Einheit über alles

Von Dominic Johnson · · 2003/07

Das Jahr 2003 ist aus Sicht der ruandischen Regierung das Geburtsjahr eines „neuen Ruanda“, in dem Völkermord nicht mehr möglich ist. Der Rekurs auf eigene bäuerliche Traditionen anstelle der kolonialen Lehre eines Hutu-Tutsi-Gegensatzes dient dem Schmieden einer Nation, die geschlossen hinter der Regierung von Paul Kagame steht.

Das Referendum vom 26. Mai, mit dem sich Ruanda seine erste Verfassung seit dem Völkermord gab, war ein gelungenes Beispiel perfekter staatlicher Organisation. Die BürgerInnen hatten frei, die Wahlurnen wurden noch in die entlegensten Dörfer und Höfe transportiert, damit alle RuanderInnen ihren Daumenabdruck auf den Stimmzetteln hinterlassen konnten. Das Ergebnis: 93 Prozent Ja-Stimmen bei 87 Prozent Beteiligung für einen Verfassungstext, der den „Kampf gegen die Ideologie des Völkermordes“ zum obersten Staatsziel erklärt – keine zehn Jahre nach einem Genozid mit 800.000 Toten, bei dem unzählige einfache BürgerInnen auf Geheiß von Einpeitschern und Milizenführern an Massakern teilnahmen und noch in den entferntesten Winkeln des Landes auf Jagd nach versteckten Tutsi gegangen waren.
2003 ist das Geburtsjahr des „neuen Ruanda“, mit dem das Land endlich vom Ausnahmezustand der Bewältigung eines Genozids heraustreten soll. Auf das Verfassungsreferendum werden allgemeine Parlaments- und Präsidentschaftswahlen folgen, vermutlich im November – die ersten Mehrparteienwahlen in Ruandas Geschichte. Seit Januar leert die Regierung die Gefängnisse: etwa ein Drittel der einst 120.000 wegen Verdachts auf Beteiligung am Völkermord Inhaftierten sind bereits frei, weitere sollen im Laufe des Jahres folgen. Sie kehren nach dreimonatiger Schulung in „Solidaritätslagern“, wo sie zur Rückkehr ins zivile Alltagsleben vorbereitet werden, in ihre Heimatdörfer zurück und stehen dort den so genannten Gacaca-Gerichten zur Verfügung – Versammlungen der Dorfbevölkerung unter freiem Himmel, wo Überlebende und Täter des Völkermordes aufeinander treffen und gewählte Laienrichter dann die Schuld oder Unschuld der Beschuldigten feststellen können. Das ist ein wichtiger Schritt zu einem Schlusspunkt in der juristischen Vergangenheitsbewältigung.

Eine weitere Dimension der Rückkehr Ruandas zur Normalität ist das erhoffte Ende des Krieges in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo, wo Ruandas Armee jahrelang stationiert war, bis zum Rückzug gemäß einem Friedensabkommen im Herbst 2002. Die seit ihrer Flucht 1994 im Kongo stationierten Hutu-Milizen aus der Zeit des Völkermords, die dort zeitweise den stärksten Teil von Präsident Kabilas Regierungsarmee im Kampf gegen von Ruanda unterstützte Rebellen bildeten, werden unter UN-Aufsicht demobilisiert und in ihre Heimat zurückgebracht. Wenn das funktioniert, leben bald zum ersten Mal seit Ruandas Unabhängigkeit 1962 alle BürgerInnen Ruandas in Ruanda selbst.
Aus Sicht der Regierung ist all das so etwas wie eine zweite Unabhängigkeit. Die erste, als die Führer einer Hutu-Revolution gegen Ruandas Tutsi-Monarchie 1959 drei Jahre später von den Belgiern mit der Führung des unabhängigen Staates betraut wurden, gilt heute nicht mehr als Befreiung, sondern als Verlängerung kolonialer Ideologie: Die von Belgiern entwickelte Doktrin, wonach nur die Hutu sowie die Twa-Pygmäen einheimische RuanderInnen seien und die Tutsi später eingewanderte ErobererInnen, wurde zur Staatsideologie der ruandischen Republik 1962 und zur gedanklichen Legitimation des Genozids an Ruandas Tutsi 1994. Dabei war sie eigentlich kolonialer Rassismus, ein gewundener Erklärungsversuch für den Umstand, dass Ruanda ein hoch entwickeltes eigenes Staatswesen hatte, obwohl AfrikanerInnen doch aus Sicht der Kolonisatoren zu so etwas gar nicht alleine fähig waren. Die herrschende Tutsi-Aristokratie müsse einen fremden Ursprung haben, folgerten die Belgier und kamen gegen Ende ihrer Herrschaft zu dem Schluss, die gütigen Kolonisatoren müssten jetzt die Macht in die Hände der unterdrückten Einheimischen verlegen, also der Hutu. Deren Führer griffen das natürlich dankbar auf.
Gegen die auch später in ruandischen Schulbüchern popularisierten Versuche, Hutu und Tutsi als rivalisierende Ethnien zu begreifen – obwohl sie eine gemeinsame Sprache und Kultur haben und es kaum Familien gibt, in denen nicht beide Gruppen vertreten sind – setzen WissenschaftlerInnen in Ruanda heute die oralen Überlieferungen der einfachen Bevölkerung, die in Ruanda außerordentlich vielfältig sind. Das „neue Ruanda“ sieht sich als ein Ruanda, das sich zum ersten Mal von kolonialen Denkmustern emanzipiert.

