Fünf Stans auf der Suche

Von Redaktionsteam Novastan.org · · 2020/Mai-Jun

Turkmenistan, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan suchen sie nach ihrem Weg. Ein Überblick.

Von den Steppen Kasachstans zu den Gletscherlandschaften Tadschikistans und Kirgistans hin zur 1001-Nacht-Kulisse in den usbekischen Städten Samarkand oder Buchara: Als „Eurasischen Balkan“ beschrieb der US-amerikanische Politikwissenschaftler Zbigniew Brzeziński 1997 den Großteil der Region, die wir heute als Zentralasien kennen. Dazu gehören die fünf Länder Turkmenistan, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan. Sie liegen zwischen Russland im Norden, China im Osten, Afghanistan und Iran im Süden und dem kaspischen Meer im Westen.

Sie werden wegen ihrer gemeinsamen Endung (die auf Persisch „Land“ bedeutet) auch die fünf „Stans“ genannt. Unabhängige Länder sind die fünf erst seit relativ kurzer Zeit.

2020 ist es genau 30 Jahre her, seit eine zentralasiatische Nation nach der anderen ihre Souveränität innerhalb der Sowjetunion erklärte. Damals, 1990, ahnte kaum jemand, dass im Jahr darauf die Unabhängigkeit folgen und die Sowjetunion schließlich ganz aufgelöst werden würde.

Heute wird die Region in der westlichen Öffentlichkeit immer noch als „post-sowjetische” Einheit wahrgenommen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Zentralasiens kennt dabei die Sowjetunion nur noch aus Erzählungen.

Auch Brzeziński Darstellung der Region als Konfliktherd und „Schachbrett” externer Mächte hält sich bis heute.

Doch dies entspricht alles nicht der Realität: Die fünf „Stans“ gehen trotz vieler Gemeinsamkeiten ihre eigenen Wege auf der Suche nach ihren kulturellen Wurzeln, ihrem Umgang mit Religion, der Öffnung ihrer Gesellschaften und der Abschöpfung ihrer natürlichen Reichtümer.

Schwere Anfänge. Der Neuanfang war für Zentralasien wie für die meisten ehemaligen Sowjetregionen alles andere als leicht, denn das Erbe der sowjetischen Planwirtschaft hatte eine unterentwickelte Industrie hinterlassen. Der Politikwissenschaftler Medet Suleimen, der 1987 in einer Kleinstadt in der Nähe von Almaty, der größten Stadt im Süden Kasachstans, geboren wurde, erinnert sich an die harte Zeit in den frühen 1990ern: „Die Jahre meiner Kindheit sind in meiner Erinnerung nicht so schön. Es gab nicht genug Lebensmittel, die Leute erhielten kein Gehalt.”

Suleimens Familie und NachbarInnen überlebten die ersten Jahre der Unabhängigkeit dank der Landwirtschaft.

Besonders hart traf es Tadschikistan, denn dort wütete von 1992 bis 1997 ein Bürgerkrieg. Die Kämpfe um die politische Macht spielten sich nicht nur zwischen der kommunistischen Elite und den Oppositionsgruppen ab, sondern hatten auch eine ethnische Dimension: Manizha Ismailova (Name auf Wunsch geändert), die heute im Ausland zu Zentralasien forscht, wurde 1993 in der Hauptstadt Duschanbe mitten im Bürgerkrieg geboren. Ihre Familie, die einer Bevölkerungsgruppe aus dem Pamir angehört, musste aus der Stadt fliehen. „Es gab Momente, in denen Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit gezielt getötet wurden, und meine Familie war darüber besorgt“, erläutert Ismailova. „Es gab viele regionale Spaltungen”, berichtet sie über die Zeit.

Entgegen der Erwartung vieler BeobachterInnen blieb Tadschikistan aber eine Ausnahme. In den anderen Staaten der Region war die Wirtschaftskrise Ende der 1990er Jahre überwunden, nicht zuletzt dank des Abbaus natürlicher Ressourcen.

