Groß werden mit kleinen Unterschieden

Von Redaktion · · 2014/10

Ein Sprichwort, das aus Afrika stammen soll, besagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“ Wenn das stimmt, sind viele Eltern in Österreich überfordert. Horst Küppers hat in dutzenden Ländern der Welt recherchiert, wie Erziehung in Familien und in Institutionen funktioniert.

Wie lernen Kinder, selbständig zu sein? Welche Werte sollen ihnen vermittelt werden? Welche Aufgaben haben die Eltern, welche hat der Staat? In Fragen der Kindererziehung hat jeder einzelne Erwachsene eine eigene Meinung. Elternpaare haben vielleicht gegensätzliche Auffassungen – und trotzdem erziehen sie erfolgreich. Unsere Erziehungsvorstellung bildet sich im Laufe der Lebensjahre und fußt primär auf eigenen Erziehungserfahrungen. Intuitiv machen die meisten Eltern alles richtig – sagt die Erziehungswissenschaft – während Eltern selbst oft ein anderes Gefühl haben. Wir beurteilen die erzieherische Welt immer nur von unserem Standpunkt aus. Es liegt also in der Natur der Sache, dass es viele Pädagogiken und noch mehr Erziehungsvorstellungen gibt.

Im deutschsprachigen Diskurs enthält der Begriff „Erziehung“ drei Ebenen: Erziehung, Bildung und Betreuung. In alle drei Bereiche sind je nach Gesellschaft Klein- und Großfamilien, ganze Gemeinschaften oder der Staat eingebunden. Einblicke in den Alltag von Kindern in anderen Gesellschaften zeigen, wie unterschiedlich die jeweiligen ErziehungsakteurInnen auf der Welt mit Kindern umgehen.

„Möchtest du die Rassel oder den Bären?“ „Möchtest du neben der Mama oder neben dem Papa sitzen?“ Mit Kindern in westlichen Gesellschaften wird auffällig viel kommuniziert. Schon vom Babyalter an werden ihnen Fragen gestellt und wird ihre Entscheidungsautonomie gefördert. Wenn es aber darum geht, selbständig, unabhängig und ohne elterliche Aufsicht zu agieren, so traut man Kindern außergewöhnlich wenig zu. Nicht selten werden zum Beispiel Kinder in der vierten Volksschulklasse noch von ihren Eltern in die Schule begleitet.

Anders etwa in Kenia: Wenn sich die dreijährige Massai Soile mit ihren drei älteren Geschwistern frühmorgens zu Fuß auf den Weg in die Schule von Kicheche macht, dann sind sie über eine Stunde unterwegs. Ihr Schulweg führt sie durch das Buschland der Massai Mara – einer Region, die seit ewigen Zeiten vom Hirtenvolk der Massai bewohnt wird. Nach Unterrichtsende machen sich alle Kinder wieder auf den langen Weg in ihre Runddörfer, die wie kleine Lehmfestungen aussehen. Sie kreuzen die Wege von Elefanten-, Büffel- und Antilopenherden mit einer Selbstverständlichkeit wie bei uns Großstadtkinder die Straße. Weit und gefährlich ist auch der Weg der Kinder auf dem Titicacasee in Peru. Die zehnjährige Da­niela gehört zur Gruppe der Uro. Auf der schwimmenden Schilfinsel Huz­liki geboren, hat sie ihr bisheriges Leben ausschließlich auf dem Titicacasee verbracht. Daniela paddelt im Morgengrauen bei rauer See alleine zur Schule. Sie will das, denn die Schule ist ihr wichtig.

Gerade in ländlichen Gebieten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ist frühe Selbständigkeit für das Hinweinwachsen in die Gesellschaft zentral. Sehr bald schon – eigentlich sobald sie gehen können – lösen sich die Kinder von ihrer Mutter als primärer Bezugsperson. „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“ – das ist ein Sprichwort, das gut die Sicht traditioneller Erziehung widerspiegelt. Demgemäß wachsen Kinder im ländlichen Afrika zwar sehr frei, aber vor allem die Mädchen mit klarer Verantwortung für die jüngeren Geschwister, den Haushalt und die Feldarbeit auf. Ihre Teilhabe an frühpädagogischer oder schulischer Bildung ist erheblich geringer als die der Buben.

Es ist typisch, dass Kinder vom ganzen Dorf betreut werden und jedes Dorfmitglied dieser Verantwortung mehr oder weniger gut nachkommt. In der Praxis kann das so aussehen, dass die Kinder, wenn sie den Eltern zu viel Arbeit machen, einfach zur Nachbarin, dann zum nächsten Clanmitglied und von dort zum nächsten Dorfmitglied weitergereicht werden.