So wird die orale Überlieferung, die wie in vielen Ländern Afrikas den Ursprung des ruandischen Volkes auf eine einzige mythische Person zurückführt und daher die Gemeinsamkeiten der RuanderInnen statt ihre Verschiedenheiten betont, als echtere und gesündere Alternative zur künstlichen Manipulationslehre von Hutu und Tutsi gefördert. Auch die Wiederentstehung der traditionellen Institution der Gacaca-Gerichte entspricht dieser Überlegung: Die „modernen“ Gerichte sind mit dem Völkermord nicht fertig geworden, also müssen die Ruander es jetzt mit ihren eigenen althergebrachten Mitteln versuchen.
Ruanda ist bis heute eines der am wenigsten verstädterten Länder Afrikas, und die Betonung von Tradition und Überlieferung fällt auf fruchtbaren Boden in einer zutiefst bäuerlich geprägten, ländlichen Gesellschaft, die nach den Umwälzungen der letzten Jahrzehnte endlich Stabilität braucht. Für die herrschende RPF (Ruandische Patriotische Front) von Präsident Paul Kagame, die in den 80er Jahren als Bewegung von Tutsi-Exilanten in Uganda entstand und nach dem Völkermord praktisch als von außen erobernde Armee die Macht ergriff, ist eine solche Aufwertung der Bauern überlebenswichtig zur Sicherung von Herrschaftslegitimität. Nur mit der Unterstützung der Landbevölkerung kann sie die kommenden Wahlen ohne Betrug gewinnen. Die RPF ist seit Monaten dabei, massiv AktivistInnen auf dem Land zu werben und ihre Strukturen noch in die entlegensten Dörfer und Höfe auszudehnen – anderen Parteien sind diese Möglichkeiten verwehrt. KritikerInnen lästern, dass die Regierungspartei bald die Mehrheit der Bevölkerung zu ihren Mitgliedern zählen werde, womit das Wahlergebnis schon vorweggenommen sei.
„Westliche“ Sorgen wie Wahrung der Menschenrechte, Gewaltenteilung, uneingeschränkte Pressefreiheit und volle Betätigungsmöglichkeiten für politische Parteien gelten demgegenüber als Obsessionen einer volksfernen städtischen Elite. Dass Ruandas neue Verfassung politische Freiheiten nur in einem engen Rahmen gewährt und unter Bezug auf den „Kampf gegen die Ideologie des Völkermordes“ sowie gegen „ethnische und regionale Spaltungen“ sogar verbieten kann, ist daher kein Widerspruch im Selbstverständnis des „neuen Ruanda“, sondern dafür konstitutiv. Die nationale Einheit geht über alles, denn wohin die Spaltung der Nation führt, hat man 1994 erlebt.

Ruandas Regierung sieht sich beim Versuch, neue Machtkämpfe im Keim zu ersticken, in einem Wettlauf mit der Zeit: bis 2020 dürfte die Bevölkerung Ruandas von derzeit acht auf 20 Millionen steigen, was eine Bevölkerungsdichte von über 600 Menschen pro Quadratkilometer bedeutet – unmöglich in einer auf traditioneller Landwirtschaft gebauten Gesellschaft. So müssen nach Ansicht der staatlichen Wirtschaftsplaner so schnell wie möglich neue Wirtschaftszweige aufblühen und eine Modernisierung im Schnelldurchlauf nach chinesischem Muster stattfinden, um den sozio-ökonomischen Zusammenbruch zu verhindern.
Die Betonung autoritärer Traditionen aus der ruandischen Geschichte im bewussten Gegensatz zu westlichen Freiheitsidealen ist dabei hilfreich. Wenn die Bauernbevölkerung erstmal als sichere Basis der Regierung feststeht, so ein Kalkül, dürfte es Oppositionellen nicht mehr möglich sein, sie gegen zukünftige autoritäre Modernisierungsschritte wie die Abschaffung von Streusiedlungen und die beschleunigte Bildung städtischer Zentren aufzuhetzen.
Die nötige Zeit hat die RPF. Da die Verfassung dem Präsidenten zwei gewählte Amtszeiten von je sieben Jahren gibt und eine echte Alternative zu Kagame nicht in Sicht ist, dürfte der frühere Guerillachef, der seit 1994 starker Mann Ruandas und seit 2000 formelles Staatsoberhaupt ist, bis 2017 regieren können: Zeit für das Aufkommen einer neuen Generation von RuanderInnen, die das neue Denken verinnerlicht und ihr Land im Einklang mit den staatlichen Entwicklungszielen umkrempelt. Dann vielleicht haben die Führer des „neuen Ruanda“ ihre historische Mission erfüllt.

Dominic Johnson ist Afrika-Redakteur der Berliner Tageszeitung „taz“.

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