Gespenster in der Prime Time

Von Redaktion · · 2017/12

Welche Rolle Sensationsjournalismus in Nicaragua spielt – und wieso es sogar Poltergeister in die beliebteste Informationssendung schaffen. Klaus Brunner hat recherchiert.

Managua, gegen 19 Uhr. Die Familie Tercero sitzt beim Abendessen und schaut fern. Es läuft die Sendung „Acción 10“ auf Canal 10: Ein mutmaßlicher Drogenhändler wurde verhaftet und ist in Totalaufnahme zu sehen. Die Frau des Verdächtigen schimpft wie ein Rohrspatz, die Polizisten haben Mühe, sie zurückzudrängen. Ein schriller Dauer-Alarm läuft als Hintergrundgeräusch. Es geht weiter mit einem Verkehrsunfall in Managua. Eine Augenzeugin schildert direkt vom Unfallort wortreich das Geschehen. Dann wird zurück ins Studio geschaltet und die Moderatorin kündigt das Highlight des Abends an: In einem alten Haus in der Stadt Granada am Nicaraguasee seien in der Nacht seltsame Geräusche zu hören. Ob es sich um ein Gespenst handle, werde später berichtet. Es folgen wackelig gefilmte Bilder von einer Überschwemmung an der Karibikküste. Eine Betroffene schluchzt in die Kamera.

Acción 10 ist die erfolgreichste Informationssendung in Nicaragua, terrestrisch empfangbar bis in die hintersten Winkel des Landes. Ein Netz von KorrespondentInnen sorgt dafür, dass auch die entlegenen Regionen im Programm vorkommen. „Mir gefällt das einfach“, erklärt Ingrid Tercero, eine von Hunderttausenden, die täglich die News auf dem zehnten Sendeplatz verfolgen. „Klar ist da auch ein bisschen Sensationslust dabei. Aber ich finde, dass sie im Gegensatz zu anderen Nachrichtensendungen nichts beschönigen.“

Phänomen „nota roja“. Sensationsjournalismus ist ein globales Phänomen. In Lateinamerika haben explizite Nachrichten eine eigene Entwicklung hinter sich, und eine lange Tradition. Man vermutet, dass der Name „nota roja“, also rote Nachricht, auf die Zeit der mexikanischen Inquisition zurückgeht: Die spanische Kolonialmacht hatte ihren Kampf gegen die Ketzerei auch in die neue Welt mitgebracht. Vor allem Homosexuelle und andere Minderheiten mussten mit Mord und Folter rechnen. Immer wieder wurden auf öffentlichen Plätzen Exempel statuiert. Angekündigt wurde dies vorher auf offiziellen Plakaten, welche mit einem roten Stempel versehen waren.

Als im neunzehnten Jahrhundert die Zeitungen aufkamen, soll ein Druckwerk aus dem mexikanischen Guadalajara erstmals Schlagzeilen über Mord und Totschlag rot eingefärbt haben.

Das Phänomen breitete sich rasch auf Mittel- und Südamerika aus. Auch per Fotografien und Radio wurden „noticias rojas“ vermittelt. Doch erst das Fernsehen hat sie in den 1970er und 1980er Jahren in Lateinamerika groß gemacht. Verbindliche Regulierungen oder Ethik-Codes für JournalistInnen gibt es bis heute nicht. So sind täglich Leichen, Schwerverletzte und Tatverdächtige unverpixelt am Bildschirm zu sehen.

Formate wie Acción 10 vermischen zudem Sensationsjournalismus mit Legenden sowie mit Berichterstattung über vermeintlich paranormale Erscheinungen.

