Dienst WhatsApp organisiert. In Großbritannien haben sie die Solidarität zwischen jungen Menschen, die in Teilzeit arbeiten, und älteren KollegInnen aus migrantischen Communities gefördert, von denen viele Familien zu erhalten haben.

Die Gig Economy ist neu, und daher auch der Widerstand gegen sie. Aber diese zahlreichen gewerkschaftlichen Aktivitäten, die sich auch gegen Null-Stunden-Verträge (ohne Mindestumfang; Anm. d. Red.) richten, die große Arbeitgeber wie McDonald’s und die Einzelhandelskette Sports Direct vor allem jungen Leuten aufzwingen, sind ein Zeichen der Hoffnung für eine Generation, die in einer gewerkschaftsfeindlichen Kultur aufgewachsen ist.

Zurück in die Zukunft. Auch Bwenge, mein Gesprächspartner in der DR Kongo, neigt nicht zu pessimistischem Fatalismus. Vor fünf Jahren schloss er sich LUCHA („Kampf für die Veränderung“) an, einer 2012 gegründeten sozialen Bewegung, die sich gegen die Korruption der politischen Elite der DR Kongo, die schlechte wirtschaftliche Lage und die Unfähigkeit der UNO wendet, für Frieden im Land zu sorgen. Eine „Mitgliederliste“ gibt es nicht, aber bis zu 1.000 AktivistInnen, die im Schnitt 21 Jahre alt sind, wie er mir erzählt.

Neben Petitionen, Protestbriefaktionen und Demonstrationen setzt LUCHA auch wieder auf die Taktik der „villes mortes“, der „toten Städte“ aus der Zeit des Widerstands gegen die 32-jährige Herrschaft des Diktators Mobutu Sese Seko, „eine Art des zivilen Ungehorsams“, wie Bwenge erklärt. „Die Menschen bleiben einfach zuhause, sie gehen nicht zur Arbeit, nicht in die Schule und auf keine Märkte. Im Erfolgsfall führt das zu einem Verlust an Steuereinnahmen. Es ist einfach ein gewaltfreier Widerstand gegen eine sehr repressive Regierung.“

Dass man über soziale Medien und mittels Textnachrichten (SMS) kommunizieren kann, hat sich als sehr wertvoll erwiesen, denn „das ist einfach und fast gratis, zumindest in den großen Städten“.

Was die Mitglieder von LUCHA vereint, ist auch eine Wertschätzung der antikolonialistischen Bewegung in Afrika. So sieht es jedenfalls Carlos Lopes, ehemaliger Exekutivsekretär der UN-Wirtschaftskommission für Afrika: Die heutige afrikanische Jugend scheine mehr Achtung für die politische Generation der Unabhängigkeitsbewegung der 1950er und 1960er Jahre zu haben, die gegen den europäischen Kolonialismus kämpfte, als für ihre eigenen korrupten politischen Eliten.

In der DR Kongo ist das der Fall, bestätigt Bwenge. „Eines unserer Probleme ist, dass es keine positiven Rollenmodelle für junge Menschen gibt. Daher ist Patrice Lumumba (der erste Regierungschef des unabhängigen Kongo, ermordet mit westlicher Unterstützung) sehr wichtig. Wir befassen uns mit seinen Ideen und diskutieren über seine Reden. Auch mit den Ideen des Revolutionsführers von Burkina Faso, Thomas Sankara, oder Martin Luther Kings. Wir stimmen nicht mit allen ihren Ansichten überein, aber wir wenden sie auf unseren Kontext, auf unsere Sicht der Welt an.“

Zulauf zu Parteien. Zurück zu den dramatischen Szenen in der Zentrale der Conservative Party 2010. Wer damals den BesetzerInnen prophezeit hätte, dass viele von ihnen sieben Jahre später die Labour Party wählen, ihr beitreten oder sogar für sie wahlkämpfen würden, wäre bestenfalls belächelt worden.

Die Labour Party war die Partei des Irak-Kriegs, der „Anti-social behaviour orders“ (ABSOs), die vor allem zur Maßregelung und Kriminalisierung „asozialer“ Jugendlicher eingesetzt wurden, und die Partei, die Studiengebühren ursprünglich eingeführt hatte.

Doch genau so kam es tatsächlich. Bei den Wahlen von 2017 gelang es der Labour Party unter der Führung des umstrittenen Parteilinken Jeremy Corbyn, eine parlamentarische Mehrheit der Conservatives zu verhindern.

