Einsperren und ausrotten

Von Sandra Rodríguez · · 2003/11

Sie sind tätowiert und kommunizieren in ihrer eigenen Sprache und mit eigener Gestik. Ihr Leben spielt sich auf der Straße ab, sie markieren mit Graffittis ihr Territorium, stehlen im Drogenrausch und bekämpfen sich untereinander bis aufs Messer: die „Maras“, die Jugendbanden in Zentralamerika.

Schätzungen zufolge gibt es in Mittelamerika an die 400.000 Angehörige der „Maras“. Ihr Ursprung liegt Jahrzehnte zurück, dennoch wurden sie erst in den 90er Jahren in der Gesellschaft wahrgenommen.
Die meisten Mitglieder der Maras sind männlich und zwischen 10 und 25 Jahre alt. Ihre Zahl hat in den letzten Jahren besonders stark zugenommen, genauso wie ihre Aggressivität, Gewalttätigkeit und ihr Organisationsgrad. Heutzutage werden sie auch in Verbindung mit der Bandenkriminalität und dem Rauschgifthandel gebracht.
Die Regierungen haben Polizei und Militär damit beauftragt, dieses soziale Phänomen, das sich von Guatemala über Honduras und El Salvador bis nach Nicaragua hinzieht, mit allen Mitteln zu bekämpfen. Auch mit neuen Gesetzen. So wurden beispielsweise in Honduras das Strafgesetzbuch und das Minderjährigenrecht geändert.

Operation Freiheit: Kaum waren die vom honduranischen Präsidenten Ricardo Maduro forcierten Gesetzesänderungen in Kraft getreten, führten Polizei und Armee die so genannte „Operación Libertad“ durch. Es begann eine noch nie da gewesene Jagd auf Jugendliche. Maduro versprach, die Banden innerhalb der nächsten zwei Jahre „auszurotten“.
In Honduras werden an die 60.000 Jugendliche den Maras zugezählt. Die Sicherheitskräfte haben in der Hauptstadt Tegucigalpa, in San Pedro Sula, La Ceiba und Choluteca Hunderte von Bandenführern festgenommen. Laut Oscar Alvarez, dem honduranischen Sicherheitsminister, ist infolge dieser Maßnahmen die Anzahl der Morde um knapp 50% gesunken.
In El Salvador kündigte Präsident Francisco Flores am 23. Juli dieses Jahres die Operation „Mano Dura“ (Harte Hand) an und brachte gleichzeitig einen Vorschlag zu einem so genannten Anti-Mara-Gesetz ein. In der kleinen zentralamerikanischen Republik sind etwa 30.000 Jugendliche in Mara-Banden organisiert. Bis Mitte September wurden über 1.600 von ihnen festgenommen. Die Polizei verkündete, dass dadurch die Morde um 60% reduziert werden konnten.
Da jedoch den meisten Verhafteten keine Gesetzesbrüche nachgewiesen werden konnten, mussten die Untersuchungsrichter den Großteil bald wieder freilassen.
Der berüchtigte „Anti-Maras-Gesetzesentwurf“ beinhaltet u.a. die Forderung, dass alle tätowierten Jugendlichen ins Gefängnis gesteckt und die Minderjährigen wie Volljährige behandelt werden sollen. Dieser Vorschlag des salvadorianischen Präsidenten stieß allerdings auf heftigen Widerstand von Richtern, Anwälten, Oppositionspolitikern und Menschenrechtsorganisationen. Das Parlament stimmte nur für einige Reformen im Strafgesetzbuch.

Guatemala folgt nun dem Beispiel von Honduras und El Salvador und führt den „Plan Escoba“ (Besen-Plan; gemeint ist „Auskehren“, „hart Durchgreifen“) durch. Von den circa 300.000 Bandenmitgliedern sind bereits 2000 festgenommen worden.
„Die Polizei weiß, dass die schlimmsten Verbrechen nicht von den Maras begangen werden. Aber es ist einfacher und ungefährlicher, als gegen den Drogenhandel, die organisierte Kriminalität oder gegen die Korruption der Regierung vorzugehen“, meint Luis Ramírez vom Institut für Vergleichende Strafwissenschaften in Guatemala. Mittlerweile liegen bereits verschiedene Entwürfe zu einem Anti-Mara-Gesetz vor.
Die nächsten Präsidentschaftswahlen sind in Guatemala für November und in El Salvador für kommenden März angesetzt. Da sind die Jugendbanden ein beliebtes Wahlkampfthema. Die Politiker werfen sich gegenseitig vor, keine Verbesserung der sozialen Lage zu erreichen und den Jugendlichen keine Alternativen anzubieten. Gleichzeitig kündigen sie populistische und kurzsichtige Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität an, um ihr Image aufzupolieren.
Kritische Stimmen werfen den Regierungen vor, bei ihrem Feldzug gegen das Mara-Phänomen die Wurzeln des Problems nicht zu bekämpfen. Die Möglichkeit einer Resozialisierung wird nicht einmal im Ansatz erwogen. Die Gefängnisse sind überfüllt, dort blüht der Waffen- und Drogenhandel. Die Folgen sind immer wiederkehrende Ausschreitungen und Aufstände in den Gefängnissen. Der schlimmste Exzess ereignete sich im April dieses Jahres im Gefängnis „El Porvenir“ in La Ceiba im nördlichen Honduras. Dabei starben 68 Jugendliche.
In den 19 Strafanstalten von El Salvador werden bis zu 11.000 Insassen gefangen gehalten, obwohl die Kapazität nur für 7.000 reicht. „Wo sollen sie denn hingebracht werden“, fragt sich Pater José Morataya, Direktor eines Don-Bosco-Heimes, wo seit elf Jahren ehemalige Bandenmitglieder resozialisiert werden. „Das Gefängnis ist für einen Jugendlichen nichts anderes als eine Universität der organisierten Kriminalität. Wer überlebt und wieder rauskommt, wird viel stärker und in seinem Vorhaben gefestigter sein“, meint der Geistliche.

