Europa liegt in Asien

Von Ilija Trojanow · · 2008/12

Jede Kultur schöpft auch aus fremden Quellen. Grenzen müssen als befruchtende Zusammenflüsse begriffen werden. Mischkulturen sind für die Entwicklung – nicht nur Europas – von entscheidender Bedeutung. Ein Essay.

Eurasien ist mir in die Wiege gelegt worden. Wenn ich mir meine Augen genau ansehe, erkenne ich die Krümmung zentralasiatischer Tataren – bei meiner Tante ist es so stark ausgeprägt, dass man sie sich lebhaft in einer Jurte vorstellen kann. Ich stamme aus einem Land, in dem viele der religiösen Begriffe eine etymologische Verwandtschaft aufweisen mit Begriffen aus dem Avesta, dem Altpersischen; ich stamme aus einem Land, in dem die berühmte häretische autokephale Bewegung der Bogomilen entstand, bei der sich manichäische und zoroastrische Vorstellungen vermischten und die sich innerhalb kürzester Zeit über weite Teile des Balkans verbreitete.
Nehmen wir zunächst einige Namen, nehmen wir einige Orte. Zum Beispiel Heliodorus, Sohn des Dion. Der Name eines Hellenen, zweifelsohne. Doch der Grund, dass wir überhaupt von ihm wissen, ist eine indische Säule, sechs majestätische Meter hoch, gelegen nahe Besnagar im heutigen Bundesstaat Madhya Pradesh. Eine einfache Säule aus Sandstein, bar jeglicher Reliefs, auf deren Spitze ein majestätischer Adler hockt – Garuda, Symbol des Gottes Vishnu. Die Säule wäre nicht weiter bemerkenswert, handelte es sich nicht um die wohl erste in Stein gefasste Anbetung eines heute noch geläufigen hinduistischen Gottes (der damalige Name Vasudeva ist in der Folgezeit in den Namen Vishnu übergegangen), und würde die Inschrift am Sockel diese damals unikale Säule nicht als Geschenk eines „Bhagvata“, also eines Vasudeva-Verehrers, bezeichnen, der den Namen Heliodorus, Sohn des Dion, trug. Der Spender war also – im heutigen Sprachduktus – ein Ausländer.

Nehmen wir Barlaam und Josaphat. Die Helden einer im Mittelalter weit verbreiteten Romanze, einer christianisierten Version vom Leben Buddhas, aufgeschrieben im Buddhacarita-Manuskript, das in den ersten Jahrhunderten nach Christus in den Satteltaschen von Kaufleuten nach Edessa kam, dem Übersetzungszentrum im Osten der heutigen Türkei, von wo aus man die vielen mit Buddha in Verbindung gebrachten Wunder im Lauf der Zeit Jesus Christus zuschrieb: den Gang übers Wasser, die Heilung Kranker, die Beruhigung des Sturms.
Der Übersetzer von Barlaam und Josaphat war kein Geringerer als Johannes von Damaskus, eine bedeutende Gestalt im umayyadischen Christentum und orthodoxer Kirchenvater. Die Geschichten wurden in der Folgezeit so beliebt, dass Josaphat (eine gut belegte Verballhornung von Bodhisattva) im 14. Jahrhundert kanonisiert und als Heiliger in der katholischen Kirche verehrt wurde, ebenso wie Barlaam. Es ist vielleicht ein tröstlicher Gedanke, dass ein Christ, der am 27. November, dem St. Josaphat-Tag, zu dem Heiligen betet, auch gleichzeitig die Gnade Buddhas erbittet.