Während die Geburtenrate in der westlichen Welt generell sinkt, geht es in vielen Gesellschaften nach wie vor darum, möglichst viele Nachkommen zu haben. Traditionell haben auch die umherziehenden Berberfamilien Marokkos viele Kinder – nicht selten mehr als zehn. Sie sind der Stolz der Eltern, deren Altersversorgung und garantieren das Überleben der Sippe in der nächsten Generation. Nur wenige Berberkinder besuchen eine Schule. Der Schulbesuch hängt von der Entscheidung des männlichen Familien- oder Sippenoberhauptes ab. Entscheidet er sich für einen Lagerplatz in der Nähe eines Ortes mit einer Schule, ist allerdings noch lange nicht sicher, dass alle Kinder der Familie die örtliche Schule besuchen dürfen. Normalerweise werden die Buben bevorzugt.

Das marokkanische Bildungsministerium experimentiert seit einigen Jahren mit so genannten „rollenden Schulen“. Das sind mit vielen Lehr- und Lernmaterialien ausgestattete Allradfahrzeuge, die die Berberfamilien zum Schuljahresbeginn aufsuchen und mit ihnen durchs Land ziehen. Wo immer sich die Gelegenheit bietet, werden die Kinder beschult. Natürlich schleppen die älteren Mädchen auch ihre kleinsten Geschwister zum Unterricht mit, denn sie sind für sie verantwortlich und nur mit ihnen gemeinsam dürfen sie teilnehmen.

In wohlhabenden Ländern entscheiden sich viele Eltern nur für ein oder zwei Kinder. Oft wird das Kind dabei zu einer Art Lebensprojekt, in das viel Zeit und Geld investiert wird, um es bestmöglich zu fördern und zu formen. Ein einziger Kindergarten reicht da manchmal nicht mehr. In New York zum Beispiel werden die Kinder der Upperclass in mehr als einem Kindergarten beschult. Das Angebot ist groß. Eltern bringen ihre Kinder daher wöchentlich zu zwei verschiedenen Kindergärten, die jeweils zwei bis drei Tage besucht werden. Der eine ist zum Beispiel US-amerikanisch-deutsch, der andere US-amerikanisch-spanisch. Bei weiteren renommierten Einrichtungen werden zusätzliche Kurse für den Nachmittag gebucht – Musik, Sport, Kunst und vieles mehr.

Mutterliebe gegen Bezahlung

Überall auf der Welt werden Kinder von ihren Eltern, in der Großfamilie oder in staatlichen Institutionen erzogen. Vor allem in den wohlhabenderen Teilen der Erde übernehmen aber oft Frauen aus ärmeren Gebieten gegen Bezahlung die Betreuung von Kindern in privaten Haushalten. So entsteht das, was die US-amerikanische Soziologin Arlie Rusell Hochschild als globale Betreuungskette bezeichnet: Arbeitsmigrantinnen übernehmen Betreuungs-, Pflege- und Haushaltsaufgaben im Zielland, während zugleich ihre eigenen Kinder im Heimatland bleiben und dort von Familienangehörigen oder günstigeren Angestellten betreut werden. Sehr ausgeprägt ist das Phänomen in den USA, wo zahlreiche Frauen aus Mittelamerika, aber auch aus Asien Kinder betreuen und dafür ihre eigenen zurücklassen.

Diese Entwicklung ist auch innerhalb Europas zu beobachten, wo immer mehr Frauen aus Osteuropa in reicheren Ländern Kinder hüten und vor allem auch alte Menschen pflegen, um ihre eigenen Familien finanziell unterstützen zu können. Die Soziologin Hochschild beschreibt in ihren Analysen, wie eine philippinische Angestellte, die sich täglich nach ihren fünf Kindern zuhause verzehrt, all ihre Liebe dem US-amerikanischen Kind gibt, das sie zu betreuen hat. Und Hochschild stellt dabei die Frage: Importieren die Länder des Nordens nun Mutterliebe aus den Ländern des Südens, so wie sie es bisher mit Rohstoffen wie Kupfer oder Zink getan haben? noh

Nicht nur westliche Gesellschaften definieren Leistung und Erfolg als zentrale Erziehungsziele. Die so genannte „Tiger Mom“ Amy Chua, US-Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, hat 2011 in ihrem Buch „Die Mutter des Erfolgs – Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“ der Kuschelpädagogik den Kampf angesagt. Heftig für ihre Härte kritisiert, sind ihre Methoden für US-amerikanisch-asiatische Eltern teilweise nichts Ungewöhnliches. Besonders asiatische Familien verlangen vielfach völlige Selbstaufgabe von ihren Kindern und die absolute Unterordnung unter das Ziel, erfolgreich zu sein. Das konsequente und rigide Erziehungsverhalten ist etwas, was europäische Eltern eher verstört. Aber die AsiatInnen haben Erfolg damit – wenn auch zu einem nach unserem Verständnis hohen Preis.

