Die Spreu vom Weizen trennen

Von Redaktion · · 2010/06

Ängste vor einer Ressourcenverknappung und Umweltkatastrophen trüben den Blick auf das Thema Bevölkerung. NI-Redakteurin Vanessa Baird prüft die zugrundeliegende Argumentation, um das Bild zurechtzurücken.

Bei einer Erhebung in den Niederlanden wurden drei Fragen zur Bevölkerung gestellt. Die erste: „Gibt es zu viele Menschen auf der Welt?“. Ja, meinte eine Mehrheit. Die nächste: „Gibt es zu viele Menschen in den Niederlanden?“ Ja, wie zuvor. Und schließlich: „Gibt es zu viele Menschen in ihrer Gemeinde?“ Nein, lautete die Antwort. Das Beispiel stammt vom Demographen Nico van Nimwegen, und es veranschaulicht ein offenbar grundlegendes Phänomen: Die Menschen, die „zu viel“ sind, das sind beinahe unvermeidlich andere Menschen. Nicht wir.

Aus der Geschichte haben wir gelernt, dass sich hinter den Ängsten vor dem Bevölkerungswachstum oft etwas anderes verbirgt – zumeist die Angst vor einem Machtverlust oder dem Verlust von Vorrechten, egal, ob diese mit „Rasse“, Klasse, Religion, Kultur, Politik oder mit der Umwelt in Zusammenhang stehen. Eine perfekte Illustration dieser Tatsache liefert die Kampagne, die der Optimum Population Trust, eine britische Non-Profit-Organisation, unmittelbar vor dem Kopenhagener Klimagipfel startete. Unter dem Namen „PopOffsets“ werden Menschen aus den reichen Ländern eingeladen, ihre eigenen Treibhausgasemissionen „auszugleichen“, indem sie Familienplanung in den armen Ländern finanzieren. Die Botschaft der Kampagne, unterstützt von höchst prominenten Persönlichkeiten wie James Lovelock („Gaia-Hypothese“) und David Attenborough (Tierfilmer und Naturforscher), wird zweifellos von vielen so verstanden werden: „Wenn ich sie vom Kinderkriegen abhalten kann, dann brauchen wir unseren Lebensstil nicht zu ändern.“

Es gibt bestechende menschenrechtliche Gründe dafür, Familienplanung zu finanzieren und so weit wie nur möglich zugänglich zu machen; dafür, sich gegen religiöse und patriarchalische Kräfte zu stellen, die einer Frau die Wahl verwehren wollen, ein Kind zu bekommen oder nicht. Aber die Deckung dieses Bedarfs in eine Erlaubnis für die reichen Länder umzumünzen, weiter Schaden anzurichten wie bisher, das ist ethisch nicht zu vertreten – abgesehen davon, dass der unterstellte Zusammenhang so nicht existiert.

Der Bevölkerungs- und Klimaforscher Leiwen Jiang vom National Center for Atmospheric Research in Boulder, Colorado ist einer der führenden ExpertInnen für die Auswirkungen der Bevölkerung auf Energieverbrauch, Landnutzung und Klimawandel. Er hat untersucht, wie sich die drei Varianten der UN-Bevölkerungsprognosen für 2050 (8 Mrd., 9 Mrd. und 11 Mrd.) auf die CO2-Emissionen auswirken würden. Der Unterschied, so Jiang, wäre zwar „wesentlich, aber nicht entscheidend“.