Quote. Die nicaraguanische Psychologin Lorna Norori hält Acción 10 für bedenklich und stieß 2015 eine öffentliche Diskussion darüber an. „Solche Nachrichten sind krank“, sagt sie. „Sie bringen keinerlei Vorteile für die Gesellschaft. Dass es den Leuten gefällt, ist die einzige Daseinsberechtigung. Letztlich geht es aber nur um eine krankhafte Sensationsgier.“

Dem widerspricht Mauricio Madrigal erwartungsgemäß. Der Nachrichtenchef hat 2001 das Steuer bei Acción 10 übernommen. Seitdem ist die Quote gestiegen, andere Sender kopieren die Aufmachung. Er rechtfertigt die Berichterstattung damit, dass sie alle anspreche: „Wir gehen in die Armenviertel und berichten, was dort passiert“, so Madrigal. „Bei uns sieht man keine Anzugträger, sondern einfache Leute und ihre alltäglichen Probleme.“

Der Kritik, dass die Sendung vom Leid der Menschen profitiere, entgegnet er: „Wir bilden einfach die Realität ab.“

Fehlende Kontrolle. Acción 10 als Spiegel der Realität? Ganz so einfach sollten es sich Sendungsmacher wie jene von Acción 10 nicht machen können, wenn es nach ExpertInnen wie Norori oder auch Guillermo Rotschuh geht. Rotschuh, Gründer der renommierten Fakultät für Journalismus an der Universidad Centroamericana in der Hauptstadt Managua, sieht Kontrollbedarf in Ethikfragen. Er pocht allerdings dabei auf eine Selbstregulierung der Medien: „Es ist sicher nicht wünschenswert zu sagen, dass man das gesetzlich regeln muss. Denn das wäre ein schwerer Eingriff des Staates in die Medien, was im heutigen Nicaragua sehr gefährlich wäre.“

Der Medienmarkt im mittelamerikanischen Land ist hoch konzentriert und viele Sender dienen dem Langzeitpräsidenten Daniel Ortega als Propagandakanäle. Kritische Berichterstattung wird bis zu einem gewissen Grad toleriert, findet aber vor allem auf Spartensendern und in Printmedien statt.

Madrigal sieht sein Format als unabhängig. Doch der investigative Journalist Alvaro Navarro vermutet eine Art „Nichtangriffspakt“ zwischen Acción 10 und der Obrigkeit. So kam es etwa 2015 zu einem Fall von extremer Polizeigewalt, bei dem eine Familie auf dem Heimweg von der Kirche erschossen wurde. Acción 10 war an vorderster Front mit dabei. Als es zu breiter heftiger Kritik an Polizei und Regierung kam, berichtete Acción 10 nicht mehr.

Canal 10 ist zwar ein Privatsender, aber politisch heikle Themen werden laut Navarro nicht angefasst.

Höllenhund und Hausgespenst. Zurück zur Sendung von Acción 10: Gegen 20 Uhr kommt endlich das Gespenster-Haus in Granada. Wackelige Nachtaufnahmen sind mit Horrorfilm-Musik unterlegt. Ein Bewohner zeigt auf seinem Handy ein Foto, auf dem mit viel Phantasie eine dunkle Silhouette zu sehen ist. „Hat das etwas mit dem Mordfall zu tun, der vor ein paar Jahren in diesem Viertel stattgefunden hat?“ fragt die Stimme aus dem Off.

„Wir Nicaraguaner lieben es, wenn man uns Geschichten erzählt“, erklärt Acción 10-Chef Madrigal. „Von klein auf hören wir von schrecklichen Figuren wie dem Höllenhund ‚Cadejo‘. Das kommt aus dem indigenen Kulturgut.“

Acción 10 macht aus Sagenstoff „Nachrichten“ – und weiter gute Quoten. „Wenn wir eine Spuk-Geschichte im Programm haben, bleiben die Leute bis 20 Uhr 15 bei uns, statt um acht zu einer Telenovela umzuschalten“, schmunzelt Mauricio Madrigal.

Viele Wachmänner und Putzkräfte sind übrigens überzeugt davon, dass auch im Gebäude von Canal 10 ein Gespenst sein Unwesen treibt. Bestätigen kann das der News-Chef allerdings nicht.

Klaus Brunner arbeitet für HORIZONT3000 in Mittelamerika. Er hält Medienworkshops und schreibt für österreichische Medien.

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