Flüchtlinge willkommen

Von Christine Moderbacher · · 2011/06

Während Europa Flüchtlingen aus Nordafrika die Einreise erschwert, sorgt ein kleines tunesisches Dorf an der libysch-tunesischen Grenze mit beispielloser Gastfreundschaft für 1.500 libysche Flüchtlinge.

Dehibat gleicht einer Geisterstadt. Die Straßen des kleinen Dorfs mitten in der Wüste sind leer und die wenigen existierenden Geschäfte geschlossen. Denn nahezu alle EinwohnerInnen sind mit der Aufnahme libyscher Flüchtlinge beschäftigt, die laufend über die Grenze kommen: Dehibat liegt nur sechs Kilometer von der libysch-tunesischen Grenze entfernt. In einer der ärmsten Regionen Tunesiens, der Region Tataouine, deren Haupteinnahmequelle, der Tourismus, jetzt aufgrund der Revolution versiegte, herrscht Ausnahmezustand.

„Heute Nacht habe ich nicht geschlafen“, erzählt der 34-jährige gelernte Koch Lotfi aus Dehibat. Die letzte Nacht verbrachte er im provisorisch errichteten Aufnahmezentrum des Dorfs, um libysche Neuankömmlinge zu empfangen und Schlafplätze zu organisieren. Die Hilfe für die NachbarInnen ist für ihn selbstverständlich. „Schließlich verdienen sie ein Leben in Freiheit genauso wie wir!“, sagt er entschlossen.

Der Widerhall der explodierenden Granaten auf der libyschen Seite, seit Tagen ein ständiger Begleiter in der sonst üblichen Stille von Dehibat, ist ein Warnsignal Gaddafis. Lange wird es nicht mehr dauern, bis sein Militär es wagt, die Grenze zu überschreiten, meint Lotfi (siehe Kasten „Aktuelle Entwicklungen“). Allein letzte Nacht registrierte er die Ankunft dreier Pick-up Trucks voll mit Kindern und Frauen, die aus dem benachbarten libyschen Dorf Nalut aufgebrochen waren. Die Flüchtlinge, fast alle libysche BerberInnen, stammen großteils aus dem Bergmassiv im Südwesten der libyschen Hauptstadt, nur vier Fahrtstunden von Dehibat entfernt. Vier Stunden, die die ca. 1.500 LibyerInnen, die in Dehibat Zuflucht gefunden haben, von Ihrer Heimat trennen. Sie lassen nicht nur ihr Hab und Gut zurück, sondern auch eine junge Generation, die bereit ist, Gaddafis Truppen, die sich langsam ihren Weg in die Bergregion bahnen, entgegenzutreten, erklärt der junge libysche Ingenieur Youssuf. Er ist mit seiner Frau Asna, einer ausgebildeten Ärztin, und seinem 14-jährigen Neffen vor einigen Tagen in Dehibat angekommen.

„In Libyen gilt es nicht nur das Land zu verteidigen, sondern auch die Freiheit zu gewinnen, so wie es das Nachbarland Tunesien erst kürzlich vorgezeigt hat“, erklärt Youssuf. Er sitzt in einem grünen Militärzelt und isst warmen Couscous, dessen Duft wenigstens ein bisschen Heimeligkeit herbeizaubert. Mit perfektem Englisch erzählt er von seinem absolvierten Master-Studium an der Universität Manchester und dass er vor seiner Rückkehr nach Libyen viel gereist sei. Dass er einmal auf die Hilfe seiner tunesischen NachbarInnen angewiesen sein würde, hätte er sich nie gedacht. Sein neues Zuhause, das grüne Militärzelt, ist eines von vielen, das am Basketballplatz des Dorfes in nur einem Tag errichtet wurde.

Die BewohnerInnen von Dehibat haben innerhalb kürzester Zeit das Jugend- und Sportzentrum des Dorfes in ein Flüchtlingslager umgewandelt. Seither ist das ganze Dorf beschäftigt: Junge Männer, die noch immer von der tunesischen Revolution schwärmen, kochen das Abendessen. Der frühere Portier des Jugendzentrums verkündet die Nachrichten via Megafon und singt zwischendurch alte französische Lieder, die er in seiner Schulzeit gelernt hat, in den Lautsprecher. Junge PfadfinderInnen geben Zeichen- und Malkurse und die Schülerin Nura wäscht mit ihren Freundinnen seit einer Woche täglich das Geschirr des gesamten Zentrums. Die älteren Frauen des Dorfes versuchen, die Situation der Neuankömmlinge erträglicher zu machen, indem sie so viele libysche Frauen wie möglich zumindest zur Körperpflege in ihre Häuser einladen, um ihnen ein Mindestmaß an Intimsphäre zu gewähren.