„Mafia“ war der Spitzname von Edgar R., der bereits im Alter von zehn Jahren Mitglied der „MS 13“ wurde, neben der „Mara 18“ die größte und gewalttätigste Jugendbande in Guatemala. Er stammt aus El Salvador, emigrierte aber kurz danach mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern ins Nachbarland. „Ich habe mich mit meinen Brüdern nicht vertragen, und meine Mutter war sowieso nie zu Hause“, erinnert sich Edgar. So schloss er sich auf der Suche nach Rück- und Zusammenhalt den Maras in Guatemala an, und er blieb zwei Jahre bei der „MS 13“. Diese Gruppe und die Mara 18 sind erbitterte Feinde und bekämpfen sich gegenseitig. Edgar nahm diverse Drogen und beging drei Morde. Als er von diesen Gewaltexzessen genug hatte, wollte er aussteigen. Seine Gruppe stimmte zu, aber nur unter der Bedingung, dass er vorher einen Polizisten töte. Edgar tauchte daraufhin unter. Eine Bekannte brachte ihn zu Don Bosco. Heute, mit 15 Jahren, arbeitet er in einer Aluminiumfabrik und besucht die Schule. Das Schicksal von Edgar ist kein Einzelfall – es steht als Beispiel für Tausende von Jugendlichen in ganz Mittelamerika. Die starke Abwanderung vom Land in die Städte lässt dort die Elendsviertel überquellen. Oft leben bis zu zwölf Personen auf zwanzig Quadratmetern; Kinder und Jugendliche haben keinen Platz zum Spielen und auch keine Aussicht auf eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz. Diese Situation führt auch zu einer Zunahme der Gewalt innerhalb der Familien.
In den „Maras“ finden die Jugendlichen Zugehörigkeit, Identität, Solidarität, vor allem aber auch Respekt. „Die Liebe und den Rückhalt, die wir zu Hause nicht bekamen, haben wir auf der Straße, bei unseren Freunden, gefunden“, meint ein Mitglied der „Mara 18“.
Wenn man erst einmal Mitglied ist, geht es nur mehr ums Überleben, und das heißt, den Rivalen einzuschüchtern und notfalls auch zu töten. Die Spirale der Gewalt dreht sich immer weiter.

Nicaragua hat den geringsten Anteil an Jugendbanden; deren Mitgliederanzahl wird auf ca. 9.000 geschätzt. Obwohl auch dieses Land auf einen Bürgerkrieg zurückblickt und heute ein reger Waffenhandel betrieben wird, hält sich die Gewalttätigkeit unter Jugendlichen in Grenzen. Es wird vermutet, dass der Grund dafür in einer besseren Zusammenarbeit zwischen Polizei und Bildungsinstitutionen liegt.
Obwohl Guatemala die größte Zahl an Maras aufweist, leben die gewalttätigsten Jugendbanden Zentralamerikas in El Salvador. Die verheerenden Auswirkungen des Bürgerkrieges und die wirtschaftliche Not trieben Millionen von SalvadorianerInnen zur Auswanderung in die USA. In einer fremden, häufig diskriminierenden Umgebung, mit fremder Kultur und Sprache, entwickeln die Jugendlichen ihre Überlebensstrategien. Werden sie in den USA straffällig, steckt man sie zuerst ins Gefängnis und schiebt sie dann in die Heimat ab.
Viele der Jugendlichen wollen die Bande verlassen, wenn sie älter geworden sind oder eine Familie gründen wollen. Ein Austritt gilt als Verrat. Ein Bandenmitglied kann aber eine Art Lizenz erhalten und sozusagen als passives Mitglied weiterleben. Außerhalb der Gruppe ist das Leben allerdings schwierig, da kaum einer der Jugendlichen eine Ausbildung hat. Ihre Tätowierung verrät ihre Herkunft, und so bekommen sie keine Arbeit.

Die Autorin stammt aus El Salvador, studierte in Wien Publizistik und lebt und arbeitet heute wieder in ihrer Heimat.

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