Ganz Tunesien ist im Netz!

Von Redaktion · · 2011/03

Der tunesische Cyberaktivist Sofyann Bel Haj, alias Hamadi Kaloutcha, wurde im Zuge der Proteste in Tunesien verhaftet. Mit Christine Moderbacher sprach er über das restriktive Leben unter dem diktatorischen Regime und seinen Online-Protest, der zu seiner Festnahme führte.

Südwind Magazin: Wie waren die letzten Jahre in Tunesien als Blogger?
Hamadi Kaloutcha:
Politische Themen konnten in der Öffentlichkeit nicht diskutiert werden und man traute niemandem. Es gab keine Möglichkeit, sich über die Missstände auszutauschen, und die wenigen kritischen Aktivitäten und Organisationen, die es gab, waren nur Scheinkampagnen der Regierung. Aber in den letzten Jahren nutzten immer mehr Tunesierinnen und Tunesier Facebook, um ihre Standpunkte zu diskutieren. Bloggen war eine der wenigen Möglichkeiten, gegen das Regime anzukämpfen.

Welche Rolle spielte das Internet in der schnellen Ausbreitung der Proteste?
Es gab viele kleine Demonstrationen, über die in den westlichen Medien nicht berichtet wurde, zu allererst natürlich in Sidi Bouzid (Anm. d. Red.: Stadt, in der die Proteste anfingen), die mit Gewalt unterdrückt wurden. Um den Menschen in Sidi Bouzid zu helfen, war es notwendig, die Polizei abzulenken. Also wurden überall kleine Aktionen unternommen, gefilmt und online gestellt. Dies hatte zudem den Effekt, dass sich immer mehr Regionen in Tunesien an den Protesten beteiligten. Beim größten Protest in Tunis wurde dann Twitter intensiv für die Koordination der Angriffe auf die Polizei-Konvois eingesetzt.

Wie kam es Anfang Jänner zu Ihrer Inhaftierung?
Ich wurde aufgrund meines Facebook-Accounts als „Hamadi Kaloutcha“ ins Innenministerium transportiert und festgehalten. Ich wurde empfangen, als hätte man Bin Laden selbst geschnappt. Viele Politiker und Verantwortliche kamen, um zu sehen, wie Hamadi Kaloutcha aussieht, und meinten, dass sie seit Jahren versuchten, mich zu schnappen. Inspiriert vom Blogger Zouhair Yahyaoui erstellte ich 2007 ein Profil als „Hamadi Kaloutcha“, um seinen Kampf fortzusetzen. (Anm. d. Red.: Der tunesische Cyberaktivist Yahyaoui wurde 2002 verhaftet und verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis. 2005 starb er an einer Herzerkrankung, die von vielen auf die schlechten Haftbedingungen zurückgeführt wird.) Ich startete Facebook-Gruppen, postete Artikel und Karikaturen. Jeden Tag recherchierte ich im Internet nach in Tunesien zensierten Artikeln, postete einen Link zu ihnen und fügte einen Kommentar hinzu.

Die erste Gruppe, die ich startete, war: „Ich habe einen Traum: ein demokratisches Tunesien.“ Die Gruppe zielte darauf ab, Argumente gegen die Einführung der Demokratie in Tunesien zu zerstören. Viele Menschen folgten den Debatten, traten aber aus Angst vor Repressalien nicht bei. Für diese Menschen begann ich die Gruppe „Gegen den lächerlichen Kult der Zahl 7 in Tunesien“, in der wir uns über die Allgegenwärtigkeit der Zahl 7 lustig machten, und boten damit eine andere Art zu sagen: Wir sind nicht einverstanden! Außerdem sammelte ich alle Dokumente auf WikiLeaks über Tunesien und übersetzte sie auf Arabisch und Französisch. Diese Seite wurde allein in der ersten Woche über 170.000 Mal besucht. Über all diese Inhalte und die Profile meiner Freundinnen und Freunde auf Facebook wurde ich dann drei Tage lang von der Polizei vernommen. Ich wurde zwar nicht körperlich angegriffen, war aber massiven Beschimpfungen ausgesetzt. Täglich musste ich ein Geständnis unterschreiben, ohne den Inhalt zu kennen. Ich zeigte Reue, um das Schlimmste zu verhindern.

Über welche Themen diskutiert Tunesien im Moment online?
Seit der Flucht Ben Alis scheint es, als wäre ganz Tunesien im Netz. Es ist wirklich einfach geworden und die Leute genießen es zu diskutieren. Im Moment wird argumentiert, wie man auch noch die letzten Mitglieder der Regierung aus der ehemaligen Regierungspartei loswerden könnte.

Wie kann Tunesien ein demokratisches Land werden?
Es muss eine Untersuchung gegen alle ehemaligen Regierungsmitglieder geben. Im Moment versuchen sie, Zeit zu gewinnen, um Beweise verschwinden zu lassen. Ghannouchi muss sein Amt, das er zu Unrecht eingenommen hat, zurücklegen. Für Demokratisierung und uneingeschränkte Meinungsfreiheit gibt es leider keine magische Formel, aber wir brauchen echte Wahlen und eine strikte Befolgung des Gesetzes, ohne Korruption. Internet spielt noch immer eine große Rolle in dieser Revolution, aber gleichzeitig wissen Diktatoren und Regime jetzt, welche Bedrohung Neue Medien darstellen können. Deswegen sollte es in Tunesien in Zukunft einen freien, unzensurierten und kostenlosen Internetzugang geben, um die Benutzung für jeden in Zukunft zu garantieren.

Christine Moderbacher studierte Visuelle Anthropologie. Ihr Dokumentarfilm „Harraga“ (gemeinsam mit Annika Lems) über die Lage in Tunesien erschien 2009.

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