Ein Boom und zwei Indien

Von Brigitte Voykowitsch · · 2010/04

Im ablaufenden Fiskaljahr verzeichnet Indien ein Wirtschaftswachstum von über sieben Prozent. Doch maximal ein Viertel der Bevölkerung verspürt den Aufschwung in der eigenen Geldtasche. Fast jedes zweite Kind ist unterernährt. Gigantische Sozialprogramme sollen die ärgste Not lindern.

Die indische Wirtschaft befindet sich in einer deutlich besseren Lage als noch vor einem Jahr", erklärte Finanzminister Pranab Mukherjee Ende Februar. Das Wachstum liege derzeit bei mehr als sieben Prozent. Für das neue Fiskaljahr ab April 2010 rechnet die indische Regierung mit einem Wachstum von acht Prozent. "Die ökonomische Basis ist stark", versicherte Premierminister Manmohan Singh. Seiner Ansicht nach steht in absehbarer Zukunft auch einem zweistelligen Wirtschaftswachstum nichts im Wege, "wenn wir unsere Wirtschaft gut managen, wenn wir eine gute soziale Infrastruktur schaffen". Wie solch eine soziale Infrastruktur auszusehen hätte und was sie alles umfassen müsste, war allerdings nicht Thema der 55-minütigen Rede des Premierministers vor dem Parlament.

Die Börse in Mumbai reagierte positiv. Die IT-Industrie, die gemeinsam mit der Filmindustrie Bollywood in den vergangenen Jahren das internationale Image Indiens stark zum Positiven hin verändert hat, präsentiert sich ebenfalls optimistisch. "Das Indien der oberen 20 bis 25 Prozent kann einer guten Zukunft entgegen blicken", sagt Praveen Jha, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Jawaharlal Nehru-Universität in Neu Delhi. Wie zahlreiche andere indische Ökonomen und Sozialwissenschaftler spricht er von den "zwei Indien" – dem oberen Viertel der Bevölkerung, das von der rasanten Entwicklung des Dienstleistungssektors profitiert hat, und jenen anderen 75 bis 80%, die vorwiegend von der Landwirtschaft abhängen und von der modernen Entwicklung übergangen wurden.

"77% der Inder müssen mit 20 Rupien (umgerechnet etwa 40 Euro-Cent) am Tag auskommen – das sind offizielle Zahlen", erinnert Sachin Jain, ein Sozialaktivist aus dem zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh. Er hat die Budgetrede des Finanzministers und alle darauf folgenden Debatten im Parlament genau verfolgt. Da war natürlich auch von den dramatisch angestiegenen Lebensmittelpreisen die Rede; das Gesetz über Nahrungssicherheit, das die in Koalition regierende Kongresspartei im Wahlkampf 2009 versprochen hatte, wurde wieder erwähnt, und auch die Not der Kleinbauernschaft und Landlosen wurde angesprochen.

"Doch was folgt daraus? Unser Problem ist, dass es im allerbesten Fall immer nur Flickwerk-Ansätze gibt, aber die Wurzeln der vielen Übel werden nicht angepackt." Sachin Jain weiß, wovon er spricht, schließlich kommt er aus einem jener indischen Bundesstaaten, die besonders schlechte Sozialindikatoren aufweisen. Auf dem vom International Food Policy Research Institute (IFPRI) herausgegebenen Hunger-Index ist Madhya Pradesh rot markiert, das bedeutet, die Ernährungslage ist äußerst alarmierend – vergleichbar der in Äthiopien und im Tschad; in weiteren 13 indischen Bundesstaaten ist die Lage alarmierend.

