Gestohlenes Paradies

Von Redaktion · · 2009/04

Vor vierzig Jahren deportierte die britische Regierung die Bevölkerung einer ganzen Inselgruppe, um Platz für eine US-Militärbasis zu machen. Für ihr Rückkehrrecht ziehen die Vertriebenen von Chagos jetzt vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Aus Port Louis berichtet Marc Engelhardt.

Wer am weiß leuchtenden Strand steht und auf den grün-blau schimmernden indischen Ozean blickt, der Mauritius umgibt, der mag glauben, er sei im Paradies. Doch wer wie Olivier Bancoult und seine Freunde das Paradies auf Erden erlebt hat, sieht etwas anderes. Wenn der 44-Jährige am Strand steht und in die Ferne blickt, sieht er nichts als Verlust. „Ich höre immer noch den Klang der Kolraba, unserer traditionellen Trommel, die mein Vater mir geschenkt hat, als ich klein war“, beschreibt Bancoult die letzten Erinnerungen von seiner Heimat. Das Instrument ist in der Hütte der Bancoults auf Peros Banhos geblieben, einer der Chagos-Inseln, die zwischen den Malediven und Mauritius mitten im Indischen Ozean liegen. „Meine Eltern sind damals, 1968, überstürzt aufgebrochen, weil meine Schwester dringend zur Behandlung ins Krankenhaus auf Mauritius musste“, erzählt Bancoult, der heute in Port Louis lebt, der mauritischen Hauptstadt. Olivier war da gerade vier Jahre alt. „Sie haben alles zurückgelassen, sie dachten ja, wir kommen wieder.“ Doch weder Olivier noch seine Eltern und Geschwister haben ihre Heimat seitdem wieder gesehen.
Wer mehr Lebensjahre auf den Chagos-Inseln verbracht hat, der erinnert sich an unbeschwerte Tage. Fische gab es im Überfluss, und an Land spendeten Kokospalmen Schatten und Früchte. „Es gab immer genug zu essen und zu trinken, Mangel kannten wir nicht“, berichtet träumerisch die über 70-jährige Charlesia Alexis. „Und außer unseren Kleidern mussten wir nichts kaufen.“ Alexis kommt von Diego Garcia, der größten der Chagos-Inseln. Auch sie wurde vor vierzig Jahren vertrieben, von der Kolonialmacht Großbritannien. „Als meine Eltern nach der Behandlung meiner Schwester die Schiffspassage zurück buchen wollten, teilte ihnen der Zahlmeister mit, das sei unmöglich“, erzählt Bancoult. „‚Eure Inseln sind verkauft worden‘, sagte er, ‚an die USA, die bauen da eine Militärbasis.'“ Für sein Recht und das der mehreren tausend vertriebenen Chagossianer, zurück zu kehren und Entschädigung zu erhalten, kämpft Bancoult bis heute.

Die Basis auf Diego Garcia, der größten Chagos-Insel mit einem weltweit einmaligen Naturhafen, ist bis heute einer der größten US-Militärstützpunkte der Welt. Von der strategisch günstig gelegenen Insel werden Luftangriffe auf Afghanistan, den Irak oder Pakistan geflogen. Lindsey Collen, eine auf Mauritius lebende Schriftstellerin, hat die Vorgeschichte der Militärbasis ausgiebig untersucht. Dokumente, von denen viele jahrzehntelang in Archiven verstaubten, und persönliche Gespräche belegen, wie die USA und Großbritannien Anfang der 1960er Jahre gemeinsam den Plan schmiedeten, der die InselbewohnerInnen enteignen sollte. „Die USA wollten unbedingt eine unbewohnte Insel im Indischen Ozean haben, um von dort aus den Mittleren Osten und die Ölrouten kontrollieren zu können“, so Collen. Nach mehreren Erkundungsmissionen entschied die Armeeführung, Diego Garcia sei am besten geeignet. „Da haben die Briten gesagt: ‚Kein Problem, wir gründen einfach eine neue Kolonie, die wir Mauritius nicht mit in die Unabhängigkeit geben.'“ Der mauritischen Regierung im Wartestand setzten die Briten ein Ultimatum: Entweder schnelle Unabhängigkeit ohne die Chagos-Inseln – oder keine Unabhängigkeit. „Das war nicht einfach nur illegal, sondern verstößt eindeutig gegen die UN-Charta“, ärgert sich Collen.
Ab 1965 wehte über den Chagos-Inseln erstmals die Flagge der „Britischen Territorien im Indischen Ozean“. Diego Garcia wurde kurz danach an die USA verpachtet, auf zunächst 50 Jahre. In einem Brief an die britische Regierung forderte die US-Armeeführung, die Insel sei zu „räumen und danach zu säubern“. Kurzerhand kappten die Briten alle Versorgungsfahrten zu den Inseln. Wie Olivier Bancoults Familie strandeten viele ungewollt auf Mauritius, andere flohen. „Den Sturköpfen, die zum Schluss noch da waren, setzten sie ein Fanal“, weiß Collen. „Die Hunde, die auf Diego Garcia praktisch zur Familie gehörten, wurden zusammengetrieben und vor den Augen der Bevölkerung vergast.“ Ab da ging die Angst um: Wenn wir bleiben, geschieht das gleiche mit uns. Der Öffentlichkeit versicherten britische Diplomaten am Sitz der UN in New York, die Inseln seien unbewohnt. Eine Lüge, die London noch jahrzehntelang aufrecht erhielt.
Mauritius – Chagos
Mauritius mit seinen rund 1,25 Mio. EinwohnerInnen zählt nach dem Human Development Index zu den hoch entwickelten Ländern. Der Inselstaat wurde 1968 unabhängig, der erste Regierungschef hatte zuvor den Chagos-Archipel an Großbritannien abgetreten. Die britische Regierung erkaufte sich mit einer Abstandssumme von drei Millionen Pfund das Recht, die EinwohnerInnen – Nachkommen ehemaliger SklavInnen – abzuschieben. Der Chagos-Archipel hat eine Landfläche von gesamt 63 Quadratkilometern, verteilt über eine Meeresfläche von rund 12.000 km2.

