„Helfen, Abschied zu nehmen“

Von Martina Kopf · · 2006/03

Sind Menschen, die vor Folter und Gewalt geflohen sind, in Österreich gut aufgehoben? Südwind-Redakteurin Martina Kopf sprach mit Marion Kremla vom Verein asylkoordination über die Bedeutung von Traumatisierung in der Asylpolitik, über Therapie und ihre Grenzen.

Südwind: Kann man ein psychisches Trauma simulieren?
Marion Kremla:
Nein. Eher wird Traumatisierung nicht erkannt, weil sich die Betroffenen so sehr bemühen, eine Fassade aufrecht zu erhalten. Erstens haben sie gar nicht das medizinische Know-How, die für das Gutachten abgefragten Symptomgruppen zu wissen. Zweitens muss auch der körperliche Ausdruck stimmig sein. An der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie wurde einmal versucht, einen Lehrfilm über psychische Krankheiten zu machen. Dafür sollten erfahrene Schauspieler bestimmte Symptome nachspielen. Das war unmöglich.

Hat die therapeutische Einschätzung von Fachleuten, die mit traumatisierten Flüchtlingen arbeiten, in Zukunft noch Gewicht in der Asylpraxis?
Bisher sind immer wieder psychotherapeutische Behandlungszentren angefragt worden, Stellungnahmen und Befundberichte zu einzelnen Leuten zu schreiben. Keine Gutachten, die machen ausgewählte Fachärzte, die mit den Asylbehörden zusammen arbeiten. Unsere Stellungnahmen werden nun mehr zu Prognosen: Einschätzungen, ob es einer Menschenrechtsverletzung gleichkommt, wenn eine Person rücküberstellt wird – in die Slowakei, nach Polen etc. – weil sich ihr psychischer Zustand dadurch verschlechtern wird, z.B. weil es dort kein Therapieangebot gibt.
Unser Vorschlag wäre allerdings gewesen, eine Zumutbarkeitsprüfung für alle durchzusetzen, nicht nur für die, die traumatisiert sind. Es gibt auch andere, für die es genauso wenig zumutbar ist, woanders hingeschickt zu werden: Menschen, die schwer krank, erschöpft sind oder – auch ohne traumatisiert zu sein – psychisch in schlechter Verfassung sind.

Können AsylwerberInnen mit psychischem Trauma in Österreich eine Therapie machen?
Wenn sie das Glück haben, von der Möglichkeit zu erfahren, sie in der Nähe eines unserer Behandlungszentren wohnen und es freie Plätze gibt, ja. Und wenn sie selbst es wollen – schließlich lautet bei allem, was mit „Psych-“ anfängt, die erste Reaktion oft: „Ich bin nicht verrückt!“ Skepsis gegenüber der reinen Gesprächstherapie ist überall, in allen Bevölkerungen vorhanden. Ich glaube auch nicht, dass Psychotherapie allein ein Mittel für jeden und alles ist. Der Verein Zebra in Graz experimentiert zum Beispiel viel mit anderen Methoden – Feldenkrais und Physiotherapie – und macht sehr gute Erfahrungen damit. In Klagenfurt arbeiten sie mit Shiatsu. Die Leute haben viele psychosomatische Leiden und häufig Schmerzen, die keine medizinische Ursache haben. Hier ist es oft sehr hilfreich, direkt am Körper zu arbeiten, mit Massagen und Physiotherapie. Oft haben die Leute auch körperliche Verletzungen davon getragen oder es kommt noch eine organische Krankheit dazu. Da etwas anbieten zu können, wirkt sehr vertrauensbildend: Du entspannst dich, dir geht es wenigstens für Momente besser.
Allerdings werden bei den sieben Zentren von NIPE (s. Kasten) mittlerweile insgesamt 6.000 Stunden Psychotherapie jährlich geleistet, und das reicht bei weitem nicht aus. Hemayat in Wien hat eine Warteliste von bis zu einem halben Jahr, und in den anderen Bundesländern ist es ähnlich. Die Nachfrage ist also viel größer als das Angebot.

Wer kommt in die Behandlungszentren des Netzwerks?
Derzeit überwiegend Tschetschenen.