Erziehung zu Disziplin – für die meisten Eltern unvorstellbar ohne die Anwendung von Strafen. Während in Europa Debatten darüber laufen, wann, wie und ob überhaupt die Bestrafung von Kindern rechtens und sinnvoll ist, so ist sie in vielen Gesellschaften eine Selbstverständlichkeit und wird auch von den Bildungseinrichtungen erwartet.

Wer zum Beispiel die Schule in Zomba, Malawi, besucht, erlebt Kinder, die mit der Eieruhr auf einem Strafplatz der Schule sitzen und warten, bis die verhängte Strafzeit um ist und sie wieder in die Klasse dürfen. Will in der Zwischenzeit ein Elternteil sein Kind abholen, dieses sitzt aber noch im Strafkreis, bekommen Vater oder Mutter kurz erklärt, warum das Kind dort sitzt. Das ist für die Eltern normal und in der Regel schmunzeln sie in sich hinein und warten die Strafzeit geduldig ab. Dass so diszipliniert erzogen wird, schätzen malawische Eltern.

Auch die körperliche Züchtigung von Kindern gehört in den meisten Teilen der Welt zum pädagogischen Repertoire. In Österreich wurde das Gewaltverbot in der häuslichen Erziehung erst 1989 explizit als Gesetz formuliert. Weltweit hat nur ein kleiner Teil der Staaten die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Darin wird jegliche körperliche Gewalt gegen Kinder unter Strafe gestellt. Die USA etwa ist nicht unter diesen Ländern. Dort findet die Prügelstrafe in geschätzten 80 Prozent der Familien Anwendung, in vielen Bundesstaaten ist sie ausdrücklich erlaubt.

Im Islam gilt die Züchtigung von Kindern und Ehefrauen als Teil der Liebe und Sorge um das Wohlergehen der Angehörigen. Schläge sollen zwar nicht verletzen, müssen aber wirkungsvoll sein. So ist es normal, in der Öffentlichkeit prügelnde Eltern, Erwachsene und gewalttätige Kinder zu erleben.

Gewalt als Erziehungsmethode erleben viele Kinder, auch oder gerade wenn sie in intakten Familien leben. Doch die Realität von Kindern kann auch ganz anders aussehen, nämlich, dass schlicht und einfach niemand (mehr) da ist, um sie zu erziehen.

Nach dem Tsunami im Jahr 2004 waren in Banda Aceh, Indonesien, etwa 168.000 Menschenleben zu beklagen. Über ein Drittel der Bevölkerung der Provinz Banda Aceh wurde an einem Vormittag ausgelöscht. Jede Familie verlor Mitglieder und der Tsunami machte viele Kinder zu Voll- oder Halbwaisen. Die Geschichten des Elternverlustes und des eigenen Überlebenskampfes sind alle sehr dramatisch und haben überlebende Kinder stark traumatisiert. Nach dem Tsunami fanden diese Kinder in ihren Großfamilien zwar noch Angehörige, die aber hatten – wenn sie gesund überlebten – oftmals ihre berufliche Existenz und ihre Unterkünfte verloren. So wurden die Kinder, die nicht von Angehörigen aufgenommen werden konnten, schließlich in Heimen untergebracht.

Führt man sich vor Augen, unter welch unterschiedlichen und oft schwierigen Umständen Kinder rund um den Globus groß werden und wie verschieden Erziehungsmethoden sein können, sollte man selbst gelassener mit dem Thema Erziehung umgehen. Während jedes Jahr in Europa dutzende Erziehungsratgeber erscheinen, ist eigentlich Entspannung angesagt. Denn was für überall auf der Welt gilt, gilt auch bei uns: Kinder brauchen unbedingt andere Kinder. Kein noch so hoch gerüstetes Kinderzimmer ist so viel wert wie eine voll besetzte Kindergartengruppe. Haben Kinder außerdem noch starke Erziehungspersönlichkeiten in ihrem Leben, die keine Prügel austeilen, keine Versagensängste haben und gelassen bleiben – dann genießen sie wohl die beste Erziehung.

Horst Küppers lebt in Deutschland und ist Lehrer und freier Journalist. Für sein Buch „Eine Reise durch Kitas in aller Welt: Was Deutschland von anderen lernen kann“ (Beltz 2013) hat er in 25 Ländern recherchiert. www.kueppers-info.de

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