Zu ihren Wahlversprechen gehörte die Abschaffung der Studiengebühren und der Null-Stunden-Verträge – ein Bruch mit der Politik und den Praktiken, die jungen Leuten heute das Leben erschweren. Das Wahlergebnis wurde als „Youthquake“, als „Jugendbeben“ bezeichnet: 62 Prozent der 18- bis 24-Jährigen, die zur Wahl gingen, gaben Labour ihre Stimme, bei Gleichaltrigen aus der Unterschicht waren es 70 Prozent.

Auch Podemos in Spanien, die Partei, die aus den Protesten von 2011 hervorging, wurde von jungen WählerInnen massiv unterstützt; einige von ihnen vertreten Podemos mittlerweile in Gemeinderäten und im Parlament. In den USA haben sich viele aus der „Occupy Wall Street“-Generation, die mit den US-Demokraten nichts anfangen konnten, den Demokratischen Sozialisten Amerikas (DAS) angeschlossen. Die Organisation, die mittlerweile 37.000 Mitglieder zählt, hat in jüngsten Wahlen quer durch die USA einige Erfolge erzielt und etwa mehrere Sitze in Stadträten und einen Sitz im Parlament des Bundesstaats Virginia erobert.

In Jugend gefangen. Das Jahrzehnt der Jugendrevolten nach der Finanzkrise wird oft mit den 1960er Jahren verglichen, das letzte Mal, als eine ebenfalls unzufriedene Generation sich weltweit Gehör verschaffte, von den Protesten in der Hauptstadt Mexikos bis zum Pariser Mai 1968. Ein Unterschied zu damals ist jedoch, dass die Ungleichheit zwischen den Generationen heute weit ausgeprägter ist. Ein weiterer besteht darin, dass die heutigen jungen Radikalen ihre Jugend nicht mehr als naturgegebene Tugend betrachten: „Trau keinem über 30“, der beliebte Slogan der 68er Bewegung, sagt ihnen einfach nichts.

Worüber sich junge Menschen heute beklagen, ist fast das Gegenteil: Sie haben es satt, jung zu sein. Die Forderung „Lasst uns erwachsen werden!“ ist ein Symptom einer Gesellschaft, die ihre Versprechen nicht einhalten kann: die Zusicherung, dass das einzige praktikable System, das nach dem Ende des Kalten Kriegs noch übrig wäre, allen einen reibungslosen Weg durchs Leben ermöglichen würde, solange sie nur hart genug arbeiten, hat sich als Lüge entpuppt.

Laut einer kürzlichen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov stehen Millennials in den USA, dem Heiligen Land des freien Marktes, dem Sozialismus positiver gegenüber als dem Kapitalismus.

Was wird diese Generation erreichen? Millennials sind leistungsbereit, gezwungen, kreativ zu sein und Gelegenheiten beim Schopf zu ergreifen, um überleben zu können – das sind Qualitäten, die sie zur idealen Avantgarde der Zukunft machen. Oft sind es genau jene Menschen, denen ein besseres Leben versprochen wurde und die dann enttäuscht wurden, die den Mut aufbringen, revolutionäre Forderungen zu stellen.

Copyright New Internationalist

1 Mayssoun Sukarieh und Stuart Tannock, Youth Rising? The Politics of Youth in the Global Economy, Routledge, New York, 2015.

2 The Editors, „Meh!-lennials“, Issue 22: Conviction, Frühjahr 2015. nin.tl/2BFWJhj

3 Malcolm Harris, Kids These Days: Human Capital and the Making of Millennials, Little, Brown and Company, 2017

4 Institute for Fiscal Studies, September 2016. nin.tl/2AxuXWz

5 Naaman Zhou, „Australian millennials have world’s secondlowest home ownership“, The Guardian, 7. April 2017. nin.tl/2AY8ItC

6 Marc Sommers, The Outcast Majority: War, Development, and Youth in Africa, University of Georgia Press, Athens, Georgia, 2015.

7 Zitiert in: Michelle J. Bellino, Youth in Postwar Guatemala, Rutgers University Press, 2017.

8 Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, Jänner 2016.

9 Yawen Chen, Tony Munroe. „For Chinese millennials, despondency has a brand name“, Reuters, September 2017. nin.tl/2ApFAbI

10 Anna Isaac, „Gig economy companies claim flexibility essential for growth“, Daily Telegraph, 10. Oktober 2017.

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