Ein schmales Stück Sachertorte

Von Ralf Leonhard · · 2001/12

In Salzburg diskutierten WissenschaftlerInnen und VertreterInnen von Entwicklungsorganisationen über die Zivilgesellschaft im Allgemeinen und ihre Rolle in Zeiten von Sparbudgets im Besonderen.

Selten sei er auf einer Tagung gewesen, wo er sich bis zum Ende gut gefühlt habe, resümierte Klaus Meschkat, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Hannover, am Abschlusspodium der gesamtösterreichischen Entwicklungstagung in Salzburg. Den Veranstaltern sei es gelungen, Wissenschaft und Praxis nicht nur für zwei Tage zusammenzubringen, sondern in einen fruchtbaren Dialog zu verstricken.
In Deutschland, erklärte der Gastredner, sei so etwas schwer vorstellbar. Ihn regte im übrigen die Veranstaltung an, an der Entwicklung der Schnittstellen zwischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Wissenschaft und Staat weiterzuarbeiten. Eingeladen zur Tagung hatten, anlässlich seines 20-jährigen Bestehens, der Mattersburger Kreis und die Arbeitsgemeinschaft Entwicklungszusammenarbeit, AGEZ. In der AGEZ sind die wichtigsten österreichischen NGOs aus dem entwicklungspolitischen Umfeld zusammengeschlossen, der Mattersburger Kreis wurde von WissenschaftlerInnen verschiedener Fachrichtungen gegründet, die, angesichts des Fehlens eines eigenen Instituts für Entwicklungspolitik an den Universitäten, interdisziplinär arbeiten.

Es galt, so die OrganisatorInnen der Tagung, aus den Fehlern der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) in ihrer bisherigen Form Lehren zu ziehen. Dabei sollte auch die Frage gestellt werden, wer unsere Beiträge entgegennehmen und kanalisieren soll. Es dürfe nicht darum gehen, „Schein-Gegensätze aufzubauen, die schnell in viel zu simplen Wertungen enden“, wie es in einem Vorbereitungspapier heißt: „Es ist sinnlos zu fragen, ob die Zivilgesellschaft besser sei als der Staat, und genau so wenig ist es zielführend, Politisierung als das Gegenteil von Professionalität zu verstehen. Die Zukunft der EZA findet sich unserer Meinung nach in einer neuen Form der Zusammenarbeit zwischen Staat und Zivilgesellschaft und nicht in der Konkurrenz.“
Damit waren die Debatten vorgegeben. Wer oder was ist die Zivilgesellschaft? Was heißt Politisierung? In manchen Arbeitsgruppen wurde sogar die grundsätzliche Frage diskutiert, was man sich denn heute unter „Entwicklung“ vorzustellen habe. Viele Kontroversen ergeben sich einfach aus der Verwirrung um die Bedeutung dieser Begriffe. Wenn Dom Demetrio Valentino, Bischof der Diözese Jales im Bundesstaat São Paulo und langjähriger Leiter der brasilianischen Sozialpastorale, für mehr politisches Engagement der Kirche eintrat, so verdammte er damit nicht die Trennung von Staat und Kirche, sondern den bequemen Rückzug vieler Geistlicher auf reine Seelsorge. Die Pastoralarbeit müsse vielmehr dazu beitragen, dass die Armen die Ursachen ihrer Situation verstünden und das Elend zu überwinden lernten: „Unsere Kritiker sagen, wir tragen die Konflikte in die Kirche hinein. Das stimmt natürlich nicht, denn die Konflikte existieren auch ohne uns. Wir helfen den Leuten nur, sie auf friedliche Weise zu lösen.“
Er selbst leistete aus seiner lateinamerikanischen Perspektive einen höchst politischen Beitrag zur Diskussion über die neoliberale Wirtschaftpolitik. Bevor man Staatsbetriebe und öffentliche Einrichtungen privatisieren könne, gelte es, „den Staat zu entprivatisieren“, also den Einfluss mächtiger Wirtschaftsgruppen auf den Staat zurückzudrängen. Denn in den meisten Ländern des Südens sei der Staat nie etwas anderes als ein Instrument solcher Lobby-Gruppen oder Parteien gewesen.