"Fast jedes zweite Kind in Indien ist unterernährt und für sein Alter zu klein oder untergewichtig – in Madhya Pradesh sind es 55%. Und diese Zahlen ändern sich kaum", sagt Purnima Menon, Forscherin beim IFPRI in Neu Delhi. "Das Gleiche gilt für die Ernährungslage der Frauen. Mehr als die Hälfte aller Frauen sind anämisch, 30 bis 40% der Frauen sind untergewichtig. Die gesamtökonomische Entwicklung und die Entwicklung der Sozialindikatoren verlaufen einfach nicht parallel", stellt Menon fest. "Man muss sich daher genau ansehen, in welchen Wirtschaftsbereichen das Wachstum stattfindet und inwieweit es zu einer Verringerung der Armut und einer Verbesserung der Nahrungssicherheit führen kann oder nicht. Derzeit findet ein Gutteil des Wachstums in Sektoren statt, wo der Trickle-down Effekt bis an die Basis der Gesellschaftspyramide sehr gering ist."

Um die Not zu mildern, hat Indien im Lauf der Jahre einige der weltweit größten Sozialprogramme ins Leben gerufen. Dazu gehören Lebensmittelkarten für Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, so genannte BPL-Cards, mit denen man in speziellen Geschäften eine bestimmte Menge an Reis pro Person und Monat zu stark subventionierten Preisen kaufen kann. Weiters ein kostenloses Mittagessen in den Schulen, ein integriertes Kinderentwicklungsprogramm (ICDS), das medizinische Betreuung und Nahrungsunterstützung für schwangere Frauen, Babies und Kleinkinder vorsieht, sowie das 2005 per Gesetz geschaffene Nationale Arbeitsgarantieprogramm am Land (National Rural Employment Guarantee Scheme, NREGS), das pro Haushalt einer Person 100 Arbeitstage im Jahr garantieren soll, zum Mindestlohn im jeweiligen Bundesstaat oder, wie es zuletzt hieß, zu einem Lohn von 100 Rupien pro Tag (umgerechnet etwa zwei Euro).

Die Durchführung all dieser Programme weist jedoch große Mängel auf. Einzelne Erfolgsgeschichten gibt es selbstverständlich, und sie belegen das Potenzial dieser Programme. Gesamtanalysen ergeben aber bestenfalls ein gemischtes Bild. Vielerorts wird das "Midday Meal", eine Ausspeisung, bis heute nicht angeboten, oder es wird zwar serviert, doch das Essen ist von geringer Qualität. Da es immer wieder zu Erkrankungen infolge des Mittagessens kommt, plädieren manche Leute dafür, statt einer gekochten Mahlzeit Kekse mit Vitaminzusätzen zu verteilen – ein Ansinnen, auf das SozialaktivistInnen mit Empörung reagieren – da keine Zusätze eine ausgewogene Ernährung ersetzen können und außerdem mit der Produktion der Kekse wieder nur große Unternehmen Profit machen würden.

Das System der Lebensmittelkarten ist in jüngster Zeit insgesamt sehr umstritten. Eine Reihe führender Ökonomen hat auf die Probleme hingewiesen, die sich schon bei der Erhebung der berechtigten Personen stellen. Die Trennlinie zwischen jenen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, und jenen, die an oder knapp über der Armutsgrenze leben, ist sehr dünn. Dazu kommt, dass jemand, der heute noch über der Armutsgrenze lebt, durch eine Erkrankung oder einen Unfall in der Familie schon morgen darunter fallen kann. Viele, die dringend Lebensmittelkarten bräuchten, werden nach Ansicht von Ökonomen nicht erfasst.

Auch mit der Umsetzung des Systems sind viele arme Menschen äußerst unzufrieden. Laut Gesetz sollten die Geschäfte, in denen man mit den Lebensmittelkarten einkaufen kann, täglich geöffnet sein. In der Praxis ist das nicht der Fall. Überdies verfügen die Läden oft nicht über genug Lebensmittel. So wie beim Midday Meal beklagen AktivistInnen auch bei den Läden für Leute mit Lebensmittelkarten, dass das Management privaten Unternehmern überlassen wird. Damit steige die Gefahr, dass die Lebensmittel, die Schulkindern oder den Armen zu Gute kommen sollten, am Schwarzmarkt landen.

