Ende einer Epoche

Von Claudius Prößer · · 2010/05

Chile wurde kürzlich von einem der stärksten Erdbeben der jüngeren Menschheitsgeschichte erschüttert. Das Beben hat die Versäumnisse der wirtschaftlich so erfolgreichen Regierungen der letzten zwei Jahrzehnte offen gelegt. Viele sprechen deshalb auch von einem „sozialen Erdbeben“.

Es erscheint als eine Ironie der Geschichte, dass genau zwanzig Jahre nach der Rückkehr der Militärs in die Kasernen sich vielerorts die Menschen an den Straßenrändern versammelten, um bewaffnete Soldatenkonvois mit Applaus zu empfangen. Vorangegangen war eines der schwersten gemessenen Erdbeben weltweit, das zwei Wochen vor dem Abtritt der sozialistischen Präsidentin Michelle Bachelet auch Chiles politische Landschaft erschütterte.

Das Beben der Stärke 8,8, dessen Epizentrum nördlich der Großstadt Concepción im Pazifik lag, ließ an diesem 27. Februar tausende Häuser einstürzen, zerbrach den Asphalt der Autobahnen und legte die Energieversorgung lahm. Die meisten Toten – über 400 Menschen – waren Opfer eines Tsunami, der kurz nach dem Beben etliche Küstenorte verwüstete. Eine offizielle Warnung vor der Flutwelle hatte es nicht gegeben, weil die dafür zuständige Marine, aber auch die Nationale Katastrophenbehörde Onemi, offenkundig überfordert waren. Die Zerstörungen allein wären noch kein Grund für Bachelet gewesen, tausende Soldaten aus allen Landesteilen in die Bío-Bío-Region um Concepción und die Maule-Region mit der Hauptstadt Talca zu schicken. Gleich nach dem Desaster war es zu schweren Plünderungen gekommen, in vielen Städten wurden Supermärkte und Warenlager, aber auch kleine Geschäfte leer geräumt und teilweise in Brand gesetzt.

Drei Tage nach dem Beben bildeten die BewohnerInnen vieler Stadtviertel „Bürgerwehren“, die, mit Trillerpfeifen und Knüppeln ausgerüstet, ihre Häuser und die der Nachbarn vor räuberischen Banden schützen sollten. Der allgemeinen Hysterie konnte die scheidende Regierung offenbar nur mit einem militärisch kontrollierten Ausnahmezustand samt Ausgangssperre begegnen.

Dieses „soziale Erdbeben“ hat das Selbstbild vieler Chileninnen und Chilenen stark erschüttert. Aufmerksamkeit erregte ein polemischer Aufsatz in den Medien mit dem Titel „Unsere Barbaren“. Darin wurde die Frage aufgeworfen, weshalb sich so viele Menschen „illoyal zu ihrer Gesellschaft“ verhalten, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. José Luis Ugarte, Arbeitsrechtler an der Diego-Portales-Universität in Santiago und Autor des Artikels, sieht die Antwort in der extrem ungleichen Verteilung des Wohlstands, die bis heute für Chile charakteristisch ist. Das weit verbreitete Gefühl, BürgerIn zweiter Klasse zu sein, „verleiht unserer gesamten Gesellschaft dieselbe Stabilität wie die jener billig errichteten Neubauten, die das Erdbeben zu Fall brachte“, bemerkt Ugarte ironisch.

Tatsächlich steckt in dieser Instabilität ein wichtiger Hinweis darauf, was die Ära der Concertación in ihren 20 Regierungsjahren versäumt hat. Denn auf den ersten Blick fällt die Bilanz des Bündnisses aus Christdemokraten und Sozialisten gut aus: Die Armut ist auf ein historisches Tief zurückgegangen (von 45,1 Prozent im Jahr 1987 sank sie bis 2006 auf 13,7% der Bevölkerung), die Arbeitslosigkeit ist vergleichsweise niedrig (im weltweiten Krisenjahr 2009 stieg sie von 8 auf knapp über 10%). Im Human Development Report von 2009 rangiert das Land auf Platz 44 und damit an der Spitze aller lateinamerikanischen Staaten. Chiles Wirtschaft ist in fast all diesen Jahren gewachsen, in den 1990er Jahren sogar extrem stark. Die ökonomische und institutionelle Stabilität des Landes wurde Anfang 2010 mit der Aufnahme in die OECD belohnt – als zweites lateinamerikanisches Land nach Mexiko.

Und doch gibt es das, was auch viele PolitikerInnen der Concertación „das andere Chile“ nannten: das Chile des ärmsten Fünftels der Bevölkerung, das nie Zugang hatte zu den vielen neuen Shopping-Malls, den Casinos, den gebührenpflichtigen Autobahnen, das sich nicht einmal bis über beide Ohren verschulden konnte wie der Großteil der Bevölkerung. Die Menschen in diesem Chile haben, insbesondere seit der Bachelet-Regierung, verbesserte Ansprüche auf Gesundheitsversorgung. In der Realität allerdings sind die öffentlichen Krankenhäuser stark überlastet und unterfinanziert. Die öffentlichen Schulen, die die Kinder dieser Gruppe besuchen, schneiden bei landesweiten Vergleichstests katastrophal ab. Drogensucht und -kriminalität sind in den Vierteln der Ärmsten ein Problem, das Polizei und Justiz zunehmend überfordert.

Aber auch die Mittelschicht steht unter großem Druck, bei Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge nicht den Anschluss zu verlieren. So löblich etwa die Einführung von medizinischen Behandlungsgarantien oder Renten-Zulagen für Zeiten der Kindererziehung ist – verlässliche Qualität und finanzielle Sicherheit gibt es in Chile meist nur dort, wo der Markt die Preise bestimmt. Dazu kommen eine hohe Unsicherheit im Berufsleben und ein niedriges Lohnniveau. Kein Wunder – nicht einmal 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung gehören Gewerkschaften an. Diese können sich seit der neoliberalen Revolution unter Pinochet nur auf Betriebsebene organisieren, echte Verhandlungsmacht besitzen sie nur noch in den großen Kupferminen des Nordens.

All das hat die Concertación nicht erfunden. Sie hat ein marktfixiertes Entwicklungsmodell übernommen und im Laufe der Jahre sozial abgefedert – ein Projekt, mit dem sich alle identifizieren könnten, ist daraus nicht geworden. Gleichzeitig hat sich die chilenische Gesellschaft angesichts der schönen, neuen Konsumwelt entpolitisiert und individualisiert. Efrén Osorio, Vorsitzender der linksoppositionellen Humanistischen Partei, sieht in den panischen und irrationalen Reaktionen auf das Erdbeben ein Anzeichen dafür, wie wenig heute übrig ist von den sozialen Bewegungen früherer Tage: „Gäbe es ein belastbares gesellschaftliches Gewebe, das auch in einer Krisensituation weiterfunktioniert, hätten die Chilenen nicht nach dem Militär gerufen, sondern Überlebensstrategien und alternative Wirtschaftsformen entwickelt“, sagt Osorio. Bezeichnenderweise war Concepción, die am stärksten betroffene Großstadt, früher einmal die Heimat großer Industriegewerkschaften, aber auch der revolutionären Bewegung MIR. Von so viel widerständigem Geist ist heute nichts mehr zu spüren.

Haben also viele ChilenInnen bei der Stichwahl am vergangenen 17. Jänner erstmals für den Kandidat der Rechten – Sebastián Piñera – anstatt für die Concertación gestimmt, weil sie das System überfordert? Das ist unwahrscheinlich, schließlich steht Piñera für mehr Wettbewerb, mehr Wachstum, mehr Individualismus – und nicht für eine Politik, die die Härten des liberalen Modells abmildert. Vielmehr hat das „andere Chile“, haben viele ModernisierungsverliererInnen von vornherein darauf verzichtet, am politischen Leben teilzuhaben: Von rund zwölf Millionen Wahlberechtigen stehen heute beinahe vier Millionen nicht im Wahlregister, die allermeisten von ihnen junge Menschen unter 30. Sie erwarten offenbar keine Veränderung von einer Teilnahme an Wahlen, auf sie konnte die Concertación mit ihrem Kandidaten, dem Ex-Präsidenten Eduardo Frei, nicht zählen.

Auch die Stammwählerschaft der Concertación trug ihren Teil zur Niederlage bei: Viele WählerInnen gaben leere oder ungültige Stimmzettel ab. Während Piñeras AnhängerInnen hoch motiviert waren, der Rechten nach vier gescheiterten Anläufen endlich an die Macht zu verhelfen, fremdelten insbesondere viele SozialdemokratInnen und SozialistInnen mit dem christdemokratischen Kompromisskandidaten Frei – obwohl dieser im Wahlkampf unermüdlich betont hatte, er stehe links von der Mitte. Den stärksten politischen Rückhalt hatte er ausgerechnet von der Parteispitze der Sozialisten unter Camilo Escalona bekommen. Viele potenzielle WählerInnen erinnerten sich allerdings noch gut an Freis Politik während seiner ersten Amtszeit von 1994 bis 2000: Damals stand der Abschluss von Freihandelsabkommen ganz oben auf der Regierungsagenda, und Frei war es, der die bis dahin staatliche Wasserversorgung privatisierte. Umweltorganisationen erinnerten jetzt daran, dass Frei das Mega-Staudammprojekt Alto Bío-Bío des spanischen Endesa-Konzerns miteingefädelt hatte, für das große, von Mapuche-UreinwohnerInnen besiedelte Flächen geflutet wurden.

Mit dem Regierungswechsel am 11. März endete eine Epoche. Die letzte Präsidentin der Concertación benannte kurz nach dem Ende ihrer Amtszeit die offenen Rechnungen ihrer Regierung. In einem Gespräch mit der Zeitschrift „The Clinic“ bedauerte Michelle Bachelet vor allem, das versprochene Wahlrecht für die im Ausland lebenden ChilenInnen nicht durchgesetzt zu haben, sowie den Fortbestand des von der Diktatur geerbten „binominalen“ Wahlrechts, das kleinere Parteien ausschließt. Die Schuld daran sieht Bachelet aber nicht beim eigenen Lager: Es sei schlicht unmöglich gewesen, entsprechende Verfassungsänderungen mit der damals rechten Opposition auszuhandeln. Hinzu kam, dass die Koalition 2007 nach internen Spaltungen der Regierungsparteien selbst die einfache Mehrheit im Parlament verlor.

Ein solches Problem hat die Regierung Piñera bislang nicht. Im Gegenteil: Der Präsident bemüht sich erfolgreich, konservative Teile der Concertación und andere Enttäuschte mit ins Boot zu ziehen. Den Christdemokraten Jaime Ravinet konnte er bereits als Verteidigungsminister verpflichten, im Kongress gibt es Absprachen mit Abtrünnigen des Mitte-Links-Bündnisses.

Vor Piñera liegt jetzt eine Aufgabe, mit der er wohl nie gerechnet hatte. Eine Million neue Arbeitsplätze versprach er im Wahlkampf, jetzt dreht sich alles um den Bau von Notunterkünften angesichts des drohenden Winters. Auf rund 30 Milliarden US-Dollar wird der durch das Beben verursachte wirtschaftliche Schaden geschätzt, Piñera hat bereits angekündigt, zwölf Milliarden Dollar an staatlichen Mitteln für den Wiederaufbau aufzuwenden. Ein finanzielles Polster dafür gibt es: Über 20 Milliarden Dollar an Devisenreserven hatte die Vorgängerregierung aus Erlösen des Kupferexports angespart und nur einen Teil davon zur Abfederung der jüngsten Wirtschaftskrise aufgewendet. Der Preis des roten Metalls zieht nach einem Tief im Jahr 2009 längst wieder an: Im Februar 2010 verkauften staatliche und private Unternehmen Kupfer für 2,7 Milliarden Dollar, fast das Doppelte des Vorjahresmonats.

Piñeras Minister, die klingende Namen tragen und sich mit Harvard-Titeln schmücken, wollen jetzt beweisen, dass sie in der Lage sind, Chile zu einem Land der „Ersten Welt“ zu machen. Schon 2018 könne es soweit sein, sagte Finanzminister Felipe Larraín kürzlich auf der Präsidiumssitzung der Interamerikanischen Entwicklungsbank IDB im mexikanischen Cancún. In Chile glauben aber nur wenige an solche vollmundigen Versprechungen.

Claudius Prößer lernte Chile bei mehreren längeren Aufenthalten kennen und ist kürzlich nach Deutschland zurückgekehrt, wo er bei der Tageszeitung „taz“ als Redakteur arbeitet.

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