Klaus Meschkat, einer der anerkanntesten Lateinamerikaexperten Deutschlands, versuchte in seinem Referat zu klären, wer sich hinter der viel zitierten Zivilgesellschaft verbirgt. Der vom italienischen Philosophen Antonio Gramsci nach dem Zweiten Weltkrieg geprägte Begriff erlebte in den 70er Jahren eine Renaissance in Osteuropa – wo ihn die Dissidenten in ihrer Opposition zum sklerotischen Staatssozialismus beanspruchten – und in Lateinamerika, wo sich unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte gegen die Militärdiktaturen zusammenschlossen.
Im entwicklungspolitischen Kontext meine man häufig die unterschiedlichsten NGOs in den Partnerländern, die oft nur vorgeben, für die Basis zu sprechen. So müsse man klar unterscheiden „zwischen solchen, die tatsächlich im Interesse von Basisorganisationen tätig sind und aus denen hervorgegangen sind, und anderen, deren Hauptzweck darin bestehen mag, vielfältig verwendbaren Intellektuellen eine Beschäftigung zu sichern“.
Allen, die je mit Projekten in Lateinamerika zu tun gehabt haben, war nur allzu klar, was Meschkat meinte. Der undifferenzierte Gebrauch des Terminus Zivilgesellschaft berge außerdem die Gefahr, „die Differenzen innerhalb der real existierenden Gesellschaft zu verschleiern“. Nicht soziale Klassen, wirtschaftliche Machtgruppen, Monopole, das transnationale Kapital würden auftreten – sondern Akteure , die scheinbar im Prinzip alle die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben, am politischen Wettkampf teilzunehmen.
Angesichts der jüngsten Entwicklungen sei es jedoch vielleicht notwendig, den Begriff der „Zivilgesellschaft“ mit neuer Bedeutung zu füllen: „Die Priorität des Zivilen, die viele von uns für selbstverständlich hielten, ist plötzlich in Frage gestellt. Das Wort Zivilgesellschaft, das bisher in Sonntagsreden ziemlich unverbindlich beschworen werden konnte, bekommt einen neuen Klang. Ich zögere mit meiner Begriffskritik, weil es möglich ist, dass dieses Wort zu einer politischen Losung werden könnte gegen die Zerstörungsexzesse eines von allen Fesseln befreiten Militärapparats und auch gegen die Allmachtsphantasien bestimmter Innenminister.“ Meschkat dachte dabei an Deutschland.

Auch Eva Kreisky, Politologieprofessorin an der Uni Wien, sieht den unterschiedslosen Gebrauch des Begriffs problematisch, zumal die zunehmende Professionalisierung die NGOs oft in Abhängigkeit von staatlichen Instanzen bringe: „Damit wurden aber auch Prozesse der Entideologisierung und einer stärker pragmatischen Orientierung, sogar auch einer staatsorientierten Wende professioneller NGOs angestoßen. Die bis dahin vorwiegend basisbezogene und emanzipatorische Ausrichtung politischen Handelns ging dabei tendenziell verloren.“
Gleichzeitig konstatierte Eva Kreisky in Österreich den Versuch des Staates, NGOs zu vereinnahmen und ihnen zwecks Budgetentlastung staatliche Pflichten aufzubürden: „So ist es auch nur zu begreiflich, wenn sich neo-liberale Anti-Staatlichkeit vordergründig bürgergesellschaftlicher Masken bedient, um hintergründig Sozialstaatlichkeit als bürokratisch, entfremdend und zudem unbezahlbar zu verteufeln, in Wahrheit aber einem bloßen Marktfundamentalismus Tür und Tor zu öffnen.“
Selbst für „verlängerte Werkbänke“ staatlicher Politik müssen Begriffe wie Zivil- oder Bürgergesellschaft herhalten, konstatierte Kreisky: „Den Schöpfern der den sozial Schwachen zwangsverordneten Askese, sprich Nulldefizit, Sparpakete, wird das Gewissen erleichtert, indem mittels eines Revivals des sozialen Ehrenamtes die öffentlichen Budgets real entlastet und durch Einbezug in das zivilgesellschaftliche Instrumentarium Sozialabbau noch dazu politisch geadelt erscheint.“

Was die Budgetkürzungen für die entwicklungspolitische Arbeit bedeuten, brachte die Forum-Theatergruppe aus Wr. Neustadt auf den Punkt. Das EZA-Budget, symbolisiert durch ein schmales Stück Sachertorte, zwingt die von staatlichen Zuwendungen abhängigen Organisationen, entweder ihre Bildungsarbeit in Österreich oder ihr Engagement in den Ländern des Südens einzudampfen.
Den „Knackpunkt Ressourcen“ sprach Karin Fischer vom Mattersburger Kreis an. Bischof Valentini hatte beklagt, dass die ungeheure Schuldenlast der lateinamerikanischen Länder und Afrikas einen Nettokapitaltransfer von Süd nach Nord bewirke. Die von den internationalen Finanzinstitutionen diktierten hohen Zinsen lassen die Schulden trotz stetiger Zahlungen weiter ansteigen. Umso kläglicher, dass sich die EZA-Leistungen Österreichs von den einst als Standard anvisierten 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts immer mehr entfernen statt sich anzunähern. Lagen wir vor ein paar Jahren noch zumindest im EU-Schnitt von 0,33 Prozent, so sind für 2001 nur mehr 0,22 Prozent budgetiert. Österreich gebe sich damit international bereits der Lächerlichkeit Preis, wie ein Beamter der zuständigen Sektion VII bitter bemerkte.

Die Tagung habe zur Überwindung von Grenzziehungen beigetragen, bemerkte Karin Fischer, erinnerte dann aber daran, dass Entwicklungszusammenarbeit kein isolierter Bereich sein könne. Sie habe auch „mit Migration und Friedenspolitik zu tun“. Und damit war man aus dem geschützten Tagungszentum an der Uni Salzburg plötzlich wieder in der rauen Wirklichkeit österreichischen Politikalltags.

Ralf Leonhard ist ständiger Mitarbeiter des SÜDWIND-Magazins und lebt in Wien.

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