Im Rahmen der Beschäftigungsgarantie am Land (NREGS) erhielten berechtigte Personen 2009 im Durchschnitt 43 oder 44 Tage Arbeit, zumeist bei Infrastrukturprojekten. Um möglichst vielen Menschen Arbeit zu vermitteln, sieht das Programm ausdrücklich vor, dass Maschinen nur dort eingesetzt werden sollen, wo eine Arbeit unter keinen Umständen manuell getätigt werden kann. Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass lokale Beamte und Bauunternehmer sich keineswegs immer an solche Vorgaben halten. Doch selbst wenn NREGS zu hundert Prozent seriös durchgeführt wird, wäre es nicht mehr als "ein minimalistisches Programm", sagt der Sozialwissenschaftler Praveen Jha. "Es macht auf jeden Fall Sinn in einem Kontext, wo die Menschen so wenig haben. Aber 100 Tage zu sagen wir 100 Rupien am Tag: das macht 10.000 Rupien – umgerechnet etwa 200 Euro im Jahr."

Für Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, können selbst die wenigen Arbeitstage, die sie dank NREGS bekommen, entscheidend sein. "Aber seien wir doch ehrlich. Damit wird verhindert, dass diese Menschen verhungern, nicht mehr", ärgert sich Sachin Jain. "Das verstößt gegen die Menschenwürde und gegen die Menschenrechte." Er fordert grundlegende Reformen, die die Ursachen der Not bekämpfen.

"Vorrangig wäre eine kohärente Landwirtschaftspolitik, die die zentralen Probleme anpackt: die teils noch immer feudalen Verhältnisse am Land, die Landverteilung, die große Zahl der Landlosen, die sich als Tagelöhner verdingen müssen; die immer stärkere Exportorientierung und der Rückzug des Staates seit der 1991 eingeläuteten Liberalisierung", sagt die Sozialwissenschaftlerin Sudha Pai. Weitere Landreformen, die über die nach der Unabhängigkeit 1947 durchgeführten eher zögerlichen Landreformen hinausgehen, sind jedoch politisch umstritten. Dazu kommt, dass in jüngster Zeit in einigen Bundesstaaten fruchtbares Ackerland für Sonderwirtschaftszonen requiriert oder an Großunternehmen vergeben wird.

"Und das Land der Adivasi wird den großen Bergbaufirmen überlassen", erinnert die Soziologin Bela Bhatia vom Centre for the Study of Developing Societies (CSDS) in Neu Delhi. Die Adivasis wie die UreinwohnerInnen des Landes genannt werden, leben mehrheitlich in entlegenen Waldregionen, die jedoch zu den rohstoffreichsten Gebieten des Landes gehören. Laut Gesetz dürfen die traditionellen Wohngebiete der Adivasi nicht ohne deren Zustimmung genutzt werden, tatsächlich werden Adivasi, die neben den Dalit zu den allerärmsten Bevölkerungsgruppen zählen, oft mit Gewalt vertrieben.

Im Ringen um Land und Landrechte haben in den vergangenen fünf Jahren auch die Naxaliten ihren Kampf verschärft. Diese maoistischen Kämpfer sind nach dem Ort Naxalbari in Westbengalen benannt, wo sie Ende der 1960er Jahre erstmals auftraten.

Inzwischen sind die Naxaliten in einem Drittel aller indischen Bezirke aktiv. Der so genannte "Rote Korridor" zieht sich von der Grenze mit Nepal über Ostindien bis an die Südwestküste. Premierminister Manmohan Singh hat den bewaffneten maoistischen Widerstand bereits mehrfach als die größte Gefahr für Indiens Sicherheit bezeichnet, diese Bedrohung sei noch schlimmer als die durch islamistische Terroristen. Nicht alle teilen seine Einschätzung. Doch die Gewalt der Maoisten und die staatliche Gegengewalt nehmen zu. Gezielte und intensive Entwicklungsanstrengungen fordern jene InderInnen, die den Einsatz von Paramilitärs und diverser Sondereinheiten gegen die Naxaliten verurteilen. Doch die Kluft zwischen den beiden Indien wächst.

Brigitte Voykowitsch ist freie Radio- und Printjournalistin mit Schwerpunkt Südasien.

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen