Entwicklungschance Migration

Von August Gächter · · 2007/07

Migration ist besser als ihr Ruf. Ein Blick darauf, wer unter welchen Bedingungen wandert, zeigt, wie daraus eine Art Entwicklungs-Versicherung entstehen kann.

Rund die Hälfte der Menschheit lebt in und von der Landwirtschaft. Die meiste Migration der Welt hat ihren Ausgangspunkt am Land. Familien und Haushalte suchen in der Migration Sicherheit und sozialen Aufstieg. Dazu zieht meist nicht der ganze Haushalt um, sondern nur ein oder zwei Mitglieder. Sie übersiedeln in eine Stadt im In- oder Ausland oder in ein landwirtschaftliches Gebiet, das klimatisch sehr verschieden und daher meistens weit entfernt ist. Vom Zielort aus können sie ihre Familie unterstützen, wenn sie Ernte- oder andere Einkommensausfälle erleidet – auf Grund von Witterung, Krankheit oder anderen Ursachen. Die Migrantinnen und Migranten ersetzen die Versicherung. Sie ersetzen aber auch die Bank, sie ermöglichen Investitionen in die Schulbildung der Kinder oder der jüngeren Geschwister, in die Verbesserung der Wohnsituation, die Vergrößerung der Anbaufläche oder den Ankauf eines Fahrzeugs. Bestehen Schulden, werden diese als erstes beglichen. Je höher und stabiler das Einkommen der Migrantinnen und Migranten und je mehr es dem Haushalt gelingt, ihre Loyalität zu erhalten, desto mehr können die Investitionsziele realisiert und so die Lebensumstände verbessert werden. Migration wird umso dringender, je mehr Verwandte und Nachbarn bereits ähnliche Ausgaben getätigt haben. Migration hat daher nicht in erster Linie den Zweck, das Wohlergehen der Migrantinnen und Migranten selbst zu steigern, sondern der Familien bzw. Haushalte, aus denen sie stammen.

Absolut arme Haushalte sind kaum in der Lage, die Migration eines Mitglieds zu finanzieren. Das ist das mit Abstand größte Migrationshemmnis auf der Welt. Steigende Haushaltseinkommen können daher zunächst für einige Jahrzehnte zu mehr Migration führen. Ebenso kann es sein, dass Migration anfangs gerade die Einkommen der besser gestellten Haushalte weiter steigert, und dass erst später auch die ärmeren Haushalte nachziehen können. Entwicklungserfolge in einem stark landwirtschaftlichen Umfeld zeigen sich daher in mehr und sozial breiterer Abwanderung.
Sicher ist, dass im Prozess der Steigerung der Einkommen und Verbesserung der Lebensbedingungen fast die ganze Bevölkerung die Landwirtschaft verlässt und auch verlassen muss. Das muss nicht zwingend heißen, dass sie abwandert. Sie könnte, wenn die Verkehrsinfrastruktur im Umkreis der Städte es erlaubt, täglich oder wöchentlich zu pendeln beginnen. Das wird nur in relativ wohlhabenden Gesellschaften der Fall sein können. Das Entstehen einer Generationen überdauernden, diversifizierten Wirtschaftsstruktur am Land, abseits einer größeren Stadt, ist äußerst selten. Somit bleibt die Abwanderung in die Städte als einzige realistische Alternative. Das verzögern zu wollen, vergrößert letztlich nur die Bevölkerung, die umziehen muss und wird.
Meist, besonders auch in größeren Ländern, liegen die Zielstädte im Inland. Ein Teil der Abwanderung aus der Landwirtschaft geht aber ins Ausland, normalerweise in der Folge von Anwerbung, manchmal weil die Städte bestimmten ethnischen Gruppen keine Sicherheit bieten. Heute leben erst drei Prozent der Weltbevölkerung nicht im Land ihrer Geburt, obwohl bereits die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt.

Lange Zeit standen allein die Verluste durch Migration im Vordergrund des entwicklungspolitischen Interesses. Den Staaten und ihren ländlichen Gebieten geht ein Teil der Gebildeten bzw. auch einfach Arbeitskraft verloren. Weniger deutlich benannt wurden der Mangel an Ausbildungsplätzen, der Mangel an Infrastruktur, um Bildung sinnvoll einsetzen zu können, zumindest am Land, und der Mangel an entsprechenden Arbeitsplätzen. Auswanderung wurde und wird fälschlicherweise verantwortlich gemacht für Unterlassungen und Fehler der Regierenden und der Verwaltung.
Auch genügt Bildung allein keineswegs für Wirtschaftswachstum oder steigendes Wohlergehen. Südkorea, Taiwan, Irland und Österreich zum Beispiel sind in den letzten 50 Jahren trotz permanenter Abwanderung von Menschen mit Bildung („Brain Drain“) reich geworden.
Fast immer können Migrantinnen und Migranten mit Bildung ihre Familie vom Ausland aus besser versorgen als im Inland. Das gilt leider meist auch dann, wenn sie nicht ihrer Bildung entsprechend beschäftigt sind.
Daraus ergibt sich das Risiko, dass die Bildung nicht nur für das Herkunftsland verloren ist, sondern für die Welt („Brain Waste“). Dieses Problem lässt sich nicht lösen, indem Migration verhindert wird, sondern indem im Einwanderungsland gegen Vorurteile, Diskriminierung und Rassismus vorgegangen wird. Dadurch kann man direkt die Lebensbedingungen in den Herkunftshaushalten verbessern.

