Gedankenreform ist das Ziel

Von Peter E. Müller · · 2008/06

In chinesischen Straflagern – dem so genannten Laogai-System – sind seit der Regierungszeit von Mao Zedong 20 bis 25 Millionen Menschen umgekommen. Das „Umerziehungs“-System existiert auch heute noch. Das Internationale Olympische Komitee schweigt dazu.

Das Laogai-System wurde kurz nach Gründung der Volksrepublik China – im Folgenden kurz China genannt – im Jahre 1949 mit tatkräftiger Hilfe sowjetischer Gulag-Experten eingerichtet. Die Sowjets unterstützten in den 1950er Jahren China nicht nur bei vielen Infrastrukturprojekten, sondern auch bei der Errichtung von Gefängnissen. Der „Große Bruder“ unterstützte 156 sozialistische Projekte, u. a. den Bau von Stahlwerken, Eisenbahnen und Staudämmen. Erst 40 Jahre später erfuhren die Menschen vom 157. Projekt. Das war das berüchtigte Qincheng-Gefängnis, genannt „Erste allgemeine Laogai-Brigade des Bezirks Beijing“.
In der Sowjetunion gab es noch bis 1991 Strafkolonien. Schätzungen zufolge starben in den Gulag-Lagern 25 Millionen Menschen. Nach Stalin wurden unter Chruschtschow, Andropow und Breschnjew viele Menschen aus dem Gulag befreit.
Als Mao 1976 starb, kam es in China nicht zu einer öffentlichen Verurteilung des Systems der Straflager durch Deng Xiaoping oder dessen Nachfolger wie in der Sowjetunion nach Stalin. Das heutige China steht weiter unter der Kontrolle der Kommunistischen Partei Chinas (KPC). Das Laogai-System ist noch voll in Betrieb.
Wörtlich übersetzt bedeutet das Wort „Reform durch Arbeit“. Heute lautet das grundlegende Motto: „Zwangsarbeit ist das Mittel, Gedankenreform ist das Ziel“. Die wichtigste Aufgabe besteht weiterhin in der Bestrafung und „Besserung“ von angeblichen Straftätern und -täterinnen in einer dem Staat nützlichen Weise. Der chinesischen kommunistischen Theorie zufolge darf die Unterwerfung mit Gewalt erzwungen werden, besser ist es jedoch, die Einwilligung durch psychischen Druck herbeizuführen. Deshalb ist das Laogai nicht nur ein Gefängnissystem, es dient auch als politisches Werkzeug.

China veränderte sich ab 1980 allmählich. Grundlegende Thesen der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie wurden aufgegeben, die Idee des Klassenkampfes fallen gelassen. Die Führung führte Privatisierungen durch und öffnete sich dem Kapitalismus im ganzen Land. Doch die Alleinherrschaft der KPC blieb. Auch heute ist der Öffentlichkeit unbekannt, wie viele Laogai-Lager es in China tatsächlich gibt; Schätzungen sprechen von über 1.000 Anstalten. Besuche werden nur in „Modellgefängnissen“ gestattet. Sogar dem UN-Sonderberichterstatter für Folter, dem österreichischen Völkerrechtler Manfred Nowak, wurde bei seinem China-Besuch der Zutritt zu bestimmten Lagern verweigert.
Die in Hongkong ansässige Laogai Research Foundation (LRF) schätzt, dass seit 1949 etwa 40 bis 50 Millionen Menschen im Laogai-System inhaftiert waren, etwa die Hälfte von ihnen kam dort zu Tode. Niemand kennt genaue Zahlen, denn alle die Lager betreffenden Informationen sind Staatsgeheimnis.
Die erklärte Maxime der Staatspartei lautet, dass die Transformation oberste Priorität habe und die Produktion an zweiter Stelle stehe. Seit Jahrzehnten betont die Führung in Beijing, Laogai müsse zwei Arten von „Produkten“ hervorbringen: erstens qualifizierte „neue sozialistische Menschen“ und zweitens diverse, für die Wirtschaft des Landes benötigte Erzeugnisse.
Die Welt weiß nur wenig über die Realität der chinesischen Umerziehungslager. Die Gründe dafür sind vielfältig und komplex: kulturelle und politische Unterschiede zwischen Ost und West, die strategischen Interessen des Westens und nicht zuletzt der langfristige Erfolg der politischen Propaganda und Geheimhaltungspolitik der KPC.
Das Laogai-System wurde für die internationale Gemeinschaft erst zu einem ernsthaften Thema, als es 1990 im US-Senat zur Sprache kam. Der chinesischen Regierung war diese Bloßstellung sichtlich unangenehm. Sie veröffentlichte 1992 ein Weißbuch zu Laogai – die erste (und letzte) offizielle Stellungnahme in dieser Sache.
Im Dezember 1994 beschloss der Nationale Volkskongress in Beijing, den Begriff Laogai zu ersetzen; alle Lager heißen seither Gefängnisse, die Laogai-Verwaltung wurde in „Einrichtung zur Gefängnisverwaltung“ umbenannt.

