Fremde im eigenen Land

Von Florian Geyer · · 2009/09

Im Olympia-Jahr hatte Peking jeden Protest in den „autonomen Republiken“ im Keim erstickt. Doch die Lage ist explosiv, wie die Unruhen vom Juli in der Provinz Xinjiang (Ost-Turkmenistan) gezeigt haben. Ein Lokalaugenschein aus Tibet.

Lhasa: Die tibetische Hauptstadt präsentiert sich trotz Regenzeit im Sonnenglanz mit dem alles überragenden Potala-Palast und den goldenen Dächern des Jokhang-Tempels. Doch Lhasa ist auch eine militarisierte Stadt. Militär oder bewaffnete Polizei bewacht alle Plätze und strategischen Kreuzungen, Soldaten sind auf den Dächern der Häuser in der Umgebung wichtiger Sehenswürdigkeiten postiert. Die jungen Soldaten sehen unter ihren bunten Sonnenschirmen nicht sehr martialisch aus. Fotografieren darf man sie aber nicht. An den Brennpunkten des Tourismus kommt diese Militärpräsenz noch eher diskret daher, in den tibetischen Vierteln und Marktgassen ist sie penetrant. Und wir erleben die ganze Arroganz der Macht, als ein Soldat unserem Fahrer wegen einer Lappalie die Sonnenbrille vom Gesicht schleudert.

In und um Lhasa gibt es eine ganze Reihe von Kasernen. Die Zivilbevölkerung weiß nicht, wie viele Soldaten dort zusammengezogen sind. Manche Vermutungen sprechen von einer halben Million in ganz Tibet. Täglich trifft ein Versorgungskonvoi in Lhasa ein, der absolute Vorfahrt genießt; der Straßenverkehr wird dann gesperrt. Was da transportiert wird, weiß man nicht.

Tibet wird immer chinesischer. Unter marktwirtschaftlichem Vorzeichen scheint das gründlicher zu funktionieren als unter dem Terror der Kulturrevolution. Die Tibeter sind dabei durchaus nicht nur passive Opfer, sondern passen sich an und spielen mit, wie Sonam, der einen Teil des Jahres in einem Internet-Café arbeitet und einen anderen als nomadisierender Yak-Hirte. Sie haben einfach schlechtere Chancen.

ChinesInnen investieren und bringen mehr Kapital mit, als TibeterInnen aufbringen können. Dabei sind auch die durchaus geschäftstüchtig. Gewisse Tempelbezirke sind, wenig ehrfürchtig, von lärmenden Geschäfts- und Bazarstraßen mit tibetischen und chinesischen HändlerInnen umgeben. Bei uns gibt es drei Religionen: Hinduismus, Buddhismus und Tourismus, sagen die nepalesischen Nachbarn, wo viele tibetische Flüchtlinge leben. In Tibet fehlt der Hinduismus. An seine Stelle tritt ein allmächtiger „Maoismus“, der chamäleonartig heute eine „sozialistische Marktwirtschaft der ersten Stufe“ proklamiert: Wer die Produktionszentren der chinesischen Industrie gesehen hat oder die Konsumtempel der Haupteinkaufsstraße Wang Fu Jing in Peking, der weiß: Es handelt sich viel mehr um einen Turbokapitalismus auf höchster Stufe, eine einzigartige staatskapitalistische Akkumulationsmaschine.

Den Einheimischen wird von den Chinesen mangelnder Respekt vor Modernisierung vorgeworfen. Doch andererseits beklagen sich die Tibeter wegen offener Diskriminierung. Das gehe hinauf bis in die Kommunistische Partei, wo Tibeter geschnitten würden, sobald sie höhere Positionen erreichen, beklagt sich mir gegenüber ein Gesprächspartner: „Wir stehen unter einer Art Generalverdacht als Unruhestifter.“ Auch in der Geschäftswelt würden den Einheimischen Steine in den Weg gelegt, sobald sie zu erfolgreich, wohlhabend oder mächtig werden. Dann würden plötzlich Bewilligungen nicht mehr erteilt oder falsche Beschuldigungen erhoben.

Lhasa ist heute eine rasant wachsende chinesische Stadt mit Geschäften, Einkaufszentren, Boutiquen, großzügigen Parks, Alleen und Fußgängerzonen.

Doch die „Modernisierung“ ist aufgesetzt. Auch folkloristische Verzierungen gleichen Bausünden nicht aus.

Diese Entwicklung ist auch Ergebnis einer gezielten Ansiedlungspolitik. Tibetische Geschäftsleute und Intellektuelle klagen, dass es für Han-Chinesen günstige Startkredite gibt, für Tibeter nicht. Kein Wunder, dass diese im Volksmund Krokodile genannt werden, die alle lukrativen Geschäfte sofort wegschnappen. Die Schere zwischen dem von China vorgeführten Konsummodell und den fehlenden Chancen stellt für die Jugend heute einen größeren Sprengstoff dar als die kulturelle und religiöse Diskriminierung. Und beide wirken zusammen. Die Tibeterinnen und Tibeter fühlen sich als Fremde im eigenen Land, einem besetzten Land, wo alle wichtigen Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden und die wichtigen Entwicklungen an ihnen vorbei laufen. An dieser Wahrnehmung ändert auch der insgesamt deutlich verbesserte Lebensstandard wenig.

