Grenzen überschreiten

Von Redaktion · · 2015/02

Gewerkschaften sollten heute lokale und globale Zusammenhänge gleichermaßen im Blick haben. Eine weitere Herausforderung ist inhaltliche Weitsicht. Zwei Annäherungen an gewerkschaftlichen Internationalismus.

Verwurzelte Kosmopoliten

Edward Webster

Wenn man über gewerkschaftlichen Internationalismus nachdenkt, ist es sinnvoll, zwischen drei Arten von Solidarität zu unterscheiden. Die erste nenne ich humanitäre Solidarität. Dabei geht es darum, sich mit jenen zu solidarisieren, deren Menschenrechte verletzt werden, zum Beispiel mit Opfern von Rassismus oder Kindern, die hart arbeiten müssen, oder mit Gewerkschaften, die nicht anerkannt werden. Solche häufig moralisch begründeten Kampagnen sind in Form von Boykotten oder Eilaktionen über das Internet vergleichsweise einfach zu organisieren und können sehr einflussreich sein. Erfolgreiche Beispiele sind etwa die Anti-Apartheid-Bewegung zu Südafrika oder die Kampagne für bessere Arbeitsbedingungen beim Bergbaukonzern Rio Tinto.

Deutlich schwieriger zu organisieren ist hingegen die zweite Art von Solidarität: jene zwischen ArbeiterInnen unterschiedlicher Fabriken. Der ökonomische Wettbewerb und die Standortlogik führen dazu, dass andere Automobilproduzenten davon profitieren, wenn Arbeiter etwa bei General Motors streiken. Trotzdem nimmt die transnationale Solidarität unter ArbeiterInnen zu. Beschäftigte von Volkswagen treffen sich jährlich, um ihre Forderungen zwischen den VW-Werken in Deutschland, Brasilien, Indien und Südafrika abzustimmen.

Die erste Branche weltweit, in der globale Tarifverhandlungen stattfinden, ist die Seefahrt. MitarbeiterInnen der internationalen TransportarbeiterInnengewerkschaft (ITF) kontrollieren Schiffe, wenn sie in einen Hafen einlaufen. Auf diese Weise wollen sie erstmals in der Geschichte die Durchsetzung eines globalen Mindestlohns garantieren.

Die neue Form transnationaler Organisierung hinterfragt die traditionelle Gewerkschaftsarbeit des 20. Jahrhunderts. Diese beschränkte sich jeweils auf ein Land und überließ internationale Kontakte überwiegend spezialisierten FunktionärInnen. Dank direkter Kommunikation per E-Mail und Skype sind die neuen Formen transnationaler Aktionen dezentralisiert und gehen eher von unten nach oben.

Die dritte Art von Solidarität will globale Rechte und Standards etablieren. Es geht ihr also darum, den Markt zu regulieren, anstatt ihn durch direkte Beziehungen unter den ArbeiterInnen zu ersetzen. Der Markt soll in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden.

Eine innovative Idee für den globalen Süden ist die soziale Grundsicherung, die ein Recht auf Pensionszahlungen, Gesundheitsversorgung und ein Mindesteinkommen beinhaltet. In die Sozialpolitiken mehrerer Länder, wie zum Beispiel in Brasilien, Indien und Südafrika, hat diese Grundsicherung bereits Einzug gehalten.

Diese neuen Ansätze sind der Beginn einer Gegenbewegung – allerdings einer Gegenbewegung von oben. Dass der indische Staat jedem Haushalt im ländlichen Raum ein Arbeitseinkommen von 100 Tagen im Jahr garantiert, mögen manche als reinen Reformismus und Strategie der Vereinnahmung abtun. Diese Kritik greift jedoch zu kurz: Es könnten vielmehr die ersten Schritte sein, um das Sozialsystem dauerhaft auszuweiten.

Eines hat sich gezeigt: Die Globalisierung hat nicht nur Nachteile. Sie kann es erleichtern, sich über die Grenzen hinweg zu organisieren. Wir haben nicht einfach die Wahl zwischen „global werden“ oder „lokal bleiben“. Vielmehr geht es darum, sich zwischen dem Lokalen und dem Globalen zu bewegen. Dies bringt jene hervor, die der Soziologe Sydney Tarrow als „verwurzelte Kosmopoliten“ bezeichnet hat.

Edward Webster ist emeritierter Professor für Soziologie an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, Südafrika. Aus dem Englischen von Tobias Lambert.

Indem sie ihre Produktion anhand globaler Wertschöpfungsketten weltweit miteinander verbunden haben, sind Unternehmen auch anfälliger geworden. Wenn ein in Korea gefertigtes Maschinenbauteil an einem Fließband in Australien zu spät ankommt, könnte dies die ArbeitgeberInnen in beiden Ländern an den Verhandlungstisch zwingen. Letztlich unterscheidet sich die aktuelle Situation gar nicht so stark von den Herausforderungen, denen Henry Ford in den 1930er Jahren gegenüberstand. Das Zeitalter der Globalisierung hat ArbeiterInnen neue Quellen und Formen der Macht gebracht.