Die OECD schätzt, dass Migrantinnen und Migranten 2002 bereits mehr als 150 Milliarden US-Dollar an Haushalte in Länder überwiesen haben, die Gelder aus der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) erhalten. Die Schätzung der Weltbank fällt mit etwa 100 Milliarden US-Dollar im Jahr 2004 geringer aus; aber auch diese Summe ist ungefähr das Doppelte dessen, was weltweit an EZA geleistet wird. Dazu kommen noch inoffizielle Überweisungen unbekannten Ausmaßes. Ebenso unbekannt sind die Überweisungen von Migrantinnen und Migranten innerhalb von Landesgrenzen. Diese sind vielerorts für die ländlichen Gebiete von allergrößter Bedeutung.
Seit 1995 übertrafen die offiziellen, internationalen Rücküberweisungen jedes Jahr die Entwicklungszusammenarbeit – und zwar jedes Jahr stärker. Während die EZA nur ganz allmählich zugenommen hat und manchmal auch wieder abnimmt, steigen die Rücküberweisungen kontinuierlich. Untersucht man einzelne Länder, lässt sich zeigen, dass die Rücküberweisungen auf den Bedarf der Empfängerhaushalte reagieren und nicht auf die Konjunktur in den Ländern, wo die Migrantinnen und Migranten leben. Sie haben den Vorteil, direkt an die Haushalte zu gehen statt an staatliche Bürokratien oder an Nichtregierungsorganisationen. Dass die Überweisungskosten zwischen 5% und 10% des Gesamtbetrags verschlingen, ist so gesehen ein relativ geringer Preis.

Ein Teil der Rücküberweisungen geht nicht von Einzelpersonen an die Herkunftshaushalte, sondern wird von Gruppen von Migrantinnen und Migranten erbracht. Solche Gruppen, besonders wenn sie sich organisieren, werden heute oft als „Diaspora“ bezeichnet. Sie funktionieren vielerorts als Selbstbesteuerungsgruppen zur Verbesserung der Infrastruktur in den Herkunftsgebieten. Diasporagruppen haben den Vorteil genauer Ortskenntnis und wissen, wem zu vertrauen ist.
In Mexiko haben einige Bundesstaaten zugesagt, derartige Investitionssummen mit eigenem Geld zu verdoppeln und zu verdreifachen.

In Österreich leben heute rund 50.000 Menschen, die in Nordafrika oder Nahost geboren wurden, und rund 90.000 weitere, deren Geburtsort im übrigen Afrika, in Asien, Lateinamerika und der Karibik liegt. Mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Wien. 80 Prozent sind erst nach Abschluss der Pflichtschule nach Österreich zugezogen, 45 Prozent haben bis jetzt die österreichische Staatsangehörigkeit erworben. Der Anteil an höher Gebildeten ist größer als bei der in Österreich geborenen Bevölkerung.
Beruflich wird die Bildung der Einwanderinnen und Einwanderer in Österreich relativ schlecht genutzt, sie bietet aber ein Potential zu vorerst außerberuflichen Aktivitäten, die auf die Verbesserung der lokalen Entwicklungschancen in den Herkunftsgebieten ausgerichtet sind. Bei entsprechender Förderung könnten daraus beruflich qualifizierte Tätigkeiten zum Nutzen der Betroffenen, ihrer Herkunftsgebiete und auch der österreichischen Gesellschaft werden.
Mit Diasporagruppen sind auch Risiken verbunden. In der internationalen Migration spielen Minderheiten eine wichtige Rolle. Zum einen, weil sie häufig stark agrarisch sind, zum anderen, weil sie im Ausland oft besser dran sind als im jeweiligen Inland. Als Diasporagruppen unterstützen sie zuweilen Sezessionsbewegungen im Herkunftsland mit Geld, Waffen und Öffentlichkeitsarbeit. Daher wäre es wichtig, sie in Friedensprozesse einzubeziehen. Aus der Existenz von Diasporagruppen auch Entwicklungszusammenarbeit und Friedenspolitik zu machen könnte zudem auch Teil einer Integrationspolitik in Österreich sein.
Die EZA muss nicht zwingend in den Kanon derer einstimmen, die behaupten, obwohl es ganz offensichtlich falsch ist, Migration sei für alle Beteiligten schlecht. Migration innerhalb von Ländern und international ist eine Gegebenheit. Es geht darum, die sich daraus ergebenden Chancen zu nutzen.

August Gächter ist Lektor an der Universität Wien und Forscher am Zentrum für soziale Innovation.

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