„Die Zivilgesellschaft kann sehr viel bewirken“

Von Redaktion · · 2016/05

Flüchtlinge, Rechtsruck, Neoliberalismus: Der renommierte österreichische Völkerrechtler Manfred Nowak verortet die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa und erklärt, wie die Menschenrechte aus der Krise helfen können.

Stichwort Asyl-Obergrenzen, Schnellverfahren und „Dichtmachen“ von Flüchtlingsrouten. Erleben wir derzeit eher eine Krise der Menschenrechte als eine sogenannte Flüchtlingskrise?

Es ist auch eine Krise der Menschenrechte. Wir leben allgemein in einer globalen Krisensituation, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nie gehabt haben. Das ist eine Finanzkrise, eine Wirtschaftskrise, in vielen Bereichen eine Nahrungsmittelkrise, eine Klima- und Umweltkrise. Es gibt heute mehr bewaffnete Konflikte als jemals zuvor, mehr Terrorismus, mehr sogenannte „failed states“, also Länder, die nicht mehr imstande sind, die staatlichen Funktionen auszuüben.

Und Millionen Menschen haben sich auf den Weg gemacht …

Die globale Migration war zwar im Zuge der Globalisierung zu erwarten, überfordert allerdings Staaten wie Menschen derzeit gleichermaßen. Wenn man sich die Ursachen für Migration ansieht –Menschenrechtsverletzungen, Kriege, Armut, zum Teil auch Klimawandel – das hängt alles miteinander zusammen. Wir sind nicht unbeteiligt daran. Viele Krisen wurden durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik ausgelöst. Diese Politik dominiert seit den 1980er Jahren die internationale Wirtschaft. Es war also eine politische Entscheidung, alles den Kräften des freien Marktes zu überlassen – Stichwort Privatisierung und Deregulierung. Jetzt sieht man das Ergebnis dieser Politik. Die Staaten reagieren mit Krisenmanagement, nicht mit einem langfristigen Kurswechsel. Die einzigen positiven Zeichen, die ich derzeit sehe, sind die SDGs, die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen. Für die braucht es allerdings ein radikales Umdenken.

Ist die Genfer Flüchtlingskonvention noch zeitgemäß?

Die Genfer Flüchtlingskonvention ist in Reaktion auf Faschismus und Kommunismus 1951 von den Vereinten Nationen angenommen worden und hat natürlich die damalige Realität widergespiegelt. D.h. es ging vor allem um ethnische, religiöse, politische Verfolgung. Natürlich können wir uns wünschen, was noch alles in die Konvention hineingehören würde. Nur ist es politisch vollkommen unrealistisch. Heute die Flüchtlingskonvention aufzumachen, würde sie wahrscheinlich verschlechtern. Wir müssen mit dem rechtlichen Instrumentarium arbeiten, das wir haben. Und das ist im Prinzip nicht so schlecht, würde es entsprechend umgesetzt.

Wie sehen sie Debatte um den Begriff Klimaflüchtlinge?

Ich denke, dass wir à la longue die scharfe Abgrenzung zwischen den Flüchtlingen und Migranten gar nicht sinnvoll aufrechterhalten können. Wir leben in einer globalen Welt, die sich unter vom Norden diktierten Wirtschaftsbedingungen entwickelt, und die zu einer zunehmenden Ungleichheit führt. Das geht auf Kosten von anderen Menschen, etwa jenen, die durch den Klimawandel entwurzelt werden, in Bangladesch, im Pazifikraum oder in der Sahelzone. Sind sie Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention? Natürlich nicht. Sind sie Vertriebene oder sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge? Was ist, wenn jemand vor Armut flüchtet? Irgendwann kommen Menschen zu dem Schluss, dass sie ihre Familie nicht mehr ernähren können und machen sich auf den Weg. Wir selbst sind froh darüber, dass wir in der ganzen Welt herumreisen können. Aber umgekehrt wollen wir denen das Recht nehmen, sich in der Welt zu bewegen. Ob wir es wollen oder nicht, wir werden mit Migration leben müssen.

Manfred Nowak ist Professor für Internationales Recht und Menschenrechte an der Uni Wien und wissenschaftlicher Leiter des Ludwig Boltzmann Institutes für Menschenrechte. Bis 2010 war Nowak, geboren 1950 in Bad Aussee (Steiermark), UN-Sonderberichterstatter über Folter.

Aktuell hat man manchmal den Eindruck, PolitikerInnen beachten die Menschenrechte nicht. Wie können Migrantinnen und Migranten zu ihrem Recht kommen?

Rechtlich gesehen ist nicht so viel zu machen. Natürlich ist es wichtig, den Menschen die rechtliche Lage in Österreich zu erklären, zum Beispiel, wenn sie einen Asylantrag stellen wollen. Aber dazu muss man schon sehr gut ausgebildet sein. Selbst für Anwältinnen und Anwälte ist das österreichische Asylrecht extrem kompliziert. Rechtsberatung ist gleichzeitig eine politische Verantwortung. Was, wenn die Chancen hierbleiben zu können, für jemanden sehr klein sind? Wäre es nicht klüger, in solchen Fällen zu sagen, „Es ist besser, du gehst wieder als hier dein Leben zu vertrödeln“? Aber oft geht es bei Engagement nicht um rechtliche Fragen.