„Wir müssen die Emissionen bis 2050 um sieben Milliarden Tonnen reduzieren, aber der Unterschied durch das Bevölkerungswachstum beträgt bloß plus oder minus eine Milliarde Tonnen, weil das Bevölkerungswachstum großteils in den Entwicklungsländern anfällt. Der Anteil der entwickelten Länder an den CO2-Emissionen ist weit größer als ihr Anteil an der Bevölkerung, weil sie vergleichsweise viel höhere Treibhausgasemissionen verursachen.“ 1)

Das stimmt mit den Ergebnissen von David Satterthwaite vom International Institute for Environment and Development (IIED) in London überein: Der Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und den Treibhausgasemissionen ist nur schwach2) (siehe Grafik Seite 36). Die weltweiten Konsumniveaus sind derart unterschiedlich, dass ein Mensch in Europa, Nordamerika oder Australien allein mehr Emissionen verursachen kann als ein ganzes Dorf in Afrika.3)

Sollten also eigentlich die Menschen in den reichen Ländern weniger oder gar keine Kinder in die Welt setzen? Nun, in den USA könnte das schon einen Beitrag leisten, denn die Fruchtbarkeitsrate liegt dort über der Reproduktionsgrenze, und die USA verzeichnen zusammen mit Australien die höchsten Pro-Kopf-Emissionen (siehe Grafik Seite 36). Aber es würde nicht ausreichen, weil es in Wirklichkeit um etwas anderes geht.

„Menschen sind keine Umweltverschmutzung“, schreibt Simon Butler in der australischen Zeitschrift Green Left Weekly. „Eine Überbevölkerung für den Klimawandel verantwortlich zu machen ist wie zu sagen, es gäbe Waldbrände, weil es zu viele Bäume gibt. Die wirkliche Ursachen des Klimawandels sind eine Wirtschaft, die fossile Brennstoffe zur Energiegewinnung verwendet, und eine nicht nachhaltige Landwirtschaft.“ 4)

Wir können uns davor nicht drücken. Wir brauchen eine Energierevolution, weg von den fossilen Brennstoffen hin zu den erneuerbaren Energien, die genauso radikal ist wie die industrielle Revolution, die uns unsere Kohlenstoff-Ökonomie eingebrockt hat, und sie muss noch schneller kommen.

Was ist aber mit dem anderen Schreckgespenst, der drohenden Verknappung? Es wird zu wenig Nahrungsmittel, Wasser und Land geben, sagen die BefürworterInnen einer Bevölkerungskontrolle. Hier sollte daran erinnert werden, dass das malthusianische Gespenst der Verknappung oft heraufbeschworen wurde, um Verteilungsfragen auszuweichen. In Großbritannien etwa erklärte man die irischen Hungersnöte des 19. Jahrhunderts lieber mit der „Überbevölkerung“, anstatt sich mit dem fehlenden Zugang der Menschen zu großen Landflächen zu befassen, die sich im Besitz abwesender Grundherren befanden.

Ein vergleichbarer blinder Fleck ist heute der Erwerb großer Landflächen in Lateinamerika und Afrika durch westliche und chinesische Agrobusiness-Unternehmen, die Nahrungsmittel für die Bevölkerung in ihren Herkunftsländern erzeugen wollen. Dass „Afrika sich nicht ernähren kann“, wird von der Demographin Barbara Boyle Torrey vom Population Reference Bureau (eine etablierte US-NGO, Anm. d. Red.) bestritten: Gemessen an den geernteten Kalorien erzeugt der Kontinent genug, um seine Bevölkerung zu versorgen.5) Es gibt andere Gründe dafür, dass Afrika so viele unterernährte Kinder hat und einen großen Teil der nötigen Nahrungsmittel importiert (oder re-importiert).

Natürlich benötigt eine wachsende Bevölkerung auch mehr Ressourcen. Verknappungsszenarien haben aber etwas Schwarzmalerisches an sich. Neo-Malthusianer kalkulieren die Erfindungsgabe der Menschen, ihre Innovations- oder Änderungsfähigkeit nicht ein. Selbst auf ganz grundlegender Ebene besteht ein enormes Potenzial für Effizienzsteigerungen. Eine vegetarische Ernährung benötigt nur die halbe Fläche einer fleischreichen; man könnte gewaltige Landflächen einsparen, wenn die Menschen weniger Fleisch äßen, motiviert vielleicht durch eine „grüne“ Steuer zur Integration der höheren Umweltkosten der Fleischproduktion.