Die Exporteinnahmen führten zu stetigen Wachstumsraten und die Armut konnte erheblich gelindert werden. Dies wirkte sich auch auf Suleimens Dorf in Kasachstan aus: „Nach 1999 hat sich die Lage stabilisiert und vieles ist besser geworden. Die Leute bekamen regelmäßig ihr Gehalt, und sie haben gemerkt, dass sie das Beste aus dem machen können, was sie haben”, erzählt Suleimen. Er arbeitet mittlerweile bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Almaty als wissenschaftlicher Mitarbeiter. „Die Leute haben Häuser gebaut und Autos gekauft. Einige, die in meiner Kindheit Äpfel aus ihrem Garten verkauften, sind mittlerweile kleine Unternehmer geworden.”

Doch nicht mit Äpfeln wurde Kasachstan reich, sondern wegen seiner großen Ölvorkommen. Neben Kasachstan profitierte Turkmenistan am meisten vom Rohstoff-Boom. Mit Öl und Gas konnten beide Länder bereits Anfang der 2000er Jahre erhebliche Einkünfte verbuchen. Beide Staaten erreichten inzwischen mittlere Einkommensniveaus.

Mit Baumwolle, Gold und Kupfer gelang es auch Usbekistan, seine Handelsbilanz deutlich zu verbessern. Doch nicht alle Länder wiesen einen ähnlichen Erfolg auf. Die Wohlstandsniveaus sind sehr unterschiedlich.

Im Fokus der Mächte. Am anderen Ende des wirtschaftlichen Spektrums befinden sich bis heute Kirgistan und Tadschikistan – beide sind stark von externen Geldgebern abhängen. Besonders Russland hat gegenüber den wirtschaftlich schwächsten Ländern Zentralasiens ein Ass im Ärmel: Denn in Moskau haben viele Menschen aus Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan Arbeit gefunden.

Zentralasien und Coronavirus

Die Länder Zentralasiens waren lange kaum von der COVID-19-Pandemie betroffen und reagierten zunächst mit Einreisebeschränkungen. Nachdem Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan Mitte März ihre ersten Fälle meldeten, wurde dort rasch das öffentliche Leben weitgehend eingestellt. Tadschikistan und Turkmenistan hatten zum Redaktionsschluss offiziell noch keine Fälle gemeldet. Die Krise stellt besonders für die sozioökonomische Lage in der Region eine Bedrohung dar und könnte unter den ärmeren Teilen der Gesellschaften eine Hungersnot auslösen.

Die Überweisungen kirgisischer und tadschikischer ArbeitsmigrantInnen machen rund 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ihrer Heimatländer aus. Kasachstan ist sicherheitspolitisch eng mit Russland verbunden und gehört zudem gemeinsam mit Kirgistan der Eurasischen Wirtschaftsunion an. Diese stellt einen integrierten Wirtschaftsraum nach dem Vorbild der Europäischen Union dar, wird aber stark von Russland als der stärksten Wirtschaftsmacht der Union dominiert.

Chinas Präsenz nimmt in der gesamten Region zu. Im Rahmen der Initiative „Neue Seidenstraße” fließen immense Summen in die Infrastruktur der zentralasiatischen Staaten. Zwischen 2007 und 2018 verdoppelte China seinen Warenaustausch mit Zentralasien und ist als Handelspartner weit bedeutender als die EU und Russland. „Wir sollten den Einfluss von China nicht vergessen”, betont Suleimen. „Der chinesische Einfluss ist besonders in der Wirtschaft gewachsen, aber wohl auch in der Politik“, sagt der Politikwissenschaftler. „Wir werden sehen, was China für Zentralasien als Entwicklungs- aber auch als soziales Modell bedeuten wird.”

Laut dem Atlas of Economic Complexity der Harvard-Universität beziehen Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan den größten Teil ihrer Waren aus China, Zielland von 83 Prozent der Exporte Turkmenistans.

