„Es geht um Erbe, Identität und Emotionen“

Von Brigitte Pilz · · 2021/Sep-Okt
Auf dem Wiener Brunnenmarkt treffen Sprachen und Menschen aus vielen Kulturen aufeinander. © Willfried Gredler-Oxenbauer / picturedesk.com

Viele Menschen in unserer Gesellschaft leben mehrsprachig. Ihre Identität speist sich aus mehreren Kulturen. Doch nicht alle Sprachen haben denselben sozialen Wert. Welche strukturellen Benachteiligungen für die Sprechenden zieht dies nach sich? Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa beantwortete Fragen von Brigitte Pilz per E-Mail.

Sie sind mehrsprachig aufgewachsen und verständigen sich mit Ihrem Mann und Ihren Kindern in den Sprachen Russisch, Arabisch, Deutsch, Englisch. Welchen Einfluss hat diese Vielsprachigkeit auf Sie und Ihre Familie?

Eigentlich war ich bis zu meinem elften Lebensjahr monolingual. Im Jahr 1996 bin ich mit meiner Familie aus Aserbaidschan nach Deutschland ausgewandert. Von da an wurde ich auf Deutsch sozialisiert, sodass ich das Deutsche heute um einiges besser beherrsche als meine russische Muttersprache.

Unsere Familie wäre ohne die Mehrsprachigkeit nicht denkbar, uns ist es wichtig, dass unsere Kinder auch Russisch und Arabisch sprechen, um diese Kulturen besser verstehen und um mit ihren Verwandten im Ausland kommunizieren zu können.

In Ihrem neuesten Buch „Die Macht der Mehrsprachigkeit“ beschreiben Sie Mehrsprachigkeit als großen Gewinn für jeden Menschen. Warum?

Für mich hatte sie nur Vorteile. Jede Sprache öffnet ungeahnte Möglichkeiten und viele Türen – oft gerade dann, wenn man gar nicht damit rechnet. Sprachen ermöglichen uns, andere Menschen kennenzulernen, auf sie zuzugehen und sie im umfassendsten Sinne des Wortes zu verstehen. Dasselbe gilt für andere Kulturen und manchmal sogar für uns selbst. Mit jeder Sprache, die wir beherrschen, kommen wir besser in anderen Umgebungen, Situationen und Ländern zurecht – oder aber auch einfach nur mit den Nachbar*innen.

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“  Mit jeder weiteren Sprache überschreiten wir also diese Grenzen. Wir lernen andere Küchen, Autor*innen, Musiker*innen, Künstler*innen, Philosoph*innen kennen, zu deren Oeuvre wir sonst keinen Zugang gehabt hätten.

Sie betonen auch, dass Sie dem Konzept der „Muttersprache“ nicht viel abgewinnen können. Worin bestehen Ihre Einwände?

Ich bin zum Beispiel eine russische Muttersprachlerin, allerdings ist mein Russisch gar nicht so gut, wie es dieser Begriff vermuten lässt. Es ist „eingerostet“ – ich habe die vergangenen zwanzig Jahre der Sprachentwicklung verpasst. Viele Begriffe sind inzwischen aus dem Englischen entlehnt worden, Neologismen hinzugekommen, also neue Bedeutungen alter Wörter. Manche sind mir bis heute unbekannt. Ich habe zwar einiges aufgeholt, aber es fühlt sich längst nicht so „natürlich“ an wie dieselben Begriffe auf Deutsch oder Englisch zu verwenden.

Deutsch ist dagegen die einzige Sprache, in der ich mir über alle Konnotationen eines einzelnen Wortes bewusst bin, in der ich weiß, ob es sich um eine politische oder pop-kulturelle Anspielung handelt. Es ist auch meine literarische Sprache und dennoch bin ich keine Muttersprachlerin, da ich nicht in diese Sprache hineingeboren wurde.