Ernährungsgewohnheiten einmal beiseite: Derzeit wird etwa die Hälfte der erzeugten Nahrungsmittel vergeudet. Der Bauer, Aktivist und Autor Tristram Stuart ist dieser Vergeudung entlang der Produktions- und Vermarktungskette nachgegangen. Etwa müssen BäuerInnen oft 25 Prozent mehr als die Liefermenge anbauen, um Verträge einhalten und hohe Strafen vermeiden zu können. Ästhetische Kriterien, übermäßige Lagerhaltung sowie Verbrauchs- und Haltbarkeitsdaten sorgen für weitere Verluste. Nach offiziellen Statistiken wirft die britische Bevölkerung ein Drittel der gekauften Nahrungsmittel einfach weg.6)

Im boomenden Indien wiederum verderben Nahrungsmittel oder werden weggeworfen, während die Armen hungrig bleiben, weil sie zu wenig Geld haben. Eigentlich wäre es heute doch sinnvoller, diese Probleme anzugehen als sich mit der Vorstellung zu quälen, wie viele Menschen in 40 Jahren am weltweiten Futtertrog sitzen könnten.

Es gibt tatsächlich Knappheiten, die die Welt und das Überleben der Menschheit und anderer Arten bedrohen. Es gibt etwa zu wenig Gerechtigkeit, echte Demokratie und Achtung vor der natürlichen Umwelt. Es gibt Gründe dafür, sich vor der Erderwärmung zu fürchten. Die Trägheit unserer PolitikerInnen und ihre Willfährigkeit gegenüber mächtigen Unternehmen sind ein weiterer Grund, Alarm zu schlagen – und sich zu ärgern. Aber Menschen in Afrika und Asien, die Kinder bekommen, haben mit diesen Problemen nichts zu tun – und sie davon abzuhalten, wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht lösen.

Bei meiner Recherche zu diesem Thema fand ich, wenn überhaupt, nur wenige Sicherheiten, an denen man sich wirklich festhalten könnte. Selbst die verlässlich wirkenden Zahlen und komplizierten Grafiken über die zukünftige Entwicklung vermitteln nur einen Anschein von Autorität. Sicher ist vielleicht nur das, was oft von DemographInnen selbst in Hinweisen und Vorbehalten hinzugefügt wird: dass Bevölkerungsentwicklungen ebenso komplex und letztlich unvorhersagbar sind wie die menschliche Natur selbst.

Ich möchte gerne mit einer Anekdote aus Mosambik schließen. Wir schrieben 1988, es herrschte Bürgerkrieg und Hunger. Bei einem Interview mit einer Familienplanungsberaterin meinte ich, der Job, Menschen von den Vorteilen einer Familienplanung zu überzeugen, wäre vielleicht in diesen schlimmen Zeiten nicht ganz so schwer. „Ganz im Gegenteil“, antwortete sie. „Die Geburtenrate steigt. Sie müssen das verstehen. Es gibt so viel Not und Elend überall, Kinder sind das einzige, was uns Freude bereitet. Ein neues Kind gibt uns ein Gefühl von Hoffnung.“

Copyright New Internationalist

1) Leiwen Jiang, IUSSP-Konferenz Sitzung 170,
Marrakesch 2009.
2) David Satterthwaite, The implications of population growth on urbanization and climate change, Environment and Urbanization, September 2009.
3) Fred Pearce, Population: Over-consumption is the real problem, New Scientist, 23. September 2009.
4) Simon Butler, Ten reasons why population control can’t stop climate change, Green Left online, 31. Mai 2009, www.greenleft.org.au
5) Barbara Boyle Torrey, IUSSP Konferenz, Sitzung 162, Marrakesch 2009.
6) Tristram Stuart, Uncovering the Global Food Scandal, Penguin Books 2009.

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