Denn das enge Zusammenleben ist nicht immer einfach, erklärt Asna, Youssufs Frau. Sie unterhält sich mit einigen anderen Libyerinnen in einem spärlich eingerichteten Zelt. Auf Matratzen und Plastikplanen sitzend, erzählen die Frauen, dass sie zwar unglaublich dankbar für die Hilfe der DorfbewohnerInnen seien, das Zusammenleben mit Männern auf einem so engen Raum jedoch eine große Herausforderung für sie darstelle. Die Sanitäranlagen sowie der Aufenthaltsraum und der Speisesaal müssten mit Männern gemeinsam benutzt werden. Eine Routine, die in ihrem Heimatland schlicht undenkbar wäre, so Asna. Während die Frauen von ihrem neuen Leben im Camp abseits der Männerwelt berichten, weht der Wind eines aufkommenden Sandsturms durch die Ritzen der Planen.

Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ war sofort vor Ort, erzählt der Krankenpfleger Saduk, der im Moment zusätzlich für das tunesische Rote Kreuz arbeitet. Internationale Organisationen wie das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR und das Internationale Rote Kreuz sind unterdessen v.a. im fünf Stunden nördlich gelegenen Ra's Ajdir präsent, dem ersten und größeren Flüchtlingslager, das zu Beginn des Konflikts in Libyen auf tunesischem Boden errichtet wurde. Das UNHCR hat im Nachbardorf Ramada ein Lager für die Flüchtlinge in der Region aufgebaut.

Aktuelle Entwicklungen
Kurz nachdem die Autorin Christine Moderbacher aus Dehiba abreiste, fielen Geschosse der libyschen Artillerie auf tunesisches Territorium unweit von Dehiba. Die libyschen Truppen lieferten sich heftige Gefechte mit den Rebellen im zuvor friedlichen Dorf. Mittlerweile patroullieren tunesische Soldaten im Dorf, angeblich halten sich dort auch libysche Rebellen versteckt. Die Kämpfe drehen sich um die Kontrolle des nahe gelegenen Grenzübergangs Dehiba-Wassin, über den der Nachschub für die Rebellen-Truppen in den westlichen Bergregionen gesichert wird. Mittlerweile geht man von mehr als 30.000 Flüchtlingen aus der Bergregion aus (Stand bei Redaktionsschluss).

MiK
 

Es sind die BewohnerInnen des Dorfs selbst, die für die Nahrung und Unterkunft der von Tag zu Tag mehr werdenden LibyerInnen sorgen. Bleibt der Tourismus im Sommer aus und hält der Flüchtlingsstrom an, wird es bald schwierig werden, so Saduk, Nahrungsmittel und Hygieneprodukte für alle zur Verfügung zu stellen, inklusive für die DorfbewohnerInnen selbst. Die einzige Hilfe, die langsam in den nördlichsten Teil der Sahara-Ausläufer vordringt, kommt von im Ausland lebenden LibyerInnen, die von Tunis aus mit LKWs durch Tunesien fahren und Hilfsmittel, die dringend gebraucht werden, in die Region bringen. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate haben erste Vertreter gesandt, die mit Youssuf, der vom Lager zum Repräsentanten der Gemeinschaft gewählt wurde, in seinem Zelt Möglichkeiten der Unterstützung diskutieren.

Die Solidarität, die sie von anderen arabischen Ländern erhalten, sei bemerkenswert, so Youssuf. Von Dehibat aus weiter in den Norden Tunesiens zu reisen oder eventuell sogar die Einreise nach Europa zu wagen, kommt für ihn sowie für die meisten anderen LibyerInnen nicht infrage. In Dehibat ist er ganz nah an seiner Heimat, er fühlt sich von den tunesischen NachbarInnen verstanden und willkommen. „Hier dürfen wir ohne Pass einreisen. Anstatt an der Grenze kontrolliert zu werden, werden wir auf den letzten hundert Metern von tunesischen Soldaten begleitet und beschützt. Einreisebedingungen wie an den Außengrenzen Europas gibt es hier nicht. Europa dichtet seine Grenzen ab. Dort sind wir nicht willkommen. Da ist es besser, den Sommer über in den heißen Zelten in der Wüste auszuharren“, sagt Youssuf. „Wir bleiben hier, bis Gaddafi geht. Irgendwann wird ja doch noch internationale Hilfe kommen.“ Saduk nickt bestätigend und macht sich auf den Weg zum Aufnahmezentrum. Heute Nacht übernimmt er die Nachtschicht. Während er den ehemaligen Basketballplatz überquert, wird durch das Megafon gerade zum Abendessen gerufen.

Christine Moderbacher studierte Visuelle Anthropologie. Ende April reiste sie nach Tunesien.

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