Nehmen wir den Kaufmann und Mathematiker Leonardo Fibonacci, einen arabisierten Pisaner, der im Maghreb aufwuchs. Seine Abhandlung Liber abbaci verhalf dem arabischen Zahlensystem zum Durchbruch, das bald das römische verdrängen sollte. Darin trat er überzeugend für die Verwendung der hindu-arabischen Zahlen ein, erklärte deren Vorteile beim Rechnen. Außerdem führte er die heute gebräuchlichen Zeichen für Addition, Subtraktion und Multiplikation ein, die zuvor in Europa unbekannt gewesen waren.
Der Norden Europas entwickelte sich zu seiner Zeit, zu Beginn des 13. Jahrhunderts, in einem rasanten Tempo, und die Übernahme moderner Kenntnisse in der Mathematik und im Bankenwesen waren notwendig, wenn die Kaufleute mit ihren schlauen und erfahrenen Kollegen aus dem arabischen Raum, aus Persien, Indien und Äthiopien erfolgreich Handel treiben wollten. Fibonacci ist ein Beispiel für die kulturellen Wechselwirkungen auf der Grundlage pragmatischer Überlegungen: Sein Vorschlag, die indisch-arabischen Zahlen beim Rechnen zu verwenden, und die Bereitwilligkeit, mit der die Methode umgesetzt wurde, ähnelt sehr der Art und Weise, wie die alten Griechen das phönizische Alphabet übernahmen.

Gewiss, dies sind nur einige disparate Beispiele, die man als Ausnahmen ablegen könnte, wären sie nicht symptomatisch für eine fortwährende euro-asiatische Interaktion, die, ideologiefrei betrachtet, zu der Schlussfolgerung führen müsste, dass sowohl die Werte als auch die kulturellen Errungenschaften eines selbstbewussten Europas durch Quellen inspiriert wurden, die als »nichteuropäisch« gelten. Es gab Zeiten, da war Kleinasien (wobei „Kleinasien“ an sich ein dubioser Begriff ist, bei dem der Schwanz mit dem Hund wedelt, denn das wahre Kleinasien ist Europa) nicht der Saum Europas, der doppelt und dreifach umgeschlagen und festgenäht werden muss, sondern die kreative und produktive Mitte, ein Geflecht von Beziehungen und Neuschöpfungen.
Die Grundlagen der europäischen Kultur wären ohne die durchlässige, wechselhafte und manchmal sogar symbiotische Qualität der Ränder nicht möglich gewesen. Trotzdem begreifen wir fließende Formen, unstete Identitäten und unscharfe Definitionen als ein Problem. Der öffentliche Diskurs über Europa verlangt nach einer kategorischen Klärung von Merkmalen der Zugehörigkeit. Als sollte eine Rasterfahndung ermöglicht werden, die europäisch von nicht-europäisch unterscheidet.
Oder anders gesagt, je genauer man die Herkunft der heiligen europäischen Familie betrachtet, desto mehr Bastarde werden sichtbar. Ist es also nicht angemessener und zudem erheblich pragmatischer, Europa als Teil von Asien zu betrachten?

Von außergewöhnlicher Bedeutung wäre eine neue Perspektive auf die Wechselverhältnisse zwischen Europa und Asien für die Zukunft Europas, für die Fähigkeit unserer Gesellschaften, sich neuen Realitäten anzupassen, die mit der weltumfassenden Überlegenheit Europas wenig zu tun haben werden. Die imperiale Arroganz, die den Mythos eines essenzialistischen zivilisatorischen Genius Europas schuf, von Hellas über die Renaissance bis zur Aufklärung, ist in Zeiten wirtschaftlicher und geopolitischer Parität nicht mehr vermittelbar. Wer etwa, völlig ahistorisch, argumentiert, der Islam habe in Europa nichts verloren, oder wer völlig unsinnig „Lieber Inder als Kinder“ deklamiert, wer also die Keule eines unüberbrückbaren Antagonismus schwingt – Abendland gegen das Morgenland, Europa gegen Asien, Aufklärung gegen Aberglaube, Demokratie gegen Despotismus -, der lebt in einem historischen Vakuum.
Noch weigert sich die herrschende Meinung in Europa, die asiatischen Elemente der eigenen DNA angemessen anzuerkennen. Doch Europa wird sich niemals von Asien distanzieren oder gar abschotten können.

Den vollen Text dieses Essays, den Ilija Trojanow auf der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich vortrug, finden Sie hier: Europa liegt in Asien (Word-Dokument).

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