Sondern?

Das Jahr 2015 hat für mich schon auch gezeigt, dass die Zivilgesellschaft sehr viel bewirken kann. Irgendwann hat es den Menschen gereicht und sie haben begonnen zu helfen. Und da meine ich nicht die klassischen humanitären Organisationen, sondern wirklich die Zivilgesellschaft im weitesten Sinn. Leute, die sich davor nie für Flüchtlinge engagiert haben, sind mit Decken und Schlafsäcken nach Traiskirchen gefahren. Als dann im Herbst wirklich viele Flüchtlinge gekommen sind, hat sich gezeigt: Wenn alle zusammenarbeiten, sprich Zivilgesellschaft, humanitäre Organisationen, die Ministerien, die ÖBB, die Bürgermeister usw., kann es funktionieren. Damit wurde auch jenen, die immer wieder Hass und Xenophobie schüren, gezeigt, dass es eine andere öffentliche Meinung gibt und Menschen, die handeln.

Zurück zu den Menschenrechten. Was können sie aktuell überhaupt zu Lösungen beitragen?

Die Menschenrechte sind ein sehr umfassendes Normengefüge, ein Wertesystem. Das regelt nicht nur das Verhältnis zwischen Staat und Individuen, sondern auch die zwischenmenschliche Ebene. Es gilt für alle Menschen, und alle Menschenrechte sind gleichberechtigt und miteinander verbunden. Würden wir die Menschenrechte ernst nehmen, dann könnten wir die Gesellschaften auf eine viel humanere Art und Weise gestalten, als wir das derzeit tun.

Die UN haben drei Aufgaben: Internationale Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte. Letztere sind die Grundlage für internationale Sicherheit und Entwicklung, mit ihnen müssen wir beginnen. Und sie sind universell und rechtlich verbindlich festgeschrieben, zum Teil als Kompromiss nach langen Verhandlungen. Deswegen ist es falsch zu sagen, die Menschenrechte sind ein westliches System. Sie haben westliche Wurzeln, sind aber universell – eine Synthese unterschiedlicher Menschenrechtskonzepte.

Die Menschenrechte geben uns ganz klare Antworten. Beispiel wachsende Ungleichheit: Wir müssten uns zu einem liberalen Rechtsstaat sowie zu einem sozialen Wohlfahrtsstaat bekennen.

In vielen Ländern scheint es eher in die andere Richtung zu gehen …

Ich bin nach wie vor Optimist, das gehört zur Menschenrechtsarbeit dazu. Menschen sind rationale Wesen, die aus Fehlern Schlüsse ziehen können. Ich frage mich nur, wie groß der Leidensdruck bzw. die Krise sein muss, dass es zu einem Umdenken kommt. Brauchen wir wirklich einen Dritten Weltkrieg, um zu lernen, dass die Art und Weise wie wir leben nicht sinnvoll ist? Ich habe immer noch die Hoffnung, dass wir rechtzeitig umdenken. Europa sollte dabei eine Vorreiterrolle einnehmen. Von den USA erwarte ich mir das nicht, von China aktuell auch nicht.

Aber auch Europa ist politisch in der Krise.

Wir haben leider den Rechten zu lange die Agitation überlassen. Hier in Österreich hätten SPÖ und ÖVP ihnen selbstbewusst entgegentreten und zu ihren moralischen Verpflichtungen stehen müssen. Ich habe Hochachtung vor dem, was Angela Merkel im Fall der Flüchtlinge gemacht hat.

Aber, ja: Vor kurzem wäre es noch undenkbar gewesen, dass die EU, das größte Friedensprojekt, das Europa jemals hatte, durch die Renationalisierungen so schnell wieder zerstört werden könnte. Und diese Gefahr besteht. Wenn Europa zerfällt, stehen sich sehr gegensätzliche Staaten gegenüber. Aber ich bin überzeugt, dass jene Kräfte, die an eine gemeinsame Lösung glauben, sich durchsetzen werden. Niemand Vernünftiger kann daran interessiert sein, das Projekt EU wirklich in Frage zu stellen.

Sie wirken in Ihren öffentlichen Auftritten immer sehr besonnen. Würden Sie nicht gerne einmal auf den Tisch hauen oder alles hinschmeißen?

Die Diskussion um die Flüchtlinge wird so stark von Emotionen bestimmt. Gefragt ist eine nüchterne Art, um zu entemotionalisieren. Einfach einmal still zu halten in dieser verhetzten Atmosphäre. Das heißt nicht, dass ich Ängste nicht verstehen kann. Viele Leute in Österreich sind in einer Identitätskrise. Wir lieben unsere Berge, wir lieben unsere Traditionen, unser schönes, friedliches Land. Und dann kommen so viele Leute mit anderen Religionen und mit anderen Überzeugungen. Gerade jene, die die positiven Seiten der Globalisierung noch nicht so sehr in Anspruch nehmen konnten, fühlen sich dadurch in ihrer persönlichen Identität bedroht. Aber dem muss man etwas Positives entgegensetzen.

Interview: Richard Solder

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