Direkte Begegnungen fördern

Sepp Wall-Strasser

In Zeiten der Globalisierung ist es auch für Gewerkschaften unumgänglich, Grenzen zu überschreiten. Gleichzeitig möchte ich festhalten, dass der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen, um Sicherheit und Gesundheit der Werktätigen ständig Grenzen überschreitet. Ohne die Vertretung von GewerkschafterInnen in den Einrichtungen der Krankenkassen und Pensionsversicherungen oder im Bereich des ArbeitnehmerInnenschutzes würde das österreichische und europäische Sozialsystem ganz anders aussehen.

In Österreich gelten die Lohnabschlüsse und Kollektivverträge für alle ArbeitnehmerInnen und nicht nur für Mitglieder von Gewerkschaften. Dies ist eine große „Grenzüberschreitung“. Mit der Dichte der Kollektivverträge ist Österreich mittlerweile Weltspitze: 98 Prozent aller unselbständig Beschäftigten arbeiten innerhalb eines solchen Schutzrahmens. Zum Vergleich: Im ehemaligen „Traumland“ Deutschland sind es gerade noch 50 Prozent!

Darüber hinaus gibt es viele Themen, die ohne Gewerkschaften nie so populär in breiten Kreisen diskutiert würden. Beispiele sind aktuell die Kampagnen um die EU-Handelsabkommen TTIP, CETA und TISA, die Vermögenssteuern, die Finanztransaktionssteuer oder die Verteidigung öffentlicher Dienstleistungen.

Die größte Schwäche aller Kräfte, die den Sozialstaat schützen und stützen, liegt in ihrer nationalen Begrenztheit. Dies betrifft Sozialversicherungen ebenso wie Arbeitsämter oder die Arbeitsinspektion, um nur einige zu nennen. Die noch in Monarchiezeiten erstarkten Gewerkschaften und ArbeiterInnen-Parteien definierten sich ebenfalls im nationalen Rahmen. Und dies erweist sich als der schwächste und verhängnisvollste Punkt der derzeitigen Gewerkschaftsbewegung. Hilflos stehen die Gewerkschaften dem dramatischen Sozialabbau, dem Lohndumping und dem „Gewerkschaftsbashing“ in etlichen Ländern gegenüber.

Abgesehen davon, dass viele Mitglieder und auch FunktionärInnen noch immer nicht gewohnt sind, in internationalen Kategorien zu denken und zu handeln, fehlt häufig auch das geeignete Gegenüber. Mit wem sollen nationale Gewerkschaften europäische bzw. internationale Regelungen verhandeln? Wo ist das Gegenüber für den Kampf um europäische Kollektivverträge? In Zeiten, in denen der Finanzmarktkapitalismus erstarkt ist und den sozialen Absicherungen innerhalb von Gesellschaften den Krieg erklärt hat, fehlt jedes Konzept zum Bekämpfen dieser Mächte.

Ich meine, dass transnationale Aktionen gefordert wären, um den Ernst der Lage der ArbeitnehmerInnen deutlich zu machen. Innerhalb Europas könnte man etwa monatlich einmal alle öffentlichen Verkehrsmittel für fünf Minuten still stehen lassen, um die EU-Kommission an den Verhandlungstisch zu bringen. Die derzeitig dringlichsten Themen wären einheitliche Unternehmenssteuern in allen EU-Ländern, gratis öffentliches Gesundheitssystem für alle, Einführung der Transaktionssteuer, Schließung aller Steueroasen in Europa und vieles mehr.

Die strukturelle „Beschränktheit“ des gewerkschaftlichen Agierens gilt noch viel stärker für die transkontinentale Solidarität. Eigentlich stehen mit Vereinbarungen wie den ILO-Kernarbeitsnormen oder dem „decent-work-Programm“ international festgelegte Arbeitsregelungen zur Verfügung. Es fehlt jedoch einerseits an Strukturen, diese umzusetzen, und vor allem an Sanktionsmöglichkeiten. Meine eigene Erfahrung zeigt mir, dass direkte Begegnungen mit Betroffenen aus anderen Ländern viel beitragen zu einem gemeinsamen Agieren. Deshalb halte ich viel von Begegnungsreisen und internationalen Solidaritätskampagnen. Dafür ist die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft sehr befruchtend und oft unerlässlich. Sie schützt vor Betriebsblindheit und weitet den Horizont. Wie in allen Bereichen der Gesellschaft können auch im Bereich der ArbeitnehmerInnenrechte essenzielle Fortschritte nur gemeinsam erkämpft -werden. 

Sepp Wall-Strasser ist Bereichsleiter für Bildung und Zukunftsfragen des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Landesorganisation OÖ, und Geschäftsführer von „weltumspannend arbeiten“. Info: www.weltumspannend-arbeiten.at

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