Die in der Translationswissenschaft, der Wissenschaft vom Übersetzen und Dolmetschen, verwendete Einordnung in A-, B- und C-Sprachen leuchtet mir viel mehr ein. Sie ist näher an meiner Lebenswirklichkeit. Die A-Sprache ist demnach die Mutter- oder Erstsprache oder einfach die Sprache, die man am besten beherrscht. In diese übersetzt man entsprechend aus den B- oder C-Sprachen.

Sie schreiben, es gehe nicht um Sprachkenntnisse an sich. Können Sie das etwas näher erläutern?

Es geht mir nicht um Sprachkenntnisse, die in Zertifikate verwandelt und durch Tests bewertet werden, sondern um Identitäten, um die eigene Biografie, um das biografische Erbe und nicht zuletzt um Emotionen. Ich kann mir schlicht nicht vorstellen, wie es wäre, wenn meine Kinder kein Russisch verstehen und sprechen würden. Würde ich ihnen kein Russisch beibringen, hätte ich das Gefühl, dass ich ihnen einen großen Teil meiner – und auch ihrer – Identität vorenthalte und sie von etwas abschneide, das doch ihnen gehört. Aber ehrlich gesagt hätte ich mir vor ihrer Geburt nicht vorstellen können, wie viel Arbeit die mehrsprachige Erziehung tatsächlich bedeutet.

Einwandererkinder werden bei uns häufig nur danach beurteilt, was sie (noch) nicht (gut) können: Deutsch. Was bräuchte es, um das Dilemma dieser defizitorientierten Betrachtungsweise aufzubrechen?

Ich glaube, dass nicht alle Kinder mit Migrationsgeschichte gleich beurteilt werden. Meine Vermutung ist, dass es auch hier Unterschiede gibt, zumindest in Deutschland, wo ich lebe. Kinder, die Französisch oder Englisch sprechen und danach Deutsch lernen, haben gegenüber Kindern, die zum Beispiel Mandarin, Serbisch, Bosnisch oder Türkisch sprechen, einen Bonus. Ihre Deutschkenntnisse werden oft „besser“ beurteilt als die anderer.

Long time no see 

Lingua franca ist die Bezeichnung für eine Verkehrssprache zwischen Menschen unterschiedlicher Sprachgemeinschaften oder Erstsprachen.   Oft erfahren solche Sprachen im Gebrauch eine Vereinfachung und werden dann als „Pidgin“ bezeichnet. Historisch waren koloniale Bedin-gungen zum Beispiel in Afrika, der Karibik oder Südostasien für die Herausbildung einer vereinfachten Behelfssprache verantwortlich. Sie hat sich häufig in der zweiten Generation als regulär funktionierende Sprache, als Kreolsprache verfestigt. „Long time no see“ ist etwa eine Kombination einer chinesischen Satzstruktur mit dem Englischen.   

Die verbreitetste Lingua franca ist heute Englisch. In der Weltwirtschaft und Weltpolitik, insbesondere in den Naturwissenschaften und als Fremdsprache ist sie Nummer eins. Was für die globale Kommunikation einen riesigen Vorteil bietet, wird auch kritisiert. Das sogenannte BSE (Bad Simple English) sei für eine Verflachung von Diskussionen verantwortlich.   

Manche sehen die Welteinheitssprache Englisch auf uns zukommen. Linguist*innen widersprechen, weil Sprache den Menschen eine wichtige Verortung bietet, die ihnen hilft, sich in ihrer Identität wiederzufinden.    red

Wir haben es also mit einer strukturellen Benachteiligung zu tun?

Genau. Unsere Gesellschaft ist rassistisch strukturiert. Die sozialen Abstufungen sind offensichtlich. Abwertendes Verhalten ist also kein individuelles Problem.

Fremdsprachen lernen gehört ganz klar zum Habitus bestimmter sozialer Gruppen. Das taten sie schon immer – seien es die Französischkenntnisse der russischen Adeligen oder das Latein und Altgriechisch der deutschen Bildungsbürger*innen. Heute werden sehr gute Englischkenntnisse mit Bildung und Weltläufigkeit in Verbindung gebracht. Dasselbe gilt auch für andere europäische Sprachen, genauer, für die indogermanischen und die romanischen Sprachfamilien.