Die Laogai-Produktion leistete keinen signifikanten Beitrag zur Entwicklung der chinesischen Wirtschaft. Mit Zwangsarbeit können keine High-Tech-Produkte gefertigt werden. Es ist auch schwierig, Gefangene zu tüchtigen FacharbeiterInnen heranzubilden. Dennoch war die Laogai-Wirtschaft immer bedeutsam als Einnahmequelle für den Betrieb und den Ausbau der Arbeitslager. Der Erlös deckt die Kosten für die täglichen Bedürfnisse der Gefangenen, die Produktionskosten sowie die Löhne und Prämien der Gefängnisaufseher. Im Zuge der wirtschaftlichen Reformpolitik begannen die Lager ein wildes Streben nach Profit, das im Chaos endete. Deshalb beschloss die Zentralregierung 1988, die Verantwortung für den Produktivbereich selbst zu übernehmen.
Der Großteil der Laogai-Produktion besteht aus anstrengender körperlicher Arbeit an Staudämmen und Verkehrswegen, in Bergwerken und der Urbarmachung von Land. Zahlreiche Großprojekte wie die Befestigung des Huai-Flusses, die Yingtan-Xiamen-Eisenbahn und die Sanierung von Ödland in Nordost-China, Qinghai und Xinjiang wären ohne die Zwangsarbeit von Millionen Gefangener unmöglich gewesen. 1955 hatte Premier Zhou Enlai zwei Millionen Gefangene zur Baustelle am Huai-Fluß geschickt. Bereits im folgenden Jahr war die Hälfte von ihnen tot; die harte Arbeit, Krankheiten und Misshandlungen hatten sie umgebracht.
Man wird vermutlich nie feststellen können, wie viele Menschen in den chinesischen Laogai-Lagern gefangen gehalten wurden. Zwischen 1958 und 1962 verpflichtete die KPC jeden Distrikt, eigene Lager zu betreiben. Jeder Distrikt-Richter, sogar Parteisekretäre und Milizkommandanten konnte alle x-beliebigen BürgerInnen ins Lager schicken. Damals wurde das „Diktatur der Massen“ genannt. Heute heißt es Administrativhaft.
Auch wenn es keine aktuellen, genauen Zahlen gibt: Millionen von Menschen müssen derzeit in den Lagern leiden, und jeden Tag werden weitere zum Laogai-Dasein verdammt. Die Statistiken sind Staatsgeheimnis, aber das System selbst lässt sich nicht gänzlich verbergen.
Laogai ist keine im Verschwinden begriffene Einrichtung, wie uns die chinesische Propaganda glauben machen will, nur die Herkunft der Gefangenen hat sich gewandelt. In der Vergangenheit waren die meisten Insassen aus politischen Gründen inhaftiert, während heute die Mehrzahl wegen gewöhnlicher – meist kleiner – Delikte einsitzt, ohne ein angemessenes Gerichtsverfahren. Das gilt für alle, Kriminelle wie „Gewissenstäter“. Es gilt für die Menschen, die ihre Gedanken und Überzeugungen ausgesprochen haben, die festgenommen wurden, weil sie sich für die Unabhängigkeit Tibets oder für Gewerkschaften eingesetzt haben oder die verfolgt werden, weil sie auf ihren religiösen Rechten bestehen, etwa die Falun-Gong-AnhängerInnen. Für sie bedeutet Laogai tägliche Qual, häufig auch Tod. In den letzten Jahren häuften sich die Berichte über illegale Organentnahmen.

Im vergangenen März haben sieben internationale Menschenrechtsorganisationen, darunter auch Reporter ohne Grenzen, in einem offenen Brief an IOC-Präsident Jacques Rogge appelliert, jetzt zu handeln und China daran zu erinnern, dass es 2001, als es mit der Durchführung der Olympiade 2008 beauftragt wurde, „Menschenrechtsverbesserungen und völlige Medienfreiheit“ während und im Vorfeld der Olympischen Spiele versprochen hat. China hat dieses Versprechen gebrochen, doch das IOC schweigt – genauso wie die Sponsoren-Firmen, die mit ihren Lizenzverträgen Milliardengewinne machen.

Der Autor ist pensionierter Kaufmann und arbeitet ehrenamtlich für die IGFM (Internationale Gesellschaft für Menschenrechte) Deutschland und die Laogai-Research Foundation. Letztere wurde 1992 von dem Menschenrechtsaktivisten Harry Wu gegründet, der selbst 19 Jahre in einem Lager gefangen gehalten wurde.

Weitere Informationen zum Thema auf www.laogai.org (Laogai-Research Foundation), www.olympicwatch.org und www.ohchr.org/EN/Countries/AsiaRegion/Pages/CNIndex.aspx (Bericht von UN-Sonderberichterstatter Manfred Nowak).

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