Männer, Frauen, Kinder?
Männer und Frauen in ungefähr gleichem Verhältnis. Unter dem Gesichtspunkt, dass die Flüchtlingspopulation überwiegend aus Männern besteht, sind aber im Verhältnis zu ihrem Anteil Frauen überrepräsentiert. Frauen sind anscheinend eher therapiefreundlich, das ist vielleicht universell. Therapie speziell für Kinder können nicht alle anbieten. Allerdings ist es, wenn es um Kinder geht, besonders wichtig, mit den Eltern zu arbeiten: Sie zu befähigen, ihren Kindern Sicherheit zu geben, und trotzdem offen sagen zu können, was passiert ist.

Worauf kommt es in der Therapie an?
Traumatherapie fängt damit an, Sicherheit zu geben und zu stützen. Ein Mensch muss erst wieder Vertrauen gewinnen. Diese Phase kann lang dauern. Im Verständnis unseres Netzwerks ist es nicht zwingend, dass es unbedingt und womöglich auch noch schnell zur so genannten Trauma-Exposition kommt, auf die so viele Therapie-Richtungen fokussieren. In der Lebenssituation von Flüchtlingen steht das Stabilisieren notwendigerweise im Vordergrund. Wichtig ist uns, dass es für die Psychotherapeuten eine fundierte Ausbildung gibt und alle ein Wissen über Interkulturalität haben. Wenn eine türkische Frau sagt, sie ist vom bösen Blick getroffen worden, darf sie deshalb nicht automatisch für psychotisch erklärt werden. Das ist eben eine kulturell bereit liegende Erklärung, die für sie Realität ist. Solche Deutungsmuster zu kennen, zu wissen, dass es verschiedene Modelle von Krankheit und Gesundheit, „normal“ und „nicht normal“ gibt und gelassen darauf zu reagieren, ist sehr wichtig.

Wird in den Behandlungszentren eine bestimmte Art der Traumatherapie angeboten?
Es gibt nicht die Traumatherapie. Das kommt sehr auf den Kontext an. Unsere Therapeuten beklagen es sehr, dass Trauma selten im Zusammenhang mit Interkulturalität und Flucht thematisiert wird, sondern meist im Kontext von Naturkatastrophen, Verkehrsunfällen, Banküberfällen. Es ist aber etwas völlig Anderes, ob ich in meiner gesicherten Lebenssituation einen Banküberfall erlebe, oder ob ich mit der Ermordung meiner Angehörigen in einer Situation fertig werden muss, in der meine ganze Existenz vernichtet ist, meine Sprache, mein Beruf nichts mehr zählen. Wenn ich die Leute zurück lassen musste, die mich jetzt stützen könnten, und ich mich deshalb schuldig fühle.
Es ist nicht zumutbar, das in der Therapie alles noch einmal zu durchleben. Für die meisten haben diese Angst und dieser Schrecken über Monate und Jahre angedauert. Deshalb greifen Kurzzeitmethoden hier auch kaum, wie die Erfahrung zeigt. Uns geht es vielmehr darum zu helfen, Abschied zu nehmen, die Realität hier anzuerkennen, und Schuldgefühle zu nehmen.

Laut EU-Aufnahmerichtlinie muss auf die Bedürfnisse von Opfern von Folter und Gewalt Rücksicht genommen werden. Wie sieht das im Alltag traumatisierter Menschen aus, die in Österreich um Asyl ansuchen?
Es gibt in ganz Österreich keine auf diese spezifischen Bedürfnisse abgestimmte Form der Unterbringung. Leute, die überhaupt nicht schlafen und die ganze Nacht herumgeistern, sind im Achtbettzimmer natürlich eine Belastung, und für sie selbst ist es genauso schwierig. Bei der Umsetzung der EU-Zuständigkeitsrichtlinien – wenn es also darum geht, wie wir die Leute wieder loswerden – passiert viel mehr als bei den Aufnahmerichtlinien, wo es darum geht, wie wir sie bestmöglich versorgen.


Marion Kremla koordiniert das Netzwerk für Interkulturelle Psychotherapie nach Extremtraumatisierung (NIPE) und ist seit langem in der Asylarbeit tätig.

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