Das Denkmal auf dem Platz vor dem Potala, dem Heiligtum der Tibeter, mit seinen beiden Bronzen spricht Bände: Links ein Gruppe Tibeter, die einen traditionellen Katta-Schal in die Höhe hält und eine Klampfe zupft. Sie begrüßt freudig eine Gruppe Chinesen rechts, die mit aufgekrempelten Ärmeln, Plan und Spitzhacke den Fortschritt bringt. Die Platzgestaltung stammt aus dem Jahr 1995, der Monolith kam erst 2002 hinzu und soll an den 50. Jahrestag der „Befreiung“ Tibets erinnern. Und wie um den letzten Zweifel zu beseitigen, dass hier nicht kulturelle Koexistenz beabsichtigt ist, sondern Kulturkampf, wird der Platz allabendlich zum Szenario für chinesische Popmusik-Events. Und aus dem schönen Lukhang-Park auf der Rückseite des Potala mit seinem rundum führenden gepflasterten Pilgerweg, dem Tsekor, schallen ganztägig chinesische Opern. Nur eine von vielen Respekt- und Taktlosigkeiten gegenüber einer Religion und Kultur, die von den Besatzern für „rückständig“ gehalten wird, für „vormodern“, als ein „Entwicklungshindernis“, das es zu überwinden gilt. Bestenfalls brauchbar als Folklore für einen mit der neuen Tibet-Bahn wachsenden, gerade auch chinesischen Tourismus.

Ein Mittwoch: Der Pilgerstrom um den Jokhang Tempel ist heute besonders stark. Es ist der erste Tag des sechsten Monats des tibetischen Kalenders. An einem Mittwoch ist zudem der gegenwärtige, der 14. Dalai Lama geboren, der im indischen Exil lebt. Die ganze Vorderfront des Potala-Palastes entlang der Straße werfen sich buddhistische PilgerInnen auf den Boden nieder. Diese tiefe Religiosität muss jenen Angst machen, die sie auszumerzen versuchen.

Kloster Samye: Das Gästehaus des ältesten Klosters Tibets ist ganz neu und modern. Auch im Seitental des Tsang-Po (Brahmaputra), das hinaufführt zur Ortschaft Yamalung und weiter zum Chitu-Pass, wird in großem Stil gearbeitet. Fast jedes zweite Haus wird gerade gebaut, Wasserregulierung, Elektrifizierung, Fahrwege, Schulen, Aufforstung – alles neu. Heftige Entwicklungsaktivitäten im ländlichen Raum, allerdings etwas spät, fast 60 Jahre nach der Annexion unter „sozialistischem“ Banner.

Die Klöster stehen heute unter politischer Kontrolle. Um 17 Uhr erklingt über dem klösterlichen Komplex von Samye militärisches Paradegeschrei: Nebenan exerzieren Soldaten.

In Samye treffe ich auf eine buddhistische Reisegruppe aus der Provinz Yünnan, die mit ihrem Lehrer-Mönch vier Wochen lang die heiligen Stätten Tibets besucht. Einige sind bereits seit Jahren seine Schüler – auch das gibt es in China.

Everest-Basecamp: Die 80 Kilometer lange Schotterstraße zum Basecamp des Mount Everest wurde im Jahr 2007 zum Transport des olympischen Feuers ausgebaut. Sie führt durch ein trostloses Schottergebirge. In den wenigen Dörfern herrscht rege Bautätigkeit, ja ein richtiger Bauboom. Die Halbnomaden sollen bessere Häuser erhalten. Dafür fließen großzügig Mittel aus Peking. Doch polarisiert, wie die Lage ist, werden selbst sinnvolle Maßnahmen wie die Begrenzung der Viehherden, um Überweidung und Erosion zu verhindern, als unzulässige Einmischung wahrgenommen.

Jenseits des Klosters Rombuk unterhalten TibeterInnen ein paar Souvenirstände und Teehäuser in Zelten. Ihre Pferdedroschken, die bis vor zwei Jahren BesucherInnen malerisch zum Basecamp hoch kutschiert hatten, wurden verboten. Dafür gibt es jetzt chinesische „Ökobusse“. Man möchte alles unter Kontrolle haben, Zwischenfälle und Provokationen vermeiden, wie etwa das Entrollen eines „free tibet“-Transparents durch einen US-Amerikaner, was vor zwei Jahren für China Anlass war, die Grenzen zu schließen. Daher werden auch hier auf 5.200 Metern Höhe am Basecamp inmitten von Geröll und ewigem Eis die Pässe der BesucherInnen kontrolliert.

Als ich am Moränenhügel meine Gebetsfahnen befestigen will, kommt mir Cheng aus Peking zu Hilfe. Auch er interessiere sich für tibetische Kultur und mache daher eine Rundreise, erzählt er. Als die Fahnen dann hängen, besteht er darauf, dass wir uns vor unserem gemeinsamen „Werk“ fotografieren lassen. Ein optimistischer Ausblick – immerhin!

Der Autor ist freiberuflicher Journalist und bereiste kürzlich China und Tibet.

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