Der Mehrheitssprache Deutsch wird in Deutschland und vermutlich in Österreich generell ein höherer Wert zugesprochen als den sogenannten „heritage languages“, die die Menschen mit Migrationserfahrung mitbringen. Wir werten aber nicht nur „andere“ Sprachen ab, sondern damit auch ihre Sprecher*innen.

Was ist von der Politik diesbezüglich zu fordern?

Die Politik könnte da ziemlich viel leisten. Die allererste, die wirklich elementarste Forderung wäre, sich anzusehen, in welchen Situationen Politiker*innen abwertend von „Parallelgesellschaften“ reden. Ein Beispiel – in Berlin gibt es Schulen, an denen sehr viele Schüler*innen nicht monolingual-deutsch aufwachsen, sie werden oft als Brennpunktschulen diffamiert.

Dann gibt es aber auch Privatschulen, deren Schulgebühren sehr hoch sind und in denen oft bilingual unterrichtet wird. An diesen Schulen ist es kein Ziel, dass die Kinder monolingual-deutsch werden. Es soll also das erreicht werden, was an der anderen Schule bereits Realität ist: Mehrsprachigkeit. Die teuren Privatschulen werden aber niemals als Parallelgesellschaft bezeichnet.

Die soziale Herkunft ist hierzulande noch immer der Faktor, der am meisten über den Bildungserfolg entscheidet. In Bayern gibt es etwa die Bavarian International School in Haimhausen und in München. Diese Schulen werben mit ihrer Transkulturalität: 1.150 Schüler*innen aus 61 unterschiedlichen Ländern und mit 44 Muttersprachen werden dort unterrichtet. Angeboten werden sechs Unterrichtssprachen (Englisch, Deutsch, Spanisch, Französisch, Chinesisch/Mandarin und Japanisch) und 17 weitere optionale Sprachen. Natürlich ist die Bavarian International School eine Privatschule. Warum kann es eigentlich nicht auch staatliche Schulen mit genauso einem Konzept geben?

Welcher Umgang mit Mehrsprachigkeit wäre in unserer Gesellschaft nötig, damit alle Menschen Gewinn daraus ziehen? Wie könnten die Ressourcen der vielen Sprachen besser genutzt werden?

Wir brauchen in den Schulen das Angebot einer durchgängig mehrsprachigen Erziehung für alle Einkommensklassen. Nicht erst seit der Corona-Pandemie ist es klar, dass es von politischer Seite keine Vision für die Schule von morgen gibt, und das ist entsetzlich. Man müsste dazu allerdings überhaupt erst die Voraussetzungen schaffen, sprich Möglichkeiten anbieten, dass Kinder möglichst viele Sprachen lernen oder zumindest kennenlernen können. Man würde ihnen so neue Horizonte eröffnen und zugleich den Kindern, die diese anderen Sprachen sprechen, Wertschätzung zeigen.

Auch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt käme das zugute. Es würde nämlich anerkennen, dass diese anderen Sprachen – genauer: die Menschen, die diese Sprachen sprechen – Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, auch wenn das Deutsche noch immer die standardisierte und zur allgemeinen Norm erhobene Sprache darstellt.

Im Moment sind jene Eltern, die ihren Kindern die eigenen Herkunftssprachen näherbringen möchten, in der Regel auf den Unterricht in nichtstaatlichen Vereinen angewiesen. Deren Werte und die Qualität des Unterrichts werden dabei von keiner unabhängigen Stelle überprüft.

Brigitte Pilz ist freie Journalisten und Herausgebervertreterin des Südwind-Magazins.

© Valeria Mittelmaß

Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan, kam im Alter von elf Jahren nach Deutschland und lebt derzeit mit ihrer Familie in Berlin. Sie hat bislang vier Romane veröffentlicht. Bereits ihr Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012) wurde mehrfach ausgezeichnet, 2020 erschien der Roman „Der verlorene Sohn“. Von Herkunft und Vielfalt handelt ihr jüngstes Buch „Die Macht der Mehrsprachigkeit“, Dudenverlag, Berlin 2021.

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