mauritius - chagos

Im November 1971 wurden die letzten Vertriebenen am Kai von Port Louis abgeladen. Sie hatten eine wochenlange Reise im Frachtraum hinter sich, wo sie auf einer Ladung von Vogel-Exkrementen schlafen mussten, die als Dünger verschifft wurde. Viele starben auf der Reise, vor allem Kinder. Auf Mauritius, erinnert sich Olivier Bancoult, ging es den Überlebenden kaum besser. „Ich bin wie die meisten in absoluter Armut aufgewachsen. Es ist ein Wunder, dass ich eine Schulbildung bekommen habe.“ Die meisten Vertriebenen lebten und leben bis heute in den ärmsten Vierteln von Port Louis. Die wenigen Häuser, die die mauritische Regierung den orientierungslosen InsulanerInnen anbot, waren bei Unruhen kurz vor der Unabhängigkeit weitgehend zerstört worden und dienten als Ziegenställe. Es gab kein Wasser, keinen Strom, keine sanitären Anlagen. In einem Raum in einem dieser Häuser schlief die 14-köpfige Familie Bancoult in Schichten, weil nicht für alle gleichzeitig Platz war. Bis heute leben viele Familien so.
„Wir kamen von einer Insel, wo niemand Not litt“, beschreibt Bancoult den kollektiven Kulturschock. „Hier gab es kein Geld, keine Häuser und keine Jobs für uns, keine Chance, ein besseres Leben zu führen. Stattdessen gab es auf einmal Drogen, Alkohol, Prostitution.“ Sein Vater, erinnert sich Bancoult, war auf Peros Banhos nicht nur Fischer gewesen, sondern versorgte die ganze Inselbevölkerung täglich mit frischem Brot. „Hier in Mauritius hat er einen Schlaganfall erlitten, gleich an dem Tag, als man ihm gesagt hat, er kann nicht zurück.“ Zwei Jahre später war Bancoults Vater tot. Er war nicht der einzige. Zwei von Olivier Bancoults Brüdern soffen sich zu Tode, ein anderer starb an Herzversagen. Bancoults Schwester beging Selbstmord, wie viele Vertriebene. „Sie alle sind an der Trauer gestorben, ihre Heimat verloren zu haben“, sagt Bancoult.

Als einer der wenigen Chagossianer, die lesen und schreiben können, hat Bancoult die Rückkehr auf die Chagos-Inseln zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Das hat er seiner kämpferischen Mutter Rita versprochen, die schon Anfang der 1970er die ersten Proteste vor der britischen Botschaft in Port Louis organisierte. Besonders ungerecht findet Bancoult, der als Bürger einer Kronkolonie die britische Staatsangehörigkeit besitzt, dass einzig Chagossianern per ministerieller Verordnung das Betreten von Diego Garcia und den Inseln des Atolls verboten ist. Auf die Inseln gibt es keine Flüge und keinen Passagierverkehr. Die einzige Möglichkeit, dorthin zu kommen, ist wie früher die Mitfahrt auf kommerziellen oder Militärschiffen oder an Bord einer Jacht. Chagossianer bekommen keine Schiffspassage. „Auf Diego Garcia leben Amerikaner, Philippiner, Leute aus Singapur oder Sri Lanka, selbst Briten, nur wir dürfen unseren Geburtsort und unsere Gräber nicht besuchen“, beschwert sich Bancoult. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, erklärt er, verbrieft das universelle Recht jedes Menschen auf Rückkehr in seine Heimat. „Es ist mein Geburtsrecht, und das gebe ich nicht her.“
Im Jahr 2000 errang Bancoult seinen ersten Sieg vor Großbritanniens High Court, dem obersten Gerichtshof. In drastischen Worten bestätigten die Richter die Kläger darin, dass die Ausweisung der Inselbevölkerung illegal gewesen sei. „Damals dachten wir, wir könnten zurück“, sagt Bancoult wehmütig. Die Labourregierung unter Tony Blair nutzte das Jahrhunderte alte Recht des königlichen Edikts, um die Rückkehr dennoch zu verbieten. Das Parlament wurde auf diese Weise ausgeschaltet, eine Methode, die ein Berufungsgericht 2007 als „Machtmissbrauch“ verurteilte. Es bestätigte erneut das Recht auf Rückkehr für die Chagossianer. Doch das britische Oberhaus, die letzte Instanz, widersprach, angeblich aus Kostengründen. Trotz dieser Rückschläge gibt Bancoult nicht auf. „Wir haben bereits eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht“, sagt er, und er klingt so kämpferisch wie seine Mutter. „Und wir bereiten einen Fall für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vor. Denn das, was die britische Regierung uns angetan hat, ist ohne Zweifel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Olivier Bancoult ist Optimist: er wartet auf den Tag, an dem er seinen Kindern ihre wahre Heimat zeigen kann.

Marc Engelhardt lebt in Kenia und ist freier Afrika-Korrespondent u.a. für die Tageszeitung Der Standard.

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