Doch auch für die finanzielle Unterstützung aus dem Westen zahlte etwa Kirgistan einen politischen Preis. In den 1990er Jahren erhöhten Weltbank und Internationaler Währungsfonds den Reformdruck auf Zentralasien. Kirgistan folgte mit hoher Reformbereitschaft den neoliberalen Ratschlägen und bekam dafür Kredite. Weil das neue Regelwerk aber nur selektiv durchgesetzt wurde, profitierten vor allem die Machthaber, die soziale Ungleichheit verschärfte sich.

Die EU ihrerseits ist zwar einer der größten Geldgeber in der Region und zumindest für Kasachstan einer der wichtigsten Handelspartner. Politisch vermochte sie aber gerade im Vergleich zu Russland oder China nur begrenzt Einfluss zu nehmen. „Der relative Vorteil der EU gegenüber anderen Akteuren ist jedoch ihr wahrgenommener Nutzen und ihr positives Image”, schreibt der Politikwissenschaftler Zhanibek Arynov, der an der Nasarbajew-Universität in der kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan forscht und sich mit der Wahrnehmung der EU in Zentralasien beschäftigt hat. Die EU genießt demnach mehr Vertrauen und steht weniger im Verdacht, eigene geopolitische Interessen zu vertreten, verfügt aber auch über weniger außenpolitische Hebel.

Hoffnung Bischkek. Das zivilgesellschaftliche Leben in der Region profitierte von der internationalen Zusammenarbeit.

In Bezug auf pluralistische Meinungsbildung sind Kirgistan und Kasachstan hervorzuheben: Beide Länder verfügen laut einer Studie von Civicus, einem globalen NGO-Netzwerk, als einzige über eine nennenswerte, wenn auch „blockierte” Zivilgesellschaft.

Die turkmenische und usbekische Zivilgesellschaft hingegen gelten als „geschlossen”. Turkmenistan gehört diesbezüglich zu den restriktivsten Ländern der Welt, während Usbekistan seit dem Tod von Langzeit-Herrscher Islam Karimow (1989-2016) im Jahr 2016 Zeichen einer Öffnung zeigt. Kirgistan gilt als Hoffnung der „Stans“: Hier sind viele NGOs entstanden, ihre Zahl beläuft sich heute auf rund 12.000.

Kontraste: Kasachstans Hauptstadt Nur-Sultan zeigt architektonische Avantgarde (oben), das Gur-Emir-Mausoleum im usbekischen Samarkand (darunter) stammt aus dem 15. Jh.© Antoine Béguier
© Tanya Zavkieva

Stalins Werk. Um der Frage nachzugehen, was die fünf Länder (nicht) eint, lohnt sich ein Blick zurück in die Vergangenheit: Die gesamte Region war Teil des russischen Kaiserreichs und der Sowjetunion.

Schon vor den kolonialen Eroberungen in „Russisch-Turkestan“, das 1868 im Zuge der Eroberung Mittelasiens durch das russische Kaiserreich errichtet wurde, versuchten verschiedenste Großreiche, die Region zu integrieren.

Erst die Sowjetunion zog in den 1920er Jahren die Grenzen, wie wir sie heute kennen. Sie orientierte sich dabei an der vermeintlichen Verteilung der Bevölkerung – die sie gleichzeitig dadurch erheblich mitprägte.

Ganz nach der Stalin’schen Formel „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“ wurde Zentralasien in den föderalistischen Aufbau der Sowjetunion integriert.

Nach der Unabhängigkeit standen fünf neue Nationen vor einer Riesenaufgabe: die Bevölkerung innerhalb der Grenzen an den jungen Staat zu binden. Statt auf Integration der Region setzten die politischen Eliten vermehrt auf eine nationale Identitätsfindung. Dabei suchten die Machthabenden zunehmend nach kollektiven Identitätsmerkmalen aus vorsowjetischen Zeiten.

In Usbekistan, zum Beispiel, interpretierten junge HistorikerInnen die sowjetische Geschichtsschreibung zugunsten eines usbekischen Nationalstolzes neu: So wurde Timur, der berühmte zentralasiatische Herrscher des 14. Jahrhunderts, der von sowjetischen HistorikerInnen als rückständig und barbarisch beschrieben worden war, im unabhängigen Usbekistan zum Nationalvater stilisiert. Heute stehen in vielen usbekischen Städten die Statuen Timurs auf öffentlichen Plätzen und in Parks.

