Ein Fest für alle

Von Gabriele Müller · · 2008/02

Die Initiative „Grenzenlos kochen“ verändert das Zusammenleben einer ganzen Gemeinde und hat sich – ohne staatliche Hilfe – zu einem der erfolgreichsten Integrationsprojekte Österreichs gemausert.

Grenzenlos heißt: Wir richten es uns hier im Ort ein“, sagt der Vorarlberger Jürgen Schneider, der mit seiner Familie seit einigen Jahren in Hadersfeld, Bezirk St. Andrä-Wördern (STAW), lebt. An der Wand der geräumigen Wohnküche des Hauses hängt das Bild einer Ortstafel: „Grenzenlos Sankt Andrä-Wördern.“ Einsprachig zwar, allerdings aus Platzgründen: Bei rund 70 Nationen, die in der 7.000-Seelen-Gemeinde vertreten sind, würde eine einzige Tafel wohl nicht ausreichen.
Mit einem kleinen Fest, einem gemeinsamen Kochabend, hat die Initiative „Grenzenlos kochen“, die heute bereits Nachahmung in anderen Landesteilen findet, auch begonnen. Genauer gesagt, begonnnen hat es mit einem Blick auf die Volkszählungsstatistik der zwischen Wien und Tulln in Donaunähe gelegenen Gemeinde im Jahr 2003: Wo sind die Menschen dieser vielen Nationen eigentlich, die hier mit Wohnsitz gemeldet sind?, fragten sich die späteren GründerInnen der Initiative, die damals über der Statistik beieinander saßen. Und vor allem: „Wie trifft man mit ihnen zusammen?“
„Man sieht sie zwar im Supermarkt oder auf der Straße“, meinte Franz Meister aus Wien-Währing, Neo-Sankt Andrä-Wördner seit 1998, „aber ich kann ja nicht alle fragen ‚Wo kommen denn Sie her?'“
Ein Brief in fünf Sprachen mit der Einladung zum ersten Kochabend wurde über die Gemeinde, Verwalterin der Personendaten, an die Haushalte der Umgebung verschickt.

Integrationsessen: „Von außen sah es so aus, als fände ein Integrationsessen von Österreichern mit anderen Nationalitäten statt“, berichtet Jürgen Schneider, „aber anfänglich haben sich nicht die hier Geborenen mit den hierher Gezogenen an den Kochabenden getroffen, sondern eher die Zugezogenen untereinander, die sich irgendwie als Schicksalsgemeinschaft empfunden haben.“ Und ein Nachsatz: „Als Vorarlberger bin ich ja auch fremd wie ein Kurde hier.“ Ein wenig zögerlich hätte es begonnen, man habe nachtelefonieren müssen, um „die Menschen aus den Mauslöchern heraus zu locken“, berichten die Initiatoren.
Der Erfolg der ersten Kochabende war jedoch umwerfend. „Nicht aufhören“, hieß es. Bereits 2003 wurde das erste Kochbuch mit Rezepten und künstlerischen Fotos der Speisen und ihrer HerstellerInnen aus der Umgebung publiziert. Anfänglich wurden die Kosten auf fünf Familien aufgeteilt. Die bekamen ihr Geld bald zurück, denn die Gemeinde, so berichtet Jürgen Schneider, kaufte 500 Stück zum Subskriptionspreis. Bereits am Präsentationsabend wurden so viele Stück verkauft, dass die Initiative ihrerseits von der Gemeinde die Exemplare zurückkaufen und weitere 1.000 drucken konnte. Ein Jahr später erschien bereits das zweite Kochbuch.
Bürgermeister Alfred Stachelberg ist stolz auf die Initiative, die St. Andrä-Wördern in ganz Österreich bekannt gemacht hat. „Mit diesem Kochbuch“, schreibt er im Vorwort, „wurde die Idee, über kulinarische Genüsse hinaus Menschen unterschiedlicher Nationen, Religionen und Kulturen zusammenzuführen, tatsächlich hineingetragen in die Herzen der Menschen.“
Sankt Andrä-Wördern, am Schnittpunkt zwischen Tullnerfeld, Donau und Wienerwald, ist nicht allein wegen der BewohnerInnen mit speziellen Ideen ein besonderes Gebiet: „Als Mischung zwischen Resten dörflichen Charakters und – Gott sei Dank – noch nicht Donaustadt“, bezeichnet es Franz Meister. Es sei kein anonymer Schlafplatz und kein teurer Nobelvorort von Wien wie Klosterneuburg.
„Hier wohnen nicht der Botschafter und sein Sekretär, sondern die, die ihren Job bei Siemens machen, Beamte oder Sozialarbeiter sind“, meint Jürgen Schneider. Nicht nur die Nähe zu Wien und die Bahnverbindung sind inzwischen für so manche ein Grund geworden, sich in der Region, etwa 25 Kilometer von Wien entfernt, anzusiedeln. Teile des Gemeindegebietes gehören zum 2005 von der Unesco deklarierten Biosphärenpark und gelten als Modellregion für nachhaltiges Wirtschaften. Inzwischen seien auch die multikulturellen BewohnerInnen ein Anreiz, der andere dazu bewegt, ebenfalls nach St. Andrä-Wördern zu ziehen, sagt der Vorarlberger.

Grenzenlose Vielfalt. Seit 2003 ist „Grenzenlos kochen“ ein Verein. Neben regelmäßigen Kochabenden gibt es eine Reihe weiterer Aktivitäten: ‚Grenzenlos Freunde‘ bietet unter dem Titel „Leben in STAW“ das erste Online-Tagebuch zum Ort (http://nachtfalke.viennablog.at). „Grenzenlos Sommer“ veranstaltet jährlich ein Drei-Tage-Festival der Nationen am Ufer der Donau. Unter Mitnahme von Speisen, Getränken und Büchern finden sich Freunde grenzenloser Literatur zu periodischen Literaturfrühschoppen zusammen. Mohamed Salah trainiert die örtliche Fußballmannschaft unter dem Titel „Grenzenlos Fußball“. Man darf gespannt sein, was zu „Grenzenlos spielen“, Puppen und Musik, noch hinzukommt.
Eine völlig neue Form des Deutschunterrichts findet jedenfalls unter „Grenzenlos Deutsch“ statt. Seit 2005 werden, von der Gemeinde unterstützt, Deutschkurse abgehalten. „Viele Frauen, die sonst daheim eingesperrt sind, kommen, weil sie die Kinder mitnehmen können“, berichtet die Kursleiterin Regina Blondiau-Köllner. Die Kosten teilen sich Verein und Gemeinde. „Zum Zeichen der Ernsthaftigkeit“ werden 50 Euro pro Teilnehmerin eingehoben. Neuartig ist der Deutschunterricht für Analphabetinnen, die mit der Sprache auch Kenntnis der Schrift erlernen. Bis die Schülerinnen ihre ersten Buchstaben schreiben können, braucht es Geduld und viel Hilfe. Zur didaktischen Unterstützung, berichtet Blondiau-Köllner, bringe sie Freundinnen in den Unterricht mit. „Die helfen dann gratis beim Schreibenüben.“

Advent 2007: In den Medien läuft die Debatte über illegale Pflege und den „Fall Arigona“. In der alten Schule von Greifenstein, unweit der Donau und nahe bei den Geleisen der Franz-Josefs-Bahn, findet – am 15. Dezember – der letzte der insgesamt acht Kochabende des Jahres statt. Als kulturelle Vorspeise sozusagen gibt es Puppentheater von Alireza Göktasch, einem der Mitbegründer des Vereins, auf Kurdisch und Deutsch.
Eine Kamera läuft mit. Tino Blondiau und seine Kollegin von der Grafischen Lehranstalt verfassen eine Gruppenarbeit über die Aktivitäten von „Grenzenlos“. „Erst habe ich mir gedacht: Das wird fad mit den Alten. Aber es ist wirklich spannend“, sagt der siebzehnjährige Sohn der Deutschlehrerin.
Ohne ersichtliche Regieanweisung wird die Bühne nach heftigem Applaus und herzlichem Lachen abgebaut. Tische werden in einem Viereck aufgestellt. In der – im Verhältnis zur Zahl der Anwesenden – winzigen Küche brutzeln die ersten Speisen. „Gallo pinto“, Reis mit roten Bohnen, ein Rezept aus Zentralamerika. Schweinernes wird geschnetzelt, Gemüse gehackt. Immer wieder kommen neue Gäste, in den Taschen klappern die Töpfe mit daheim vorbereiteten Speisen.

„Ich komme aus dem 20. Bezirk aus Wien“, sagt eine junge Frau in der Vorstellungsrunde, „aber ursprünglich aus dem Irak und bin Kurdin.“ Die meisten kommen aus der Region Sankt Andrä-Wördern und sind hier geboren oder zugereist: aus Böhmen, der Türkei, der Elfenbeinküste, der Steiermark. Lisa, die Pensionistin, kommt aus Kritzendorf und ist hier, wie sie sagt, um Menschen kennen zu lernen, mit denen sie Spanisch sprechen kann.
Es ist Weihnachtszeit. So gibt es auch grenzenlos Kekse. Heuer werden Spenden für Mahmud gesammelt, um den Einspruch gegen den abschlägigen Asylbescheid zu finanzieren. Mahmud ist Bewohner des nahen Flüchtlingsheims der Österreichischen Jungarbeiterbewegung. Seit Sommer 2006 bauen hier AsylwerberInnen ehrenamtlich einen biologisch bewirtschafteten Obst- und Gemüsegarten um das Wohnheim auf. Das zweite Kochbuch „Weiter Grenzenlos kochen“ enthält bereits Rezepte von jungen Flüchtlingen.
Wie bei jedem anständigen Familienfest wird ständig fotografiert, sogar die Speisen. Später werden daraus die künstlerischen Fotos für die Kochbücher. Heuer, im fünften Jahr von „Grenzenlos kochen“, soll es ein besonders dickes werden.

Weitere Infos und Fotos auf www.grenzenloskochen.at

Gabriele Müller ist freie Journalistin, Übersetzerin und Gerichtsdolmetsch in Wien.

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