Mit der Unabhängigkeit erhoben die Länder Zentralasiens jeweils Kasachisch, Usbekisch, Kirgisisch, Turkmenisch und Tadschikisch zur Staatssprache. Das war ein wichtiges Symbol der nationalen Emanzipation, denn zur Sowjetzeit galt allein Russisch als offizielle Bildungs- und Kultursprache.

Usbekistan und Turkmenistan wechselten bereits in den 1990er Jahren vom kyrillischen zum lateinischen Alphabet. Kasachstan folgte erst 2019.

Dieser Schritt wurde besonders von ethnischen RussInnen in Zentralasien kritisiert. Eine Emanzipation von der sowjetischen Vergangenheit wird von vielen auch als Abwendung von Russland gesehen.

Eine Frage des Glaubens. Eine zentrale Frage der nationalen Identität dreht sich in Zentralasien um Religion. Die Staaten sind alle mehrheitlich muslimisch und historisch von verschiedenen Formen des Islams geprägt. Da eine offene Ausübung von den sowjetischen Autoritäten unterdrückt wurde, ist ein Bekenntnis zum Islam heute für viele ein Symbol der Unabhängigkeit.

Besonders unter jüngeren Menschen wird der Islam mancherorts wieder modern, bestätigt Politikwissenschaftler Suleimen: „Die Religionsfrage ist mit der Identitätsfrage verbunden. Viele fragen sich jetzt, wer wir sind, welche Werte wir haben. Kasachen suchen nach ihren Wurzeln, und manche finden sie in der Religion.”

Alle Staaten in Zentralasien sind offiziell säkular, dennoch gehen sie unterschiedlich mit Religion um. Kirgistan und Kasachstan versuchen, einen moderaten, „nationalen Islam” zu fördern, zum Beispiel über eigene religiöse Strukturen, wie die 2013 in Bischkek gegründete Yiman-Stiftung.

Tadschikistan und bis vor kurzem auch Usbekistan hingegen sehen in der Religion eine politische Gefahr und gehen repressiver gegen Religiosität vor. In Tadschikistan wurde die Islamische Partei der Wiedergeburt Tadschikistans, die langjährige einzige Oppositionspartei, 2015 zur terroristischen Organisation erklärt und verboten.

Stärkerer Zusammenhalt. Bis zum Ende der Sowjetzeit vor knapp 30 Jahren kannten die EinwohnerInnen Zentralasiens keine Binnengrenzen, und auch die Wirtschaften und Infrastrukturen der fünf Länder waren eng verflochten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sie jeweils eigene Wege eingeschlagen. Eine zentralasiatische Identität spielt für die Menschen heute keine besondere Rolle. Auf politischer Ebene aber steht die Frage der regionalen Integration dennoch immer wieder im Raum, vor allem mit Initiativen aus Kasachstan.

Der Machtwechsel in Usbekistan 2016 könnte zudem einen Wendepunkt bedeutet haben. Die Außenpolitik des neuen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev fokussiert seither in erster Linie auf gute nachbarschaftliche Beziehungen. 2018 fand das erste zentralasiatische Gipfeltreffen seit fast zehn Jahren statt.

Ein stärkerer regionaler Zusammenhalt wäre im Sinne aller fünf Stans. Er würde neue wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnen und eine bessere Vertretung gemeinsamer Interessen ermöglichen.

Eine Entwicklung, die auch die EU unterstützt. Mit ihrer 2019 verabschiedeten neuen Zentralasienstrategie möchte sie einen Impuls geben, damit, so der Wortlaut, „sich die Region als ein nachhaltiger, widerstandsfähigerer, wohlhabender und eng verbundener wirtschaftlicher und politischer Raum” entwickelt.

Florian Coppenrath, Lukas Dünser, Beril Ocakli, Robin Roth und Julia Tappeiner sind Teil der Redaktion von Novastan.org. Das Online-Magazin berichtet auf Deutsch und auf